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Finanzkontrolle in Sachsen
Band 8
SÄCHSISCHER
RECHNUNGSHOF
2. Symposium
„Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft“
12. Oktober 2016 / Sächsischer Landtag

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Vorwort
| 01
Vorwort
Am 12. Oktober 2016 fand im Sächsischen Landtag unter der Schirmherrschaft des Landtagspräsidenten,
Dr. Matthias Rößler, das 2. Symposium „Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft“ statt. Zwölf Referenten
diskutierten mit über 100 Fachteilnehmern verschiedene Facetten des Themas „Öffentliche Finanzen zwischen
Konsolidierung und Wachstum“.
Bereits
das zweite Mal wurde diese Veranstaltung vom Sächsischen Rechnungshof unter Mitwirkung der Fach-
hochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege Meißen konzipiert und organisiert: Das 1. Symposium
„Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft“ fand im September 2014 in Meißen statt. Die Zielstellung der
Symposiumsreihe ist es, Diskussionen zu den unterschiedlichen Aspekten einer nachhaltigen Haushaltsführung
anzustoßen und zugleich neue Perspektiven einer modernen und wirkungsvollen Finanzkontrolle zu gewinnen.
Um die Erkenntnisse und Ergebnisse der Tagung weiterführen zu können, wurden die Beiträge des Symposiums
dokumentiert und sollen in diesem Band einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der vorlie-
gende Tagungsband erscheint als Band 8 in der Schriftenreihe des Sächsischen Rechnungshofs „Finanzkontrolle
in Sachsen“.
Mein besonderer Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die mit ihren fundierten, hochwertigen und
durchaus auch kontroversen Beiträgen für die hohe Qualität und den großen Erfolg des Symposiums gesorgt
haben.
Ebenfalls danke ich der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege Meißen für die Unter-
stützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Symposiums. Dies gilt vor allem für den Rektor, Herrn
Prof. Dr. Frank Nolden, und für Frau Prof. Dr. Isabelle Jänchen, die als Moderatorin und Vortragende eines
Panels fungierte.
Nicht zuletzt möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sächsischen Rechnungshofs danken, die
am Gelingen des Symposiums und an der Erstellung des Tagungsbandes Anteil hatten.
Durch den großen Zuspruch aus Fachkreisen hat sich das Symposium als Plattform für einen zukunftsgerichteten
Gedankenaustausch von Experten etabliert und soll nun im 2-Jahres-Turnus fortgeführt werden.
Leipzig,
im Mai 2017
Der
Präsident des Sächsischen Rechnungshofs
Prof.
Dr. Karl-Heinz Binus

Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort
1
Inhaltsverzeichnis
3
Abkürzungsverzeichnis
3
Eröffnung durch den 2. Vizepräsidenten des Sächsischen Landtags
Horst Wehner MdL
7
Grußwort
Prof. Dr. Karl-Heinz Binus, Präsident des Sächsischen Rechnungshofs
9
Begrüßung durch die Fachhochschule
Prof. Dr. Frank Nolden, Rektor der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung
und Rechtspflege Meißen
13
Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
Jens Bullerjahn, Finanzminister a. D. des Landes Sachsen-Anhalt
17
Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
Barbara Ludwig, Oberbürgermeisterin der Stadt Chemnitz
25
Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Prof. Dr. Marcel Thum, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft an
der Technischen Universität Dresden, Leiter der Niederlassung Dresden des ifo Instituts für
Wirtschaftsforschung
33
Panel 1: Nachhaltige Haushaltspolitik für den Freistaat Sachsen – Spannungsfeld zwischen
Konsolidierung und Wachstum
43
Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
(Impulsreferat: Dirk Panter MdL, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag)
45
Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
(Impulsreferat: Jens Michel MdL, Haushalts- und Finanzpolitischer Sprecher der CDU-
Fraktion im Sächsischen Landtag)
51
Sparen wir uns kaputt?
(Impulsreferat: Sebastian Scheel, Staatssekretär für Wohnen in der Senatsverwaltung
für Stadtentwicklung und Wohnen in Berlin
1
63
Panel 2: Positionsbestimmung – Anforderungen an die Finanzkontrolle im Umfeld von
Wachstum, demografischen Herausforderungen und Flüchtlingsproblematik
67
Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
(Impulsreferat: Dr. Peter Pollak, Direktor des Stadtrechnungshofs Wien)
69
Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
(Impulsreferat: Richard Höptner, Präsident a. D. des Niedersächsischen Landesrech-
nungshofs)
79
Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mechanismen?
(Impulsreferat: Herbert Gehring, Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt Dresden)
85
Panel 3: Strategische Lösungsansätze der infrastrukturellen Fortentwicklung in den Kommunen
89
Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungs-
planung der Kommunen
(Impulsreferat: Dr. Henrik Scheller, Deutsches Institut für Urbanistik, Teamleiter Finanzen)
91
1
Zum Zeitpunkt des Vortrages war Sebastian Scheel MdL, parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag.

04 |
Inhaltsverzeichnis
Seite
Lebenszykluskosten bei Infrastrukturinvestitionen am Beispiel der zentralen Kältever-
sorgung der TU Bergakademie Freiberg
(Impulsreferat: Oliver Gaber, Kaufmännischer Geschäftsführer beim Staatsbetrieb
Sächsisches Immobilien- und Baumanagement)
103
Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in
Sachsen
(Impulsreferat: Prof. Dr. Isabelle Jänchen, Lehrstuhl für Öffentliche Finanzen und
Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechts-
pflege Meißen)
107
Verleihung der Ehrenmedaille des Sächsischen Rechnungshofs
115
Dr. Tilmann Schweisfurth
Präsident a.D. des Landesrechnungshofs Mecklenburg-Vorpommern
115
Christian Schramm
Oberbürgermeister a. D. der Stadt Bautzen
117
Schlussbemerkungen
Prof. Dr. Karl-Heinz Binus, Präsident des Sächsischen Rechnungshofs
119
Anhang
121
Fotos der Veranstaltung
121

Abkürzungen
| 05
Abkürzungen
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BMF
Bundesministerium der Finanzen
DDR
Deutsche Demokratische Republik
Difu
Deutsches Institut für Urbanistik
EU
Europäische Union
EZB
Europäische Zentralbank
FAG
Finanzausgleichsgesetz
GoB
Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung und Bilanzierung
Hrsg.
Herausgeber
ISSAI
International Standards of Supreme Audit Institutions
KWG
Kommunalwissenschaftliche Gesellschaft
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ÖPP
Öffentlich Private Partnerschaften
PwC
PricewaterhouseCoopers Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Rz.
Randziffer
SächsGemO
Sächsische Gemeindeordnung
SIB
Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement
SMF
Sächsisches Staatsministerium der Finanzen
SMI
Sächsisches Staatsministerium des Innern
SRH
Sächsischer Rechnungshof
SSG
Sächsischer Städte- und Gemeindetag

Eröffnung durch den 2. Vizepräsidenten des Sächsischen Landtags
| 07
Eröffnung durch den 2. Vizepräsidenten des Sächsischen Landtags
Horst Wehner MdL, 2. Vizepräsident des Sächsischen Landtags
Horst Wehner ist seit 2004 Abgeordneter des Landtags von Sachsen für die Fraktion DIE LINKE. Seit 2009 ist
er 2. Vizepräsident des Sächsischen Landtags. Horst Wehner ist behindertenpolitischer Sprecher der Fraktion
und Landesverbandsvorsitzender des Sozialverbands VdK Sachsen e. V.
Sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten,
verehrter Herr Rektor,
liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, Landräte,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
vor 2 Jahren hat der Sächsische Rechnungshof gemeinsam mit der Fachhochschule der Sächsischen Verwal-
tung Meißen das erste Symposium zur „Nachhaltigen öffentlichen Finanzwirtschaft“ veranstaltet. Im Mittel-
punkt standen unter dem Thema „Öffentliche Finanzen – Herausforderungen und neue Wege“ aktuelle Ent-
wicklungen und Tendenzen öffentlicher Haushaltswirtschaft, die von Wissenschaftlern und Praktikern disku-
tiert worden sind.
Vom Rechnungshof organisierte Veranstaltungen haben auch im Sächsischen Landtag eine gute Tradition.
Erst letzten Oktober hat hier im 25. Jahr der deutschen Einheit das Internationale Seminar zur öffentlichen Finanz-
kontrolle stattgefunden. Es ist für mich eine ganz besondere Ehre, Sie in Vertretung des Landtagspräsidenten,
Dr. Matthias Rößler, zugleich Schirmherr dieser Veranstaltung, zum 2. Symposium „Nachhaltige öffentliche Finanz-
wirtschaft“, hier im Sächsischen Landtag in Dresden begrüßen zu können. Herzlich willkommen!
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte Ihnen jetzt nicht die aktuellen Zahlen referieren, sie werden heute noch öfters in den unterschied-
lichsten Sachverhalten eine Rolle spielen.
Erwähnenswert scheint mir, Konsolidierung und Wachstum sind wohl unbestritten seit 1990 wichtige Parame-
ter der sächsischen Haushaltspolitik. Sie werden es bleiben: auch im Spannungsfeld zwischen Schuldenabbau,
Wirtschaftsentwicklung und den aktuellen Herausforderungen, die sich bspw. aus dem demografischen Wandel
und seinen Auswirkungen ergeben.
Als Sozialpolitiker verweise ich auf die wahrzunehmende Verschärfung des Stadt-Land-Gefälles.
So leiden die ländlichen Räume unter der Abwanderung, die Kommunen und Landkreise haben finanzielle Mühe,
gerade Bürgerinnen und Bürgern mit Hilfebedarf adäquate wohnortnahe Angebote zu machen. Diese zieht es
in die Städte. Die Städte werden jedoch immer voller und damit teurer. Wie werden wir den Prozess gestalten?
Verehrte Damen und Herren, gegenwärtig nimmt das Sächsische Parlament sein Königsrecht der Haushaltsbe-
willigung wahr. Die Haushaltsberatungen in den Fraktionen und Fachausschüssen laufen auf Hochtouren. Der
Doppelhaushalt für die Jahre 2017 und 2018 wurde vor 2 Monaten in den Sächsischen Landtag eingebracht
und wird Ende des Jahres (in der Dezember-Sitzung) zu verabschieden sein.
Schon jetzt steht fest, dass keine neuen Schulden gemacht werden. Es wird hervorgehoben, dass auch die
Investitionsquote im Maßstab der deutschen Länder sich wiederum sehen lassen könne.
Wir haben heute in Sachsen viele gute haushaltspolitische Gründe, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.

08 |
Eröffnung durch den 2. Vizepräsidenten des Sächsischen Landtags
Sehr geehrte Damen und Herren, der Sächsische Landtag wird jetzt und zukünftig von der Symposiums-Reihe
des Rechnungshofes und der Fachhochschule sowie von der Diskussion einer nachhaltigen Haushaltsführung
profitieren.
Für diese Initiative gebühren dem Präsidenten des Sächsischen Rechnungshofs Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Binus
und dem Rektor der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege Meißen Herrn Prof. Dr. Frank
Nolden sowie deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Anerkennung und Dank.
Mein besonderer Dank gilt den heutigen Referentinnen und Referenten, die aus Sachsen-Anhalt und Sachsen
zu uns in den Landtag gekommen sind.
Ich gehe davon aus, dass Ihre Vorträge nirgendwo anders mit so großem Interesse aufgenommen und ausge-
wertet werden wie gerade hier, wo zwischen Koalition, Opposition und Regierung um einen Doppelhaushalt
gerungen wird.
In diesem Sinne wünsche ich dem 2. Symposium ein erfolgreiches Gelingen und unserem Freistaat Sachsen und
seinen Kommunen auf der nicht einfachen Gratwanderung zwischen Konsolidierung und Wachstum auch weiterhin
recht viel Erfolg.
Ich danke Ihnen.

Grußwort
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Grußwort
Prof. Dr. Karl-Heinz Binus, Präsident des Sächsischen Rechnungshofs
Prof. Dr. Binus ist studierter Wirtschaftsingenieur und war bis zu seiner Ernennung zum Rechnungshofdirektor
im Jahr 1995 Mitglied des Sächsischen Landtags. Als Mitglied des Rechnungshofs und ab 2007 als dessen
Vizepräsident war er zuständig für die überörtliche Kommunalprüfung. Seit 2010 ist Prof. Dr. Binus Präsident
des Sächsischen Rechnungshofs und insbesondere zuständig für die Prüfung von Landtag, Fraktionen und
Haushaltsplanung sowie der Haushaltsrechnung des Freistaates Sachsen. Er vertritt die deutschen Landes-
rechnungshöfe im Präsidium der Vereinigung der regionalen Rechnungskontrollbehörden in Europa
(EURORAI).
Sehr geehrter Herr Landtagsvizepräsident Horst Wehner,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Rektor Prof. Dr. Nolden,
liebe Rechnungshofpräsidentinnen und –präsidenten,
lieber Präsident Janusz Kot,
sehr geehrte Mitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte und Beigeordnete,
sehr geehrte Referentinnen und Referenten,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SRH.
Willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Neue Sachlichkeit.
Das
ist der Stil, in dem das alte Landtagsgebäude gebaut ist. Das ist auch der Stil, an dem sich der Architekt
Peter Kulka bei seinen Entwürfen für diesen Neubau orientierte.
Neue
Sachlichkeit bezeichnet eine Stilrichtung, die sich in den 1920er Jahren vor allem als Gegenströmung
zum Expressionismus entwickelte. Sie lehnte überlieferte Architektur-Dekoration ab und forderte eine Bauweise, die
sich allein aus den Funktionen ergeben sollte. Eine Bauweise, die sich auf das Wesentliche beschränken sollte.
Natürlich
möchte ich Ihnen heute keine Vorlesung über architektonische Stilrichtungen halten. Ich finde es
jedoch bedeutsam, dass ein Symposium, welches sich das Nachdenken über den nachhaltigen Umgang mit
Steuergeldern auf die Fahnen geschrieben hat, an einem Ort stattfindet, der schon in seiner Bauweise klar und
nüchtern ist. Ein Symposium, das wir unter Mitwirkung der Verwaltungs-Fachhochschule in Meißen konzipiert
haben, um Fachleute und Experten zusammenzubringen, die alle auf die eine oder andere Weise mit öffentli-
chen Geldern arbeiten und dies - hoffentlich - klar und nüchtern tun!
Ich
danke daher dem Präsidenten des Sächsischen Landtags sehr, dass er die Schirmherrschaft für dieses Symposium
übernommen hat. Meiner Frage, vor knapp einem Jahr, ob er sich vorstellen könnte, dass wir unser
2. Wissenschaftliches Symposium zur Thematik der nachhaltigen Haushaltswirtschaft im Plenarsaal des Sächsi-
schen Landtages durchführen, folgte seine sofortige begeisterte Zustimmung.
Dass
wir heute im Plenarsaal des Sächsischen Landtags zusammenkommen, ist noch für einen weiteren Anlass sehr
passend: In diesem Jahr begeht der Sächsische Rechnungshof sein 25-jähriges Bestehen seit seiner Neugründung im
Jahr 1991. Ich finde, der Plenarsaal - das Herzstück des Sächsischen Parlaments - ist der würdigste Ort, um einen
solchen Jahrestag zu begehen. Der Sächsische Rechnungshof ist eine unabhängige Kontrollinstitution. Und doch
dienen unsere Erkenntnisse dem Parlament bei vielen Entscheidungen als eine Grundlage zur Abwägung. In
diesem Sinne verstehe ich den Rechnungshof auch als Dienstleister des Parlaments.

10 |
Grußwort
Lassen Sie mich ein paar Schlaglichter aus unserer jüngsten Geschichte nennen:
Juli 1991, ein Auszug aus dem Archiv des Sächsischen Rechnungshofs: „Der Aufbaustab des Sächsischen Rech-
nungshofs bittet um kurzfristige Belieferung von 20 Tonnen Lausitzer Briketts und 2 Tonnen Koks.“
Es waren turbulente Zeiten, als der Aufbaustab unter der Leitung des späteren Rechnungshofpräsidenten Alfred
Wienrich im Jahr 1991 seine Arbeit aufnahm. Gewaltige Umwälzungen hatten die Jahre 1989 und 1990 ge-
prägt: Der Mauerfall am 9. November 1989, die ersten freien Parlamentswahlen in der DDR am 18. März 1990
und schließlich die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Diese Ereignisse
haben auch auf die Finanzkontrolle Auswirkungen gehabt: Mit der Wiedervereinigung wurden die
5 Bundesländer und mit ihnen die Rechnungshöfe neu gebildet.
Für
den Aufbaustab hieß das, eine Institution von Grund auf neu aufzubauen - von den profanen Dingen, wie
das Heizen im Winter sicherzustellen, bis zu den komplexen Sachverhalten, die das Einstellen von Fachkräften
mit sich brachte. Primäres Ziel war dabei, den Rechnungshof schnellstmöglich zum Laufen, d. h. zum Prüfen zu
bringen. Denn nach der Neugründung des Freistaates Sachsen im Herbst 1990 ging es zunächst darum, die
Handlungsfähigkeit der Landesverwaltung im Kontext zu kommunalen Selbstverwaltungsstrukturen rasch her-
zustellen. Die zentrale Aufgabe des Rechnungshofs war nach seiner Wiedererrichtung 1991, der Bildung von
unwirtschaftlichen Strukturen innerhalb der Verwaltung entgegenzutreten, damit sich diese Dinge nicht ver-
festigen.
Vor
allem der Rechnungshof Baden-Württemberg und der Bayerische Oberste Rechnungshof haben durch ihre
umfangreiche personelle und fachliche Unterstützung den zügigen Aufbau der Finanzkontrolle im Freistaat
Sachsen nachhaltig gefördert. Mit Erfolg, denn bereits ein Jahr später, 1992, legte der Sächsische Rechnungs-
hof seinen ersten Jahresbericht mit wesentlichen Ergebnissen seiner Prüfungstätigkeit vor.
Juli 1993, Auszug aus dem 2. Jahresbericht des Sächsischen Rechnungshofs: Der Rechnungshof kritisiert „die
weit überzogene Vorratshaltung in den Justizvollzugsanstalten. […] Zum Zeitpunkt der Prüfung lagerten bei
zwei Anstalten mit insgesamt 265 Gefangenen über 50.000 Stück Unterwäsche. Das entspricht 188 Stück
Unterwäsche je Gefangenem.“
Diese Prüfung ist mir besonders in Erinnerung geblieben, da ich damals selbst Abgeordneter des 1. Sächsischen
Landtags war und der damalige Staatssekretär des SMF, Dr. Karl-Heinz Carl, in der Sitzung des Haushaltsaus-
schusses eine graue Unterhose als Anschauungsmaterial in die Höhe hielt.
Ja,
damals gab es eben noch keine Power-Point-Präsentation, keine Tablets und Smartphones, damals musste
man sich noch der handfesten Veranschaulichung bedienen.
Das
zeigt: Viele Dinge haben sich seitdem verändert. Im Kern ist unsere Arbeit jedoch gleichgeblieben. Wir
prüfen - damals wie heute - unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen die gesamte Haushalts- und Wirt-
schaftsführung des Freistaates Sachsen und seiner Kommunen. Prüfungsfreie Räume gibt es nicht: Spektakuläre
Themen - wie der Bau einer Treppe ins Nichts - unterliegen genauso der Überprüfung, wie eher unprätentiöse
Fälle bei der Prüfung von Vergaben oder der Wahrnehmung von Rechtsaufsichtspflichten.
Es
ist jedoch keineswegs so, dass die Finanzkontrolle in den alten Bundesländern ihren Anfang genommen hat
und nach 1990 hier eingepflanzt wurde. Der Ursprung einer unabhängigen Rechnungsprüfung liegt in Sachsen:
Hier wurde 1707 von August dem Starken mit der „Oberrechenkammer“ die älteste oberste Finanzbehörde
eines Territorialstaats in Deutschland eingerichtet. Unabhängig von den anderen obersten Landesbehörden,
aber diesen ebenbürtig, prüfte sie die Verwendung der Staatsfinanzen.
Im
Laufe der Zeit wechselten die Bezeichnungen immer wieder einmal, auch gab es Veränderungen der Organi-
sation. Die Unabhängigkeit der sächsischen Finanzkontrolle blieb jedoch die ganze Zeit über gewahrt.
Zwei Ausnahmen gab es: Den Machtantritt der Nationalsozialisten, der eine zentralistische Struktur mit sich
brachte - 1936 wurden die Rechnungshöfe der Länder aufgelöst und 5 Rechnungshöfe zu Außenabteilungen
des Rechnungshofs des Deutschen Reiches degradiert, darunter der Sächsische Rechnungshof. Und die Grün-
dung der DDR, die das kurze Intermezzo der in der Verfassung von 1947 festgeschriebenen Wiedereinführung
einer unabhängigen Finanzkontrolle in Sachsen beendete: Mit der Verordnung vom 06.11.1952 wurde die
»Staatliche Finanzrevision« geschaffen und dem Finanzministerium der DDR unterstellt. Dadurch war sie zwar
unabhängig von den „staats- und wirtschaftsleitenden Organen“, sie musste jedoch die Anweisungen des vor-
gesetzten Finanzministers befolgen und war insofern nicht unabhängig von der Verwaltung.

Grußwort
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August 1994, Auszug aus dem Vorwort zum 3. Jahresbericht des Sächsischen Rechnungshofs: „Der jährliche
Bericht soll nicht nur dazu dienen, die Fehler der Vergangenheit aufzudecken, sondern er soll auch zukünftige
Fehlleistungen verhindern.“
Was Rechnungshofpräsident Alfred Wienrich in seinem Vorwort schreibt, ist heute so aktuell wie damals: Der
Sinn unserer Arbeit ergibt sich nur, wenn unsere Prüfung künftig zu einem wirtschaftlicheren und sparsameren
Mitteleinsatz führt. Dafür setzen wir uns seit 25 Jahren unermüdlich ein.
Wenn
ein Mensch 25 Jahre alt wird, dann sagt man, er stehe in der Blüte seines Lebens. Er hat in diesen
25 Jahren Laufen und Sprechen gelernt. In der Schule hat man ihm das Lesen und Schreiben beigebracht und
später hat er einen Beruf erlernt. All seine Erfahrungen haben ihn geprägt und zu einer eigenständigen Persön-
lichkeit geformt. Er hat seinen Platz gefunden und steht mitten im Leben.
Wenn
eine Institution wie der Sächsische Rechnungshof 25 Jahre alt wird, dann würde man wohl eher sagen,
sie sei den Kinderschuhen entwachsen, sie ist erwachsen geworden. Wir haben im Januar 1991 an der Hand
der Rechnungshöfe von Bayern und Baden-Württemberg neu laufen gelernt. Wir haben unsere Familie aus
Prüfern und Mitarbeitern aufgebaut und stetig vergrößert. Wir haben unsere Positionen - nicht immer ohne
Reibungen - geformt und verteidigt und so zu unserem Platz gefunden. Wir verstehen uns - so habe ich es im
kommende Woche erscheinenden Jahresbericht formuliert - als „finanzielles Gewissen“ des Freistaates Sachsen.
Um
den Bogen zum Anfang meiner Rede zu schlagen:
Neue Sachlichkeit ist - wir erinnern uns - der Stil dieses Gebäudes. Dieser Plenarsaal ist zu einem großen Teil
verglast und damit für alle einsehbar. Ich finde das sehr passend: Transparenz steht einem Parlament gut zu
Gesicht und ein transparenter Umgang mit den Steuergeldern der Bevölkerung ebenso.
Die Stilrichtung Neue Sachlichkeit orientierte sich in ihrer Philosophie an den Werten der Aufklärung und geht
in ihrem Kern von einem mündigen Bürger aus. Dass diese Bürger das Recht haben, zu wissen, wie ihre Steuern
verwendet werden, ist in der Theorie selbstverständlich. In der Praxis - das zeigt unsere Arbeit - hapert es an
der Transparenz zuweilen noch.
In diesem
Sinne möchte ich Sie dazu auffordern, neue Wege für einen nachhaltigen finanziellen Mitteleinsatz
zu suchen und dies auch transparent zu machen. Das sind wir nicht nur den Steuerzahlern schuldig, sondern
auch den nächsten Generationen. Wir als Rechnungshof versuchen mit unserer Prüfung, aber auch mit Platt-
formen wie diesem Symposium, dazu beizutragen.
Vielen Dank!

Begrüßung durch die Fachhochschule
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Begrüßung durch die Fachhochschule
Prof. Dr. Frank Nolden, Rektor der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechts-
pflege Meißen
Prof. Dr. Frank Nolden wirkt seit über 20 Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Hochschulsektor.
Wichtige Stationen waren dabei die Tätigkeit als Kanzler der Universität Leipzig sowie zuvor als kaufmänni-
scher Geschäftsführer des Umweltforschungszentrums Leipzig. Seit 2013 ist Prof. Dr. Nolden Rektor der
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Meißen.
Sehr geehrter Herr Vizepräsident des Sächsischen Landtages Wehner,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Ludwig,
sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten der Rechnungshöfe und Gerichte,
lieber Herr Präsident Kot, lieber Professor Binus und sehr geehrter Herr Professor Wludyka,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
verehrte Referentinnen und Referenten,
ich freue mich ganz außerordentlich, dass es gelungen ist, das 2. Symposium zum Themenkreis der nachhalti-
gen öffentlichen Finanzen so erfolgreich zu organisieren und darüber, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind:
statt wie zum 1. Kongress nach Meißen in meine Hochschule diesmal in den Plenarsaal des Sächsischen Land-
tags.
Sie,
lieber Herr Prof. Binus, haben mit großer Konsequenz und Durchschlagskraft erneut dafür gesorgt, dass
unser Symposium mit hervorragenden Referenten und ausgewiesenen Persönlichkeiten bestückt ist und wir
daher interessante Vorträge und hoffentlich auch eine lebhafte Diskussion verfolgen und daran mit tun dürfen.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch für die professionelle Zusammenarbeit in der Vorbereitung bedanken,
insbesondere bei Frau Popp und Frau Scholz vom Rechnungshof für die Klärung der vielen Einzelprobleme und
bei Frau Prof. Jänchen von unserer Hochschule für die inhaltlich von Bedeutung gewesenen Fragen.
Dieses
Symposium gibt uns als Hochschule in Meißen erneut die Gelegenheit, Ihre Aufmerksamkeit – verehrte
Mitglieder des Landtages - auf uns zu lenken; als Finanzier der Hochschule und auch als Abnehmer unserer
Studentinnen und Studenten sowie gewisser Nebenleistungen, wie etwa dieser Veranstaltung.
Sie,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, haben sich jüngst mit unserer Hochschule befasst und uns
ein überarbeitetes Hochschulgesetz geschenkt. Wir möchten uns für die dadurch eintretenden und ermöglich-
ten Veränderungen bedanken, die uns zumindest ganz überwiegend dabei helfen werden, so denke ich, die
vermutlich nicht unbedeutenden Herausforderungen der nächsten Jahre zu bestehen.
Wie
Sie wissen, bilden wir für die öffentliche Verwaltung des Freistaates in den Fachbereichen Steuerverwal-
tung und Staatsfinanzverwaltung, Sozialverwaltung und Sozialversicherung, Rechtspflege und natürlich Allge-
meine Verwaltung aus. Das heißt, unser Blick ist immer auch stark auf die staatlichen Strategien, Absichten
und Handlungen ausgerichtet.
Und
insofern lag der Gedanke, sich mit der Betrachtung der öffentlichen Finanzen zwischen Konsolidierung
und Wachstum zu befassen, doch sehr nahe. Kurz gesagt, also Themen, die für die Lehrenden aber auch für
unsere Studierenden in der Hochschule Meißen eine große Bedeutung haben, denn in der Steuerverwaltung
werden die zur Verfügung gestellten Einnahmen generiert, welche hernach in den Leistungs- und Eingriffsver-
waltungen - natürlich möglichst effizient und auch zielorientiert - wieder verausgabt werden.
Natürlich werden die hier zu diskutierenden Entwicklungen und Tendenzen nicht in jeder Phase für jeden sofort
und zeitnah im beruflichen Alltag zu spüren sein, aber wir wollen ja durch das Mittun am von Ihnen „gesetzten
Kurs“ selber lernen und das Gelernte dann wiederum in die Lehre und - soweit das noch möglich ist - in die
Forschung einfließen lassen. Denn in dem Zusammenhang zwischen den rechtsförmigen und rechtsstaatlichen
Herangehensweisen, die unsere Studierenden ausgesprochen vertieft vermittelt bekommen, und den modernen

14 |
Begrüßung durch die Fachhochschule
Instrumenten der Soziologie, der Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, der Psychologie und vor allem
der Fragen der IT und des Prozessmanagements, liegen unsere Schwerpunkte in der Lehre für die Studierenden
des Fachbereiches Allgemeine Verwaltung.
Diesen
Zusammenhang herzustellen und praxisnah zu vermitteln, ist für uns an der Hochschule tägliche Auf-
gabe und Herausforderung. Die von der Hochschule zur Verfügung gestellten Ressourcen sind dabei als gut zu
bezeichnen. Sie können sich gerne jederzeit einen Eindruck in Meißen davon verschaffen.
Sie werden mir an der Stelle nachsehen, dass ich den Appell, die Zahl der Studierenden, die bei uns ihre Ausbil-
dung und ihr Studium beginnen dürfen, deutlich anzuheben, vor diesem hohen Haus äußern muss. Gut ausge-
bildete und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ihren Verwaltungen stellen eine elementare Unter-
stützung für politische und administrative Arbeit dar und können dazu führen, dass der Rechnungshof, wenn er
ihre Einrichtung aufsucht, ggf.
noch weniger Anlass für Kritik findet.
Dabei
versuchen wir mit großen Kraftanstrengungen, den ausgezeichneten Ruf, den sich die Meißener, also unsere
Absolventen, erworben haben, zu erhalten und weiter zu steigern. Wir arbeiten beständig daran, diese zu verbessern,
etwa durch interne und externe Evaluation und die anstehende große Reakkreditierung der Bachelor-Studiengänge,
die angewandte Forschung weiter auszubauen, unsere Veröffentlichungszahlen als Indikator für wissenschaft-
liche Betätigung unseres akademischen Personals zu steigern und die Studierenden neben einer praktischen
dualen Ausbildung auch mit anderen Nationen in Verbindung zu bringen.
Im
Fokus stehen hier unsere Nachbarländer Polen, Tschechien, aber auch Österreich und Frankreich.
Wie es der Zufall will, findet zusammen mit der Universität Breslau, der Fakultät für Recht, Wirtschaft und
Ökonomie, in der nächsten Woche ein für unsere doch recht kleine Einrichtung großer Kongress statt.
Wir werden uns in diesen 2 Tagen über die aktuellen Forschungsschwerpunkte in den Verwaltungswissenschaf-
ten in Deutschland und in Polen austauschen. Ziel ist eine vertiefte Forschungskooperation und ein dauerhafter
Austausch von Studierenden und Lehrenden, vielleicht sogar der Versuch, auch polnische Studierende zu uns
an die Hochschule zu holen und hernach dem sächsischen Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.
Wenn Sie mir diesen Satz gestatten, ohne weiteres Personal wird es dabei nicht auf dem bisherigen Niveau der
Lehre weitergehen. Dies scheint mir eindeutig zu sein. Wir brauchen als Hochschule ein Aussetzen von Stellen-
kürzungen, ja sogar mehr Personal, sonst wird die demografische Welle nicht zu meistern sein!
Daneben
haben wir mit einem starken Bezug zu den Entwicklungen im Freistaat Sachsen, wie etwa dem stär-
keren Einsatz moderner Medien und E-Government sowie einer stärkeren Orientierung an definierten Prozessen
in der Verwaltung, kurz der demografischen Entwicklung, statt des bisherigen Masters in Verwaltungsinforma-
tik einen neuen „Master Public Governance“ etabliert, also einen 3-jährigen nebenberuflichen Masterkurs für
(aktuelle oder kommende) Führungskräfte auf Landesebene und für die kommunalen Familien, für den wir einen
durchaus spürbaren Kostenbeitrag erheben.
Er ist erst jüngst angelaufen: wir haben fast 30 Studierende zu unserer großen Freude gewinnen können, und
wir denken, dass es die Absolventen befähigen wird, sich für die höheren und höchsten Funktionen im Freistaat
bewerben und auf diesen bewähren zu können.
Viele unter Ihnen wissen von diesem Vorhaben und haben uns zudem fulminant unterstützt. Herzlichen Dank
dafür!
Sie verehrte Damen und Herren Abgeordnete aus den Landeseinrichtungen und der kommunalen Familie profi-
tieren hoffentlich von unseren Bemühungen. Geben Sie uns beständig Rückmeldung dazu, damit wir besser
werden und uns an Ihre Bedarfe weiterhin noch stärker adaptieren können. Scherzhaft könnte man sagen, der
Stellenabbau zwingt alle Behörden des Freistaates in immer drängenderem Maße dazu, sich mit hervorragen-
den Personal aufzuladen, um die Arbeits- und Aufgabenlast noch zu erledigen. In diesem Sinne wollen wir
einen Beitrag dazu leisten, dass Sie mit diesem Umstand aktiv und erfolgreich umgehen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche der Veranstaltung einen guten Verlauf und fruchtbare
Diskussionen. Mit dieser letzten Bemerkung ist erneut die Hoffnung verbunden, dass es nicht das letzte Zu-
sammentreffen zu dieser Thematik nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft sein wird, sondern, dass wir in eine
2-jährige Reihe einmünden. Der zweite Aufschlag ist ja nun gelungen. Wer hätte das 2014 bei unserem ersten
Treffen so angenommen?

Begrüßung durch die Fachhochschule
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Ich
kann an dieser Stelle hinzufügen, dass wir versuchen, sozusagen in gegenläufigem Rhythmus in 2017 die
11. Internationale Sommerfakultät der Hochschule zu veranstalten. Jene im Jahre 2015 musste - etwas überra-
schend - aufgrund der Flüchtlingskrise ausfallen, wovon wir doch substanziell als Erstaufnahmeeinrichtung
betroffen waren.
Ich danke ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!

Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
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Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
Jens Bullerjahn, Finanzminister a. D. des Landes Sachsen-Anhalt
Jens Bullerjahn war seit 1990 Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt: von 1993 bis 2004 als parlamen-
tarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion und von 2004 bis 2006 als Fraktionsvorsitzender. Von 2006 bis
April 2016 war Jens Bullerjahn stellvertretender Ministerpräsident und Finanzminister des Landes Sachsen-
Anhalt.
Ich grüße Sie erst einmal alle ganz herzlich.
Ich
grüße ganz besonders Herrn Vizepräsidenten Wehner, Herrn Präsidenten Prof. Dr. Binus, Herrn Rektor Prof.
Dr. Nolden und Rechnungshofpräsidenten Kay Barthel von „meinem Rechnungshof“.
Meine
Vorredner haben betont, dass es immer ein gutes Miteinander zwischen den Institutionen gibt. Wir haben da
ein Auf und Ab kennengelernt: Wir wussten, ohne uns geht es nicht - und die Zusammenarbeit ist wichtig -
aber es war für mich als Finanzminister schwierig, wenn sozusagen die einen oft recht haben wollen und die
anderen für das Lösen von Problemen zuständig waren.
Ich
grüße Sie alle ganz herzlich insofern, weil ich mir nach 26 Jahren im Parlament reichlich überlegt habe,
herzukommen. Prof. Dr. Binus rief mich an - ich war gerade beim Packen meiner Koffer - und sagte: "Kommen
Sie vorbei und erzählen Sie ein bisschen etwas!" Eigentlich ist es nicht guter Stil, dass ausgeschiedene Minister
dann endlich die Weisheiten loslassen, die sie schon immer loswerden wollten, die sie sozusagen nicht ganz
umsetzen konnten aufgrund von Mehrheiten und Gegebenheiten. Ich habe 25 Jahre Finanzpolitik gemacht. Sie
können mir glauben: ich habe falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Aber ich habe die Suppe auch
auslöffeln müssen. Dirk Panter kennt mich lange genug und Barbara Ludwig auch: wir haben finanzpolitische
Beschlüsse gefasst, die wir im Nachgang heute geißeln - natürlich immer als die falschen Beschlüsse der ande-
ren. Deswegen bin ich jemand gewesen, der dafür stand, dass Finanzpolitik gestalten muss, aber dabei nicht
immer nur vorher überlegt, was alles falsch gehen könnte. Und das war die Bitte von Herrn Prof. Dr. Binus: aus
dem Innenleben zu erzählen, sozusagen völlig befreit, weil sich der Landtag ja jetzt dazu nicht mehr äußern
kann.
Ich
selbst bin Ingenieur für Prozessautomatisierung, man kann mir also eine gewisse Affinität zur Technik
unterstellen. Ich habe in den letzten Jahren ein sehr großes Haus verantwortet, weil für mich wichtig war,
Finanzpolitik aus einem Guss zu machen. In meinen Verantwortungsbereich gehörten die Kommunalfinanzen,
die Bund-Länder-Finanzen, EU-Mittel, die IT, die Beteiligungen und der Hochbau. Das gab mir die Möglichkeit,
unter dem Aspekt einer nachhaltigen Finanzpolitik durchgehende Entscheidungen zu treffen. Dass gerade die
kommunale Familie damals nicht glücklich war mit mir, das lag am System. Auch Finanzpolitik muss sich reiben.
Aber aus meiner Sicht muss sie sich reiben mit ihrem eigenen Konzept einer langfristigen Perspektive: Wo will
sie hin? Als Sozialpolitiker nachhaltig zu agieren, ist ein Spannungsbogen. Es ist mir manchmal wirklich
schwergefallen, die Nachhaltigkeit von Sozialpolitik nachzuvollziehen.
Es
gibt verschiedene Darstellungen, was nachhaltig ist. Ich will Ihnen hier einmal 3 Einschätzungen vorstellen:
Im PwC-Länderfinanzbenchmark gibt es jährlich einen Nachhaltigkeitsindex, der das Verhältnis von heute ein-
gesetzten Mitteln zu den im Jahre 2020 verfügbaren Mitteln nach Zinsen und Versorgung im Vergleich zum
Durchschnitt der alten Flächenländer darstellt. Das war für uns als Finanzminister sehr wichtig, da es zum
einen die Grundlage für die Bewertung im Stabilitätsrat darstellte. Zum anderen macht es die Länder ver-
gleichbar und stellte damit die Grundlage für die weitere Positionsbestimmung dar: Wo willst du hin? Und
bitte nicht in 20 Jahren, sondern was soll in den nächsten Jahren passieren? Welche Trends unterstellen wir dir
als Land (mit deinen Kommunen)?
Ich muss sagen, der Stabilitätsrat war eine der besten Erfindungen der letzten Jahre. Dort wird offen geredet
zwischen Ländern, zwischen Ministerinnen und Ministern, in einer Klarheit, die Sie wahrscheinlich manchmal
überraschen würde. Weil man sich jetzt gegenseitig, da bin ich auch bei Transparenz, in die Bücher schauen
kann. Und man sieht dann, welche Regierung sich vielleicht auch vor wichtigen Schritten drückt, aber auch wo

18 |
Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
gute Arbeit geleistet wird. Das muss ich Sachsen lassen: egal mit welcher Parteistruktur man regiert hat, man
hat sich von Anfang an Gedanken gemacht hat, was in 10, 20, 30 Jahren sein wird.
In
der OECD gibt es eine ganz andere Bewertung. Da gibt es eine Generationenbewertung, die betrachtet wie sich
Entscheidungen von heute auswirken - inklusive solcher Kosten, wie Rente, Versorgung, Gesundheit, Demografie.
Solch eine Betrachtung erzeugt Langfristigkeit und das ist für mich sozusagen die Spitze des Ganzen: Wer
heute weiß, was gerade bei der sich stark verändernden Bevölkerung für Kosten im Sozialsystem anstehen,
muss handeln. Wer sieht, wie in 30, 40 Jahren Rente, Gesundheit und andere Faktoren die Spielräume eingren-
zen, wenn man nicht genug Geld zuführt, der muss sich auch Gedanken machen, zu generationenübergreifen-
den Entscheidungen.
Es
gibt ein Gutachten des BMF zur nachhaltigen Finanzpolitik
1
, was ich sehr empfehlen kann. Dort heißt es:
„Nachhaltige Finanzpolitik bezieht sich zunächst auf die öffentlichen Haushalte selbst. Eine solide und nach-
haltige Haushaltspolitik muss sich von langfristigen Belastungen freihalten, die ihre Handlungsfähigkeit zu
sehr einschränken, weil ansonsten der Spielraum für kurzfristige notwendige Korrekturen und für eine recht-
zeitige Anpassung an Strukturveränderungen verloren geht.“
2
Man hätte es auch einfacher schreiben können,
aber ich glaube, Sie wissen, was damit gemeint ist.
„Wie im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehen, sollten die Staatshaushalte in normalen
Zeiten nahezu ausgeglichen sein bzw. Überschüsse aufweisen.“
3
Das hört sich so profan an, aber ich kenne
Zeiten, da war das eher die Ausnahme. Und wenige haben sich daran gestört.
„Dauerhafte Handlungsfähigkeit der Haushaltspolitik erfordert auch, dass heute festgelegte Leistungsansprü-
che, die sich als langfristig wirksam werdende Treibsätze überproportionaler Belastungen oder defizitären Ent-
wicklung herausstellen können, durch rechtzeitig eingeleitete kommissatorische Maßnahmen unter Kontrolle
gehalten werden. Hier ist insbesondere an die schon erwähnten Belastungen aus der zukünftigen demographi-
schen Entwicklung im Bereich des Gesundheitswesens und der Alterssicherung zu denken.“
4
Kurz gesagt: Wenn
du merkst, es wird nicht reichen, dann musst du etwas ändern - entweder in der Ausgabenstruktur oder in der
Einnahmenstruktur.
Und
das ist der Grund gewesen, dass wir über Jahrzehnte beides machen wollten. Wir wollten Steuern senken
und auf der Ausgabeseite Leistungen ausweiten. Das ist dann schlicht über Jahrzehnte mit Schulden gesche-
hen. Das ist die ganz einfache Wahrheit, weil sich politisch kaum jemand aufgerafft hat, dagegen zu halten.
Wir haben jetzt ein starkes Wachstum mit einem Steueraufwuchs, den ich mir hätte nie vorstellen können. Wir
haben seit 1990 eine Verdoppelung der Steuereinnahmen und wir erklären den Leuten immer, wir haben kein
Geld. Selbst ich habe diesen Passus in meinen Reden jetzt regelmäßig gestrichen, weil er schlichtweg nicht
stimmt. Wie viel Geld wir wirklich bräuchten, für das, was vielleicht die Bevölkerung will, oder Politik will, auf
der Ausgabenseite bei Sozialstaatsfragen, das definieren wir selber.
Sehr
geehrte Damen und Herren, ich habe mich für den heutigen Vortrag wieder einmal mit der Situation der
Länder beschäftigt und deren Haushaltssituation der letzten Jahre betrachtet.
Das
schon erwähnte PwC-Gutachten war für uns im Stabilitätsrat sehr oft die Grundlage, um Bewertungen
vorzunehmen. Wir haben einen eigenen Beirat, der das auf die Allgemeingültigkeit der 16 Länder überschrieben
hat. Im Vergleich des PwC-Länderfinanzbenchmarks von 2012 bis 2016 wird sehr deutlich, dass sich zum einen
die Finanzsituation der Länder und ihrer Kommunen in diesem Zeitraum erheblich verbessert hat. Barbara Ludwig
wird das nachher bestimmt bestätigen. Zum anderen haben sich auch die Unterschiede zwischen den Ländern
deutlich verringert. Übrigens eine sehr interessante Bemerkung. Da muss man wirklich schon mal in die Haus-
halte reinschauen, wie das gemeint ist. Diese zunehmende Konvergenz der Länderfinanzen kann als großer
finanzpolitischer Erfolg angesehen werden. Trotzdem sage ich in Kenntnis der Länderhaushalte: es gibt ekla-
tante Unterschiede der Haushaltssituation. Daraus wachsen unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten.
Sie
brauchen nur einmal die Verschuldungsquote von Sachsen und Bayern mit der von Bremen oder dem Saar-
land vergleichen. Trotzdem ist die gesamte Ländermehrheit bei der Einnahmesituation nach oben verschoben.
Das ist kein Wunder bei diesen Einnahmen und den Zinsen, die wir derzeit haben. Aber ich sage auch ganz klar,
ohne die im Jahr 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse und die Übergangsregelung, diese Vorgaben
bis 2020 einzuhalten, wäre ein solcher Erfolg nicht vorstellbar gewesen. Aber zur Wahrheit gehört, wir haben
1
BMF (07.12.2001): Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik. Konzepte für eine langfristige Orientierung öffentlicher Haushalte.
2
BMF (2001), S. 7.
3
BMF (2001), S. 7.
4
BMF (2001), S. 8.

Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
| 19
in der Föderalismuskommission ja nicht einmal die Kraft gehabt, den Länderparlamenten das zur Abstimmung
zu geben, denn es war klar, dass die Schuldenbremse wahrscheinlich so nie umgesetzt worden wäre.
Ich
ergänze, dass die ständigen Steuereinnahmen und Entlastungen durch die Zinsen die Konsolidierung der
Finanzen beschleunigen. Ich sage aber auch ganz klar, dass den Finanzministern - die da sehr ehrlich sind -
heute schon klar ist, dass Bremen und Saarland unter den jetzigen Gegebenheiten die Schuldenbremse nicht
einhalten werden, wenn jetzt nicht im Rahmen der Verhandlungen zur Veränderung der Bund-Länder-
Finanzbeziehung bestimmte gesetzliche Veränderungen zur Unterstützung dieser Länder umgesetzt werden.
Und das trotz der derzeitigen Steuersituation.
Wir reden heute über Nachhaltigkeit. Das nahmen bei mir im Landtag auch Leute in den Mund, die alles abge-
lehnt haben, was irgendwie mit Einsparung zu tun hatte. Nachhaltigkeit hört sich schick an. Aber sie ist not-
wendig. Wir haben es in Deutschland bisher nicht hinbekommen. Nur eine Zahl: 1970 hatten wir unter
100 Mrd. € Schulden. Das Ganze ist bis 2014 aufgewachsen auf 2.050 Mrd. €. Immer in der Hoffnung, dass
durch Investitionen in die Zukunft sozusagen die Rendite eingefahren wird. Doch es war immer wieder erleb-
bar, dass mit den Schulden doch nichts weiter gemacht wurde, als die Haushalte zu schließen. Wir haben sie
irgendwie verklausuliert. Ich kann mich noch an diesen Zustand erinnern - das werden noch etliche kennen -
wenn sie den Haushalt nicht durchgekriegt haben, dann haben sie sozusagen das wirtschaftliche Ungleichge-
wicht ausgerufen. Das hatte zur Folge, dass wir in einem wirtschaftlich relativ schwachen Land wie Sachsen-
Anhalt auf einmal kein Wachstum hatten, es aber nebenan in Niedersachsen brummte, durch VW. Die Volks-
wirte haben sich die Haare gerauft.
Mit dem Investitionsbegriff haben wir jedoch eine strukturelle Schieflage in den Haushalten fortgeschrieben.
Es war dann 2009 in der Föderalismuskommission II fast schon reiner Selbstschutz von Ministerpräsidenten
und Finanzministern zu sagen, dass jetzt Schluss damit sein müsse. Wir haben damals in Föderalismuskommission II
viele Anhörungen durchgeführt. Aber nachdem 24 Wissenschaftler in ganzer Bandbreite erklärt hatten, was
man tun und lassen sollte, wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich machen sollte. Wir wollten eine relativ
einfache Lösung im Grundgesetz, die besagt, dass man nur noch das Geld ausgeben darf, was man auch wirk-
lich hat, es sei denn, es gibt Ausnahmesituationen. Und wir müssen den Ländern die Chance geben, sich einzu-
fädeln: Einige erfüllen heute schon die Schuldenbremse, andere müssen sie bis 2020 umsetzen. Aus diesem
Grund gibt es für 5 Länder auch Sonderregelungen.
Aus
dieser Erfahrung heraus haben wir jetzt bei den Gesprächen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen da-
rauf verzichtet, Wissenschaftler an den Tisch zu holen. Ob das immer klug ist, ist eine andere Frage. Aber ich
sage das hier ganz offen: am Ende muss auch etwas herauskommen - nicht ein dickes Buch, in dem 5 Varian-
ten stehen. Es gab dann aber in der Föderalismuskommission ein gutes Ergebnis, das wir 2011 vor der Wahl in
Sachsen-Anhalt noch schnell unterschrieben haben. Die Botschaft war: Leute, wenn ihr politisch etwas machen
wollt, in Schwerpunkten denkt, dann denkt daran, mit dem Geld auszukommen, was ihr habt. Das heißt auch,
dass es Dinge gibt, die ihr nicht machen könnt. Oder habt die Kraft, den Leuten da draußen zu sagen, wir brau-
chen dafür höhere Steuern. Aber mogelt euch bitte nicht mehr um die Entscheidung. Und wir Finanzminister
müssen es dann ausbaden - im Vollzug. Wir hatten ja unsere Möglichkeiten, wir haben da globale Minderaus-
gaben gemacht, wir haben einen Haushaltsplan gemacht und im Parlament 4 Monate beredet, beschlossen und
anschließend eine Haushaltssperre ausgesprochen. Das ist demokratisch nicht vernünftig. Deswegen glaube ich
auch, dass die jetzige Regelung im Sinne der Demokratie ein guter Ansatz ist, alle zu zwingen, zu überlegen,
was ist wichtig und was ist richtig.
Was
hat man in Sachsen-Anhalt gemacht? Bevor hier irgendwie der Eindruck entsteht, wir sind die Größten bei
der Haushaltspolitik, sage ich gleich: auch in Sachsen-Anhalt war das Einführen der Schuldenbremse reine
finanzpolitische Notwehr. Im Jahr 2006 habe ich das Amt übernommen und war ja vorher schon 15 Jahre im
Finanzausschuss. Wir hatten uns damals mit den anderen Fraktionen verständigt, dass etwas verändert werden
muss. Dabei war klar, dass ein konzeptioneller Ansatz her muss, um die größten Unwuchten unseres Haushaltes
zu bewältigen. Ich bin dann in den Ländern herumgereist und habe mir deren Lösungen angesehen. Dann war
mir klar, dass eine zeitliche Staffelung, eine logische Folge von Entscheidungen her musste, die wahrscheinlich
in ihrer Schwere in der Umsetzung viel Ärger hervorrufen würde: konsolidieren, investieren und vorsorgen.
Was haben wir gemacht? Ich habe dem Parlament damals vorgeschlagen, dass wir von 60.000 Stellen 20.000
durch Altersabgänge abbauen. Sie können sich vorstellen, wie das alle kritisiert haben. Das verstehe ich auch.
Nur ging aus dem Benchmark mit anderen Ländern hervor, dass Sachsen-Anhalt im Vergleich zu anderen Län-
dern einen zu großen öffentlichen Dienst hat. Natürlich kann man das erklären, z. B. damit, dass Lehrer wichtig
sind. Nur bitte ich dann darum, einmal eine qualitative Wertung vorzunehmen: Wie viel kommt am Ende bei
Hochschule, Schule, Wirtschaftsförderung heraus? In manchen Haushalten können Sie sehen, dass auch wenn

20 |
Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
Sie Geld zugeführt haben, die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler schlechter wurden. Das war keine Frage
der Lehrer oder des Geldes. Es war eine Frage, wie Bildung in dem Land gemacht wurde. Darüber haben wir von
Anfang an nachgedacht und diskutiert.
Ich
habe dann 2009 eine Kabinettsvorlage eingebracht und habe mit der Staatskanzlei begonnen, eine qualita-
tive Bewertung von Politikfeldern zu entwickeln. Daraus resultierend konnten wir organisieren, wie viel Geld
wirklich nötig ist. Das ist für mich moderne Finanzpolitik. Nicht das Hecheln danach, wer den Finanzminister
am besten kennt und im Aufstellungsverfahren zum Haushalt seine Ausgaben durchbekommt. Es kann nicht
darum gehen, dass man noch eine Million rausholt, obwohl man vielleicht gar keinen strategischen Ansatz
oder Bedarf hat.
Wir
haben dann das Personalkonzept entwickelt. Wir haben das damals IT-basiert gemacht, d. h., wir haben
anhand der demografischen Entwicklung der Jahrgänge für 15 Jahre abgebildet, wie wir die Personalstärken
zurückführen können. In meiner Amtszeit habe ich 15.000 Stellen abgebaut - und Sie können mir glauben: wir
hatten heftigste Debatten im Parlament und auf der Straße. Es betraf natürlich Hochschulen, Schulen, die
Polizei. Sie können derzeit sehr schön sehen, wie die Flüchtlingskrise auch wieder genutzt wird, um Bedarfe,
die angeblich jahrelang nicht erfüllt wurden, auf einmal aufzufüllen. Ich meine nicht den aktuellen Bedarf
wegen der Flüchtlingskrise. Ich habe da skurrile Diskussionen miterlebt: Jetzt sind die Flüchtlingszahlen nicht
mehr so hoch und dann geht es darum, sich einzugestehen, dass man vielleicht jetzt nicht mehr so viel bräuchte und
das Geld vielleicht an anderer Stelle wichtiger wäre für die Entwicklung eines Landes. Nur, wer nimmt sich hier
schon zurück? Ich habe selten jemanden erlebt, der zu mir kam und sagte: Bullerjahn, ich verzichte drauf. Nach
Beschlüssen entsteht des Öfteren beim Betrachten des Ganzen der Eindruck, das wäre jetzt gar nicht nötig
gewesen, aber nun ist das Geld da und dann wird auch etwas damit gemacht. Ganz nebenbei: der Abbau von
15.000 Stellen bedeutet rd. 1 Mrd. € Einsparung im Haushalt.
Zweites Thema bei uns: wir hatten damals einen Haushalt von 10 Mrd. Volumen und 20 Mrd. Schulden - eigentlich
unmöglich. Woanders wäre schon längst der Insolvenzverwalter gekommen. Deswegen haben wir gesagt, wir
müssen die Schulden schnell senken. Daher haben wir umgeschichtet, natürlich mit vielen Diskussionen - auch
mit dem Rechnungshof. Heute kann ich sagen, dass wir seit einigen Jahren die Haushaltsjahre mit Überschüssen
abschließen.
Wir
haben einen Kreditmarktausschuss gebildet und das war interessant für uns Abgeordnete, weil wir alle
lernen mussten, mit Methoden eines privaten Sektors umzugehen. Es war unsere Chance, im Rahmen von Ge-
setzmäßigkeiten eine eigene Strategie zu entwickeln, die auch Erträge hervorruft. So auch beim neu geschaf-
fenen Pensionsfonds. Damit ich irgendwann einmal meinem Nachfolger sagen kann: Die Lasten für die Ausge-
schiedenen können wir komplett aus den Pensionslasten heraus bezahlen. Da ist es schon ein Unterschied, ob
ich mit 1 % bei der Bundesbank liege oder mich mit einer Rendite von 4 bis 8 % auf dem Kapitalmarkt bewege.
Wir
haben dann weitere sog. STARK-Programme entwickelt, d. h., wir haben angefangen, mit unserer För-
derbank Unterstützung für Kommunen vorzunehmen. Wir haben die Konsolidierungshilfen 2010 bekommen
und wir waren uns damals einig, dass wir sie nicht zu unserer Eigenkonsolidierung dem Haushalt zuführen. Wir
haben uns damals Gedanken gemacht und ein Entschuldungsprogramm für die Kommunen aufgelegt - das sog.
STARK II. Es ging um die Kernschulden und trotz größter Kritik haben wir es geschafft, seit 2006, die damals
3,9 Mrd. € Kernschulden bei den Kommunen mit unserer Unterstützung - das Ganze auf 2020 hingedacht - auf
unter 1 Mrd. € zu bringen. Mit der Botschaft: Ihr Kommunen müsst gemeinsam mit uns diesen Weg der Konso-
lidierung gehen.
Und wir haben dann für jede einzelne Kommune Sachsen-Anhalts Konsolidierungshilfen mit sog. Datenblättern
entwickelt. In diesen konnten wir - weil Transparenz wichtig ist - sehen, wie in jeder Kommune seit Jahren
gehaushaltet wird. Und auf einmal gab es einen ganz spannenden Prozess: Während vorher die gesamte kom-
munale Familie vor dem Landtag stand und sagte: wir bekommen alle zu wenig, wurde es jetzt sehr konkret.
Auf einmal hat sich die kommunale Familie auch untereinander auf die Zahlen geschaut und gefragt: Sag mal,
wieso kommst du mit dem Geld nicht hin? Und wenn man schon Transparenz will, muss man die ehrliche
Transparenz meinen. Die, die wirklich weh tut. Die sozusagen Möglichkeiten schafft, schwierige Entscheidun-
gen zu treffen.
Und nun sind die Kommunen zu fast 90 % mit der Investitionsbank Sachsen-Anhalt Verträge eingegangen und
haben über 10 Jahre diese Konsolidierungsschritte mit uns abgestimmt. Für mich war klar, wenn man das Land
Sachsen-Anhalt sanieren muss - und wir hatten es nötig - muss das auch für alle Ebenen gelten. Da können
sich nicht die einen hinstellen und sagen: das machen die anderen für mich und ich entziehe dem anderen nur
das Geld. Wir haben ein besonderes FAG, nicht eine Quote, sondern wir berechnen anhand von Aufgaben und

Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
| 21
Ausgaben der Kommunen den Zuschussbedarf. Das bedeutet, dass wir als Land - anders als bei der Quote -
wenn mehr eigene Steuern eingenommen werden, dem FAG Geld entziehen, weil wir dann davon ausgehen,
dass die Kommunen sich mehr selbst finanzieren können. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass bei geringeren
Steuereinnahmen das Land wieder drauf legt. Die Quote, wie ich sie ja noch kenne, funktionierte ja nach dem
Prinzip: ist mehr Geld da, haben alle mehr Geld, ist weniger Geld da, kriegen alle weniger Geld. Dieses Prinzip
führte dazu, dass die Kommunen nur noch einen Ausweg hatten: neue Schulden aufzunehmen.
Natürlich,
wenn die Kommunen jetzt, wie der Landeshaushalt auch, jahrelang nur Steueraufwuchs haben, ent-
ziehen sie dem FAG laufend Geld. Gedacht war das Ganze ursprünglich wie ein Zyklus, da sich gewöhnlich alle
3 bis 4 Jahre das Steueraufkommen ändert. Aber unser FAG unterliegt auch deshalb der ständigen Anpassung
- sicherlich auch bei der neuen Regierung.
Wir
haben zusätzlich ein Investitionsprogramm gemacht, um z. B. Schulen und Kitas mit EU-Mitteln zu sanie-
ren. Andere Länder müssen das jetzt aus Landesmitteln bestreiten. Das hieß für mich, ärmere Länder müssen
schauen, wie sie mit dem Geld anderer flinker sind. Denn die Drittmittel von Bund und EU wird es ja im Osten
2020 nicht mehr geben. Und insofern war für mich immer klar, wenn du zu einer Kommune gehst, wenn du ins
Parlament gehst, wenn du Nachhaltigkeit willst, dann musst du etwas anbieten. Du musst aber über Generati-
onen denken. Wir haben solche Investitionsentscheidungen einem Demografie-Check unterworfen: Ist diese
Schule in 10 bis 15 Jahren überhaupt noch da? Lohnt es sich, sie zu sanieren? Das war für mich Teil eines Ge-
samtkonzeptes - hier konsolidiere ich, hier baue ich ab, hier passe ich an, hier investiere ich. Um die Chance zu
geben, Kosten zu sparen, aber auch Renditen einzufahren, indem ich Bildung anbiete, indem ich Möglichkeiten
biete, auch durch Arbeit die Situation der Menschen zu verbessern.
Und wir haben dann im dritten Teil noch das Thema Rücklagen daneben gestellt. Das war etwas ganz Schwieri-
ges. Wir sind es gewohnt, wenn einmal mehr Geld da ist, es gleich wieder auszugeben. Als eine der ersten
Maßnahmen habe ich eine Rücklage entwickelt, eine sog. Steuerschwankungsreserve. Das heißt, dass wir nach
einem geregelten Verfahren dieser Schwankungsreserve Geld zuführen, wenn die Konjunktur gut läuft, oder in
Zeiten schwacher Konjunktur Geld entnehmen, um so die Einnahmen zu stabilisieren. Eine Konjunkturunab-
hängigkeit des Haushaltes, das war mein Ziel. Die Kolleginnen und Kollegen in Parlament und Kabinett verfü-
gen so über Eckwerte, die wir ihnen mehrjährig zusagen können, um ihre langfristigen politischen Entschei-
dungen zu treffen.
Dann
trafen wir uns mit den Rechnungshof, der aber die Auffassung vertrat, dass zuerst sämtliche Schulden
abgebaut werden müssten, bevor Rücklagen gebildet werden könnten. Das macht sich bei 20 Mrd. € Schulden
natürlich schwierig, weil Sachsen-Anhalt dann nie eine Rücklage haben wird. Aus meiner Sicht eine falsche
Diskussion.
Sie
haben ja gefragt, Prof. Dr. Binus, was man ändern muss? Das wäre für mich schon die Diskussion, wie man
einer solchen langfristig nachhaltigen Politik bei Prüfung, aber auch bei politischer Entscheidungsfähigkeit im
Parlament folgen will? Wir denken immer noch in Jahres- und Doppeljahresschritten. Sichere ich jetzt ab, was
die nächste Generation an Kosten verursacht? Das war für mich immer Anregung und Aufmunterung zur Dis-
kussion - in der Öffentlichkeit und im Parlament. Es ist eben nicht das Thema Bleistifte und es ist nicht die
kleine Titelgruppe, sondern die Frage: Was will eigentlich der Minister, die Ministerin am Ende des Weges poli-
tisch erreicht haben?
Ich habe derzeit 1 Mrd. € für den Pensionsfonds in den Büchern. Und meine nachfolgenden Kollegen machen
das hoffentlich weiter. Die Anerkennung wird jemand tragen, der im Jahr 2035 Finanzminister ist. Das ist für
mich Nachhaltigkeit.
Aber
bekommen wir die Deutschen dazu, eine solche Finanzpolitik zu unterstützen? Ich war in Norwegen. Dort
gibt es eine große aus Erdgaserlösen gebildete Generationsrücklage. Die größte Angst der 5 Mio. Norweger ist,
dass irgendjemand unkontrolliert dieses Geld nutzt. Sie haben eine eigene Grenze der jährlichen Entnahme
festgelegt - das Misstrauen gegen sich selbst ist immer noch das Beste. Diese Kultur gibt es bei uns noch nicht,
aber wir haben es trotzdem gemacht.
Wir haben auch strategische Ideen entwickelt, damit wir wegkommen von diesen tausenden von Titeln im
Landeshaushalt. Ich war deswegen in Österreich, wo man im Bundeshaushalt mit 80 Globalbudgets auskommt.
Aber die Grundsatzfrage bleibt: Was will ich eigentlich mit meiner Politik erreichen?

22 |
Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
Wie wird es jetzt in den nächsten Jahren beim Thema Entwicklung öffentlicher Haushalte weitergehen? Nach
den Projektionen des BMF ist in den nächsten Jahren von einer weiteren Entspannung in den Länderhaushalten
auszugehen. Manchmal habe ich wirklich den Eindruck, ich habe zur falschen Zeit den Job gehabt. Aber es ist
wie es ist. Von 2017 bis 2020 sollen Überschüsse in der Länderfamilie von insgesamt 1,5 bis 5 Mrd. € auftre-
ten, inklusive der Flüchtlingskosten, also das ist dann schon netto brutto gerechnet.
Nach Ergebnissen der monatlichen Kassenstatistik bis Juni 2016 erzielten die Länder in diesem Jahr einen
Haushaltsüberschuss von 3,9 Mrd. € - 3 Mrd. mehr als im vorigen Jahr. Wenn sich Finanzminister jetzt hinstel-
len und sagen, ich habe kein Geld, wird das nicht weit tragen. Man muss aber auch aufpassen: Die Ausgaben
erhöhten sich in diesem Zeitraum um 4,2 % - vor allem beim Personal. Die Einnahmen sind um 6,4 %, 8,3 %
gestiegen, davon Steuern. Heißt aber, wenn das nicht mehr kommt, sitzen wir auf den neuen Ausgaben. Und
für einige Länder wird es bei höheren Zinsen und schwächerer Konjunktur sofort wieder zu Diskussionen kom-
men, wie sie ihre Konsolidierung fortsetzen wollen, damit sie nicht gleich wieder in Schwierigkeiten geraten.
Deswegen stellt sich für die Finanzminister, aber nicht nur für die, schon die Frage: Was wird 2020 bei der
Schuldenbremse passieren? Wer wird sie einhalten? Das wird primär abhängig davon sein, was beim Kompro-
miss der Bund-Länder-Finanzbeziehung herauskommt. Und da wird es ein Ergebnis geben. Kein Ergebnis kann
sich eine Bundesregierung nicht erlauben. Jetzt streiten wir uns um 1 Mrd. € und ein bisschen um das Ego der
handelnden Personen.
Ich bin ja selber bei den Verhandlungen für die SPD mit dabei gewesen. Es war schon manchmal schwierig, was
wir uns da angetan haben. Aber wenn es jetzt zu einer Regelung käme, dass 2 Länder zusätzliche Schuldenhilfen
bekommen, ist das ein großer Erfolg. Wenn alle Länder, ob nun 8 oder 9 Mrd. € - auf welchem Weg auch immer -
zusätzliches Geld bekämen, wird das ab 2020 eine große Hilfe sein. Andere, die sowieso schon gut sind, werden
noch zusätzlich gestärkt. Da ist es richtig, sich in Sachsen, wo schon Überschüsse vorhanden sind, einmal zu
überlegen, was mit den zusätzlichen Mitteln ab 2020 gemacht werden kann. Kommt der Kompromiss, bedeutet
das für ein kleines Land wie Sachsen-Anhalt, ca. 400 Mio. € mehr. Bei Sachsen ist es entsprechend mehr. Und
dann muss man sich wirklich Gedanken machen, wie man diese Gelder nachhaltig für große Entscheidungen,
große Linien der Länder nutzt, während andere Länder damit konsolidiert sind.
Zweites Thema wird sein, wie die Pensionslasten auf die Haushalte wirken. Wenn endlich in die Gesamtbe-
trachtung die Pensionsbelastungen in die Haushaltseckwerte eingerechnet werden. Dann werden die großen
Gewinner von heute auch mit die Besorgten von morgen sein. Das sind z. B. Baden-Württemberg und Nord-
rhein-Westfalen.
Kommen wir am Schluss zur Rolle der Rechnungshöfe. In Ihren Eröffnungsworten zum ersten Symposium
5
haben Sie, Prof. Dr. Binus, Ihre Rolle eigentlich selbst schon beschrieben: Der Finanzkontrolle kommt die Auf-
gabe zu, durch einen ggf. erforderlichen Paradigmenwechsel, Politik zu begleiten. Sie haben schon früher an-
gemahnt, mit dafür zu sorgen, dass die Länderhaushalte endlich zu einer Struktur kommen, die alles abbildet,
die transparenter ist, die sämtliche Kosten ausweist.
Ein
Paradigmenwechsel der Prüfungsstrategie heißt aber auch, durch neue Schwerpunktsetzung frühzeitig
entscheidungserhebliche Informationen auf der Basis von empirischen Prüfungsergebnissen vorzulegen. Da
geht es nicht nur ums Prüfen. Es geht um das Begleiten, das Vorbereiten von Entscheidungen, die in der Politik
getroffen werden müssen. Wobei die Rolle der Rechnungshöfe für mich eben überhaupt nicht nur die der
Wächterfunktion bedeutet. Darüber habe ich mich immer gewundert, manchmal aufgeregt. Das wissen auch
die Präsidenten bei mir. Wirtschaftlichkeitsberechnung, Jahresbericht mit Kritik nach hinten, kleinteilige Prü-
fung mit medialer Begleitung, das ist in der heutigen Zeit wahrscheinlich wichtig und es gab nichts „Schöne-
res“ als die Pressekonferenz des Rechnungshofes. Da wusste ich schon immer, was ich abkriege, was man hätte
alles anders machen müssen.
Aber
langfristig nachhaltige Finanzpolitik braucht eben auch Partner für Finanzminister, die ebenfalls strategi-
sche Entscheidungen mitbewerten, unterstützen und das weit über die wiederkehrenden Haushaltsdiskussio-
nen, die oft sehr kleinteilig sind. Die Finanzminister, die sich diesen Diskussionen um Nachhaltigkeit auch unter
großem Druck noch stellen, werden rarer, weil der Zeitgeist ein anderer wird. Langfristige verbindliche Planun-
gen, beschlossen im Kabinett und Parlament, Haushaltsstruktur mit Eckwerten, Möglichkeit Reste zu bilden,
viele Haushaltstitel zusammenzufassen - das ist für mich die Diskussion, bei der auch die Rechnungshöfe bitte
mitziehen müssen. Wo man strategisch über Jahre denken kann. Diese Finanzpolitik öffnet Spielräume für das
Parlament und deswegen sind eigentlich Rechnungshöfe und Parlament die natürlichen Verbündeten des
5
Vgl. Prof. Dr. Karl Heinz Binus (2015): Finanzkontrolle in Sachsen, Band 6. 1. Symposium „Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft, S. 8.

Herausforderungen an eine nachhaltige Haushaltswirtschaft
| 23
Finanzministers. Die Wirklichkeit ist oft anders. Da wird sich dann mit den anderen Ministerien weniger
beschäftigt, als mit dem Finanzressort. Die Zeit für eine moderne Haushaltspolitik ist reif und in vielen Ländern
der Welt schon etabliert. Die Politik muss darauf achten, dass der Zeitgeist in Deutschland nicht wieder in
Richtung „mehr Geld ohne Strategie und Controlling“ abdriftet.
Die Lobbyisten und Teile der Medien verfolgen hier eine andere Zielstellung. Es darf nicht der Eindruck vermit-
telt werden, dass die schwarze Null ein Selbstzweck überzogener Finanzpolitik ist (so ein Schlagwort wird ja in
einem Panel ausführlich diskutiert). Wenn ich keine Schulden aufnehme, habe ich noch gar nicht gespart. Nur
in der öffentlichen Wahrnehmung ist es so, dass Schulden irgendwie zum Leben gehören. Moderne Finanzpoli-
tik ist für mich Grundlage nachhaltigen Handelns der Regierung und orientiert sich an strategischen Zielen
der Zukunft. Dieser internationale Ansatz einer langfristigen und nicht zu kleinteiligen Finanzpolitik sollte
auch in Deutschland endlich dauerhaft Einzug finden.
Es darf nicht dazu kommen, dass die Schuldenbremse aufgegeben wird, wenn durch die jetzigen politischen
Entscheidungen bei schwächerer Konjunktur und höheren Zinslasten keine Finanzierung der politischen Planungen
mehr möglich wird. Abschließend lässt sich sagen, dass nachhaltige Finanzpolitik aus meiner Sicht nur dann
möglich ist, wenn ein Grundvertrauen zwischen Parlament, Öffentlichkeit und Finanzpolitik und Medien besteht.
Dabei ist es an Ihnen allen, bei offenen Fragen, Risiken und manchem Fehlschlag in einer strategischen Finanz-
politik eine zielführende Gesprächs- und Konfliktkultur zu entwickeln, ohne immer gleich nach mehr Kontrolle
zu rufen. Vor diesem Hintergrund finde ich es sehr gut und sehr beachtlich, dass Sie heute auch über diese
Themen und über die neue Rolle von Rechnungshöfen in diesem Gesamtkonstrukt reden. Ich habe das so wo-
anders noch nicht erlebt!

Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
Barbara Ludwig, Oberbürgermeisterin der Stadt Chemnitz
Barbara Ludwig war von 1994 bis 2001 Mitglied im Sächsischen Landtag. Von 2001 bis 2004 leitete sie das
Dezernat für Soziales, Jugend und Familie, Gesundheit, Kultur und Sport der Stadt Chemnitz. Im November
2004 wurde sie zur Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen berufen. Seit Sep-
tember 2006 ist Barbara Ludwig Oberbürgermeisterin der Stadt Chemnitz.
Sehr geehrte Abgeordnete des Sächsischen Landtages,
sehr geehrter Herr Vizepräsident Wehner,
sehr geehrter Herr Professor Binus,
sehr geehrter Herr Professor Nolden,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Teilnehmer des Symposiums.
Es ist für mich eine Freude, hier vor Ihnen diesen Vortrag zur nachhaltigen kommunalen Haushaltswirtschaft in
einer sich veränderten Gesellschaft halten zu können. „Warum die Oberbürgermeisterin aus Chemnitz?“ werden
sich möglicherweise einige unter Ihnen fragen.
Weil Chemnitz für alle Sorgen zu diesem Thema steht?
Weil Sie über Chemnitz zu wenig wissen?
Weil Chemnitz am deutlichsten und exemplarisch das Thema abbildet?
Diese
Fragen können Sie sich vielleicht je nach Perspektive am Ende meines Vortrages beantworten.
Was können Sie von mir erwarten:
1. Chemnitz die Stadt des Wandels, Chemnitz – Karl-Marx-Stadt – Chemnitz. Ein Stadtprofil.
2.
Nachhaltige
Finanzpolitik, das beste Ziel und immer auch eine Frage der Definition.
3. Kommunale Unternehmen als Bestandteil nachhaltigen Wirtschaftens.
4. Mein Fazit und
5.
die
Kultur der nachhaltigen kommunalen Finanzwirtschaft – eine Vorausschau.
1. Das
Stadtprofil:
Chemnitz ist, wie Sie alle wissen, die drittgrößte Stadt in den neuen Bundesländern mit momentan ca.
247.000 Einwohnern. Seit 2011 wächst die Stadt wieder. Chemnitz wäre die größte Stadt des Landes, wenn sie
z. B. in Sachsen-Anhalt liegen würde. In Brandburg, in Thüringen, im Saarland, in Rheinland-Pfalz oder in
Schleswig-Holstein. 27 deutsche Städte sind größer als Chemnitz, alle anderen sind kleiner. Chemnitz ist eine
rd. 875 Jahre alte Stadt, die durch die Industrialisierung und die Gründung der königlichen Gewerbeschule
1836, der heutigen TU Chemnitz, zur Großstadt wurde.
Es
gibt kein wesentliches Hoch oder Tief der rd. 150-jährigen deutschen und sächsischen Industriegeschichte.
Nehmen wir als Hoch z. B. das Patentgesetz, geschrieben vom Oberbürgermeister der Stadt Chemnitz, Herrn
Dr. Wilhelm André zusammen mit Herrn Werner von Siemens 1877 und z. B. dem heutigen Exportverbot des
Maschinenbaus nach Russland durch die Ukraine-Krise, von der die Stadt, die Bürger, die Wirtschaft nicht
irgendwie unmittelbar oder mittelbar betroffen gewesen wären. Ständige Veränderungen, Transformation,
weltwirtschaftliche wie politische, haben die Stadt geprägt. Die Tugend der Chemnitzer damit umzugehen ist,
immer zu versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Die Bevölkerungswanderungen gestern, heute und
wohl auch zukünftig sind Wanderungen zur Arbeit, zu Chancen, zu Ressourcen, zur Bildung, zur Bindung, zu
Lebensqualität und zu Wohlstand.
1920
hatte Chemnitz das höchste Gewerbesteuereinkommen in ganz Deutschland. Es gab sehr viele Schornstei-
ne. Eine expressionistische Kunstszene. Sie wissen, dass Karl Schmitt-Rottluff oder Erich Heckel in Chemnitz zur
Schule gegangen sind. Die Geburtenentwicklung zeigt gewisse soziale Entwicklungen, die sich zugetragen haben.

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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz seit 1953 hieß, war das industrielle Zentrum der DDR. Ein Drittel der Industrie-
produktion fand im Bezirk Karl-Marx-Stadt statt.
Von
Karl-Marx-Stadt nach Chemnitz eine Erfolgsgeschichte:
75 % der Karl-Marx-Städter stimmen dafür, dass ihre Stadt wieder so heißt wie der Fluss, der durch diese
Stadt schon immer führt, also Chemnitz. Doch zunächst sahen die ersten Jahre nach der deutschen Wiederver-
einigung in der Industriestadt so aus: 75.000 Menschen haben Chemnitz verlassen.
Karl-Marx-Stadt
war auch Zentrum der Forschung und Entwicklung. Es gab viele Forschungseinrichtungen der
DDR, die sich in Karl-Marx-Stadt befanden. Im Freistaat Sachsen gibt es 9 Forschungseinrichtungen des Bundes und
des Landes zur Grundlagenforschung. Keine davon befindet sich in Chemnitz. Es gibt durch den Freistaat Sachsen in
den letzten 26 Jahren keine geförderte Großansiedlung in der Stadt, wie z. B. DHL, Porsche oder BMW. Als
einzige deutsche Großstadt hat Chemnitz keinen Fernbahnanschluss.
Als ich 2006 ins Amt gekommen bin, waren die ersten internationalen Journalisten deshalb in Chemnitz, weil
man festgestellt hatte, dass Chemnitz in Zukunft die älteste europäische Stadt werden wird. Das ist natürlich
nicht unbedingt etwas, was man sich aussuchen kann. Aber man muss erst mal die Dinge so annehmen, wie sie
kommen. Wäre das nicht eine Voraussetzung, sich haushaltwirtschaftlich gehen zu lassen? Sollen doch die
beiden anderen großen sächsischen Städte über das FAG Chemnitz mit durchbringen. Uns sozusagen in Ruhe
alt werden lassen.
Bei
der Geschichte von Chemnitz, und deshalb habe ich sie kurz angerissen, passiert das aber nicht. Es wurden
und werden neue Unternehmen gegründet. Die Tradition, Forschung und Entwicklung wurde aufgegriffen. Die
Technische Universität ist Zentrum der Renaissance des Maschinenbaus, der Realwirtschaft und es gibt
2 erfolgreiche Fraunhofer Institute. Chemnitz ist ein Insidertipp.
Der Chemnitzer und sein Auto – eine ganz wichtige Geschichte. Die Chemnitzer sind autoverrückt. Die Autounion
wurde in Chemnitz gegründet. Die 4 Ringe von Audi sind dort zusammen gekommen. Sehr viele Unternehmen
in Forschung und Entwicklung sind in der Automobilbranche tätig. Das ist zum einen das VW Motorenwerk.
Zum anderen beschäftigen sich die Unternehmen mit intelligenten Materialien, die in vielfacher Weise ressourcen-
effizient sind und das Thema autonomes Fahren bearbeiten.
2. Nachhaltige
kommunale Finanzpolitik – das beste Ziel immer wieder auch eine Frage der Definition
Ich kenne kaum einen Kollegen, der nicht die Freuden eines konsolidierten Haushaltes genießen könnte und
möchte. Schuldenfreiheit ist Hochgenuss. Ich kenne jedoch eine große Anzahl von Kollegen, vor allem außer-
halb von Sachsen, die mit einer über Jahre oder Jahrzehnte anhaltenden Haushaltsnotlage oder ohne geneh-
migten Haushalt ruhig schlafen und auch durchaus freudvoll arbeiten können. Und ich bin mir nicht sicher, ob
die Lebensqualität z. B. in Kaiserslautern soviel schlechter ist als in Dresden oder Chemnitz. Vielleicht liegt es
daran, dass dort mehr Wein wächst und in sehr schönen Wirtschaften ausgeschenkt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, als ich vor 10 Jahren Oberbürgermeisterin wurde, befand sich die
Stadt bereits auf dem Weg zur finanziellen und wirtschaftlichen Konsolidierung. Diesen Weg habe ich weiter
verfolgt mit dem Ziel des Ressourcengewinns durch Entschuldung, dem Erreichen der Stadtentwicklungsziele
und ohne weitere Privatisierung oder Verkäufe kommunalen Eigentums. Ziel war es dabei, ein wirtschaftliches
und wissenschaftliches, dynamisches und anziehendes Chemnitz zu machen; und die Bevölkerungsprognose
des Statistischen Landesamtes nicht eintreten zu lassen. Wäre sie eingetreten, hätten wir ungefähr noch
230.000 Einwohner. Es macht durchaus Sinn, sich auf einen Weg zu machen, auch wenn er nicht leicht ist. Den
Stadthaushalt in der richtigen, weitsichtigen Balance zu halten, ist dafür das wesentliche Instrument.
Eine
zukunftsfähige Stadt heißt in Chemnitz:
kulturelle und wissenschaftliche Innovation. Stadt der Moderne heißt im besten Sinne, für Entwicklungen offen sein.
Eine Generationengerechtigkeit mit der klaren Präferenz aus der Perspektive der jungen Stadtentwicklung zu sehen.
Lebensqualität.
Sozialer Zusammenhalt.
Heimat in einer globalisierten Welt.
Wer als Oberbürgermeister seine Stadt langfristig lenkt, der braucht Ziele, starke Nerven, muss „nein“ sagen
können, einen klugen Umgang mit Ressourcen, weil nicht sofort lange Früchte reifen und er muss „ja“ sagen
können, auch gegen Widerstände.

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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
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Eine der schwierigsten Situationen der vergangenen 10 Jahre hatten wir infolge der Finanz- und Bankenkrise
um 2011. Wie viele andere Städte auch. Die Verwaltung hat ein wirksames Konsolidierungskonzept entwickelt
und der Stadtrat hat es sogar beschlossen. Wir haben insgesamt 34,5 Mio. € wirksam eingespart. Gleichzeitig
haben wir weiter investiert und Schulden abgebaut.
Ab dem Jahr 2011 haben wir die Doppik eingeführt. Ohne Begeisterung. Aber wenn wir was machen, dann soll
es ja auch etwas bringen. Die Prüfung der Eröffnungsbilanz durch den Landesrechnungshof wurde 2015 abge-
schlossen. Die Stadt arbeitet im Zusammenhang mit den Jahresabschlüssen die Prüfungshinweise ab. Die
Haushaltstransparenz durch die Doppik ist ohne Frage größer geworden. Der Aufwand bis dahin war allerdings
enorm. Jetzt nähern wir uns Jahr für Jahr dem Ziel, den geprüften Jahresabschluss vor Einbringung des Haus-
haltes vorzulegen. Vielleicht können wir das 2019 mit dem übernächsten Doppelhaushalt schaffen.
Jetzt zeige ich Ihnen Zahlen:
Abbildung 1: Kommunale Schulden der Stadt Chemnitz
Das ist der Schuldenstand der Stadt Chemnitz in den vergangenen 12 Jahren. Das sind also ungefähr
130 Mio. € Schulden, die wir abgebaut haben.
Abbildung 2: Schulden pro Einwohner

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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
Mein Ziel bis 2020 ist es, die Verschuldung pro Einwohner in meinen beiden Amtszeiten halbiert zu haben. Je
mehr Einwohner wir haben, umso schneller geht das. Doch auch die Verwaltung arbeitet daran. So haben wir
für die Jahre 2017/2018 erstmals einen Haushalt aufgestellt, der eine Sondertilgung enthält.
Abbildung 3: Gewerbesteuerentwicklung der Stadt Chemnitz
Das ist die Gewerbesteuerentwicklung. Damit liegen wir ziemlich gut. Wir haben hier pro Kopf mehr Gewerbe-
steuer als Dresden und Leipzig. Ich glaube, inzwischen hat uns Leipzig, durch die besondere Entwicklung der
Stadt, überholt. Durch die bereits angesprochene Russlandkrise ist auch bei uns die Gewerbesteuer zurückge-
gangen. 2014/2015 gab es den Sondereffekt, dass durch viele Betriebsprüfungen Nachzahlungen entstanden
sind. Dies ist aber kein regelmäßiges Prozedere. Außerdem festigt sich der Eindruck, dass die Betriebsführung
auch immer wieder neue Strategien entwickelt, wie man z. B. investieren kann und dann damit auch weniger
Gewerbesteuer zahlt. Aber das pendelt sich nach ein paar Jahren ja wieder ein.
Abbildung 4: Einkommenssteuer der Stadt Chemnitz

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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
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Das ist die Einkommenssteuer. Die Steuereinnahmen sind enorm gestiegen. Damit hätte natürlich 2006 auch
keiner gerechnet, dass sich das in diesem Maß entwickelt.
Jetzt schauen wir mal das FAG an:
Ich hatte Ihnen vorhin gesagt, dass wir ein Konsolidierungsprogramm durchgeführt haben. 34 Mio. € in
3 Jahren haben wir eingespart. Wir haben in 2015 15 Mio. € weniger erhalten als 2010. Da kam dann der
Einbruch. Ich verwies darauf. Wir haben also mehr konsolidiert als wir weniger Geld bekommen haben. Was
haben wir gemacht? Natürlich vor allem Personal abgebaut. Die, die in Pension gegangen sind, haben wir nicht
ersetzt. Das sind die investiven Schlüsselzuweisungen. Das sieht auch nicht nach Kontinuität aus. Dazwischen
kommt das Konjunkturprogramm II. Wo wir dann auch gebaut haben.
Hier sehen Sie die Baumaßnahmen, da ist das mit drin. Zum Anstieg der Baumaßnahmen komme ich dann noch
bei meinem Ausblick.
Wir haben vor allem in Schulen und Kindertagesstätten investiert. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und
noch eine Lebensweisheit vortragen: „Große Fehler werden nicht gemacht, wenn man wenig Geld hat, sondern
wenn man viel hat.“ Einige von Ihnen wissen, wer das gesagt hat. Er war Ministerpräsident und ich durfte für
2 Jahre an seinem Kabinettstisch sitzen. Es ist ein Satz, den ich nie vergessen werde und regelmäßig meinen
Stadträten sage. Weil es ein kluger und richtiger Satz ist. Durch die Doppik haben wir mehr Transparenz und
schon 3 Jahresabschlüsse. Das ist das Ergebnis:
Abbildung 5: Entwicklung Jahresabschlüsse
Die Jahresabschlüsse sind ganz anders als wir sie geplant haben. Mit einer Abweichung von bis zu 120 Mio. €
hatten wir mehr Geld als geplant. Wo kommt diese positive Entwicklung her? Zum einen hat das mit der guten
Entwicklung städtischer Unternehmen zu tun. Wir haben durch die späte Feststellung der Eröffnungsbilanz und
die vorherige Prüfung des Rechnungsprüfungsamtes natürlich Fehler gemacht. Die konnten sukzessiv aufgear-
beitet werden. Wir haben positive Steuereinnahmen und eine solide Finanzpolitik.
Was uns erstaunt, ist, dass die Landesdirektion, die immer 3 Monate Zeit hat, den Haushalt zu prüfen, nicht
merkt, dass es eine derartige Abweichung gibt. Im Gegenteil: Für den Haushalt des Jahres 2012 haben wir
Auflagen bekommen und nochmals Konsolidierungsvorschläge machen müssen. Die Überarbeitung wurde
nochmal in den Stadtrat eingebracht und musste nochmal beschlossen werden. Das schafft natürlich gegen-
über den Stadträten nicht unbedingt Vertrauen.

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Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
Ich zeige Ihnen noch etwas:
Abbildung 5: Liquiditätsbestand in Mio. €
Das ist die Liquidität der Stadt Chemnitz. Auch daran kann man sehen, dass die Stadt solide wirtschaftet.
3. Kommunale Unternehmen als Bestandteil nachhaltigen Wirtschaftens
Ich möchte hier auf ganz wenige Unternehmen eingehen. Einige haben wir schon fusioniert. Bei den meisten
großen Unternehmen bin ich Aufsichtsratsvorsitzende. Dies gibt mir die Möglichkeit, die Ziele, die die Stadt
hat, über die Unternehmen mit zu verfolgen. Das ist ganz wesentlich für die Stadtentwicklung. Egal, ob es die
städtische Gebäudegesellschaft ist, die inzwischen Gewinn macht. Ob es natürlich unsere Wirtschaftsförderung
ist, ob es die Sparkasse ist oder unser Energieunternehmen – die Eins-Energie in Sachsen. Natürlich sind auch
Unternehmen dabei, bei denen es Höhen und Tiefen gibt. Wie z. B. das Theater. Aber gerade das Klinikum ist mit
7.000 Beschäftigten eines der größten Kliniken in Deutschland. Das sind alles wesentliche Entwicklungsinstrumente
in der Stadt. Deshalb ist es mir wichtig, das hier im Zusammenhang für die nachhaltig kommunale Finanzwirt-
schaft mit zu sagen. Ich weiß, dass es immer wieder Überlegungen gibt, warum Kommunen so was machen. Ja
auch das ist Daseinsvorsorge. Auch das ist am Ende nachhaltige Politik mit qualitativen Zielen der Stadtent-
wicklung, Regionalentwicklung oder auch der Entwicklung in unserem Land.
4. Mein Fazit:
1. In Sachsen gibt es mit dem FAG ein robustes starkes Instrument für eine nachhaltige kommunale Finanzpolitik.
Der Eingriff in das bewährte Ausgleichssystem, so wie es das erste Mal stattgefunden hat, ist aus meiner Sicht
das falsche Instrument, um andere Entwicklungen, die z. T. in Landkreisen stattfinden, zu finanzieren. Man
muss immer je nach Bedarf auch Sondersituationen finanzieren, aber nicht in das System eingreifen. Ich bin
fest davon überzeugt, dass das das Beste und das Richtige für die Entwicklung des Landes ist.
2. Eine strenge Rechtsaufsicht im Zuge der Haushaltsgenehmigung hat Vorteile und ist notwendig. Sie setzt
Stadträten und auch Oberbürgermeistern Grenzen. Wenn über Jahre immer wieder die gleichen Hinweise gege-
ben werden, wie z. B. bei der Kultur und beim Personal zu sparen und man nicht merkt, dass innerhalb von
3 Jahren eine Abweichung von rd. 240 Mio. € besteht, dann bringt eine Rechtsaufsicht wenig Vertrauen. Ich
wünsche mir, dass wir mit der Doppik eine Rechtsaufsicht haben, wo man auf Augenhöhe den Haushalt part-
nerschaftlich beurteilt und dann auch die Haushaltsgenehmigung entsprechend umsetzen kann.
3. Eine nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft ist nie ein Selbstläufer und auch kein Selbstzweck. Wenn
wir plötzlich hunderte Kinder mehr haben, wenn wir mehr Räume und Erzieher brauchen, dann brauchen wir
das. Und dann ist das wichtiger als ein Konsolidierungs- oder Entschuldungsziel. Wenn ein Theatergebäude
aufgrund des Brandschutzes plötzlich nicht mehr bespielbar ist, dann muss man das Theatergebäude aus meiner
Sicht sanieren. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und für unsere Demokratie ist das mehr als nur ein kon-
solidierter Haushalt.

Nachhaltige kommunale Haushaltswirtschaft in einer sich verändernden Gesellschaft
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5. Die Kultur der nachhaltigen kommunalen Finanzwirtschaft - eine Vorausschau
Die Kultur der nachhaltigen kommunalen Finanzwirtschaft ist, die Balance von konsolidierten Finanzen und
zielgerichteten Investitionen immer wieder neu zu finden. Chemnitz hat, ohne Frage, durch die überwiegend
richtige Strategie des Freistaates, eine solide finanzielle Basis. Auch mit Auslaufen des Solidarpaktes. Das ist
jedoch kein Anlass, sich zurücklehnen zu wollen oder auch zu können. Warum? Wir werden eine Entwicklung in
den Personalkosten haben, schon allein wegen der Tariferhöhung. Wir werden viel bauen und das Programm
„Brücken in die Zukunft“ gerne umsetzen. Wir haben Mitarbeiter im Stadtordnungsdienst eingesetzt. Wir bilden aus
und zwar jetzt. Beim letzten Ausbildungsstart habe ich 60 junge Menschen begrüßt. Es waren mal 15! Ein
schlimmes Bild. Wir wollen die Besten und wir müssen die Besten wollen, weil sie mit dem Geld der Bürger
umgehen, weil sie am Ende dafür Sorgen, dass dieser Staat gut funktioniert und die Menschen Vertrauen in die
Demokratie und in uns haben. Wir müssen die Besten haben und die müssen wir jetzt ausbilden. Nicht erst
dann, wenn unsere Mitarbeiter kurz vorm Gehen sind und wir in der Lage sind, fast jeden nehmen zu müssen.
Deshalb bilden wir aus und dafür nehmen wir wesentlich mehr Geld in die Hand. Ich bin fest davon überzeugt,
dass das auch eine nachhaltige Investition ist.
Wir werden weiter steigende Sozialaufwendungen haben. Diese Aufwendungen liegen nicht alleine in unserer
Hand. Sicherlich warten Sie schon lange auf das Thema Flüchtlinge. Jetzt kommt es: Natürlich spielt das ohne
Frage auch eine Rolle und wird uns noch längere Zeit beschäftigen. Das wird uns auch noch längere Zeit zu-
sätzliche Ressourcen kosten. Wir wissen nicht, wie sich die Lage entwickeln wird. Aber im Haushaltsbegleitge-
setz soll der Hebesatz auf 630 v. H. bei der Grundsteuer B gesetzt werden. Chemnitz hat diesen aber niedriger
angesetzt, da eine niedrigere Steuerkraft eingeschätzt wird, das kostet uns dann einfach mal 2 bis 3 Mio. €, die
wir dann weniger haben. Ich hoffe der Landtag trifft eine andere Entscheidung.
Auch das Thema Schulsozialarbeit ist mir wichtig. Wir haben also fast in jeder Schule Schulsozialarbeiter. Auch
aufgrund der Flüchtlinge, die in die Schulen gekommen sind. Das ist für mich nachhaltig. Nicht erst, wenn die
großen Probleme da sind, sondern bevor sie so richtig losgehen können.
Womit schließe ich jetzt den Kreis? Es gibt fast keine Veränderung, die uns nicht irgendwo auch trifft. Und es
gibt immer wieder Auswirkungen auf den Haushalt. Wer heute und morgen die Finanzwirtschaft einer Kommune
beurteilt, sollte, so ist es meine Meinung, sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Ziele zum Maßstab
nehmen. Da bin ich bei Jens Bullerjahn, ohne Frage: Denn allein nur die Zahlen und nur quantitative Parameter zu
nehmen, bildet die Entwicklungen in einer Stadt, in einem Land, nicht ab. Sondern es ist wichtig, dass man
weiß, wo man hin will. Wer kein Ziel hat, für den ist jeder Weg der Richtige. Wenn ich nein sagen kann, muss
ich wissen was ich will. Erst dann weiß ich auch, wann ich ja sagen kann. Das ist einfacher gesagt als getan.
Trotzdem glaube ich, dass ich Ihnen ein bisschen illustrieren konnte, dass es sich lohnt, nach Zielen zu arbeiten
und mein Nachsatz zum Schluss: Hans Carl von Carlowitz, sie ahnen es, der Erfinder der Nachhaltigkeit, ist in
Rabenstein bei Chemnitz geboren. Sein Taufstein befindet sich heute noch in der dortigen Kirche. Berühren Sie
ihn. Vielleicht macht es Ihnen Freude.
Schönen
Dank, dass Sie mir zugehört haben.

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Prof. Dr. Marcel Thum, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft an
der Technischen Universität Dresden, Leiter der Niederlassung Dresden des ifo Instituts für Wirt-
schaftsforschung
Prof. Dr. Marcel Thum studierte, promovierte und habilitierte im Bereich Volkswirtschaftslehre und Finanz-
wissenschaft an der Universität München. Seit 2001 ist er Professor für Finanzwissenschaft an der Techni-
schen Universität Dresden und seit 2004 Leiter der Niederlassung Dresden des ifo Instituts für Wirtschafts-
forschung.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Landtag, beim Rechnungshof und bei der Hochschule Meißen für die Ge-
legenheit, mit Ihnen über die Herausforderungen und die Anpassungserfordernisse zu sprechen, die sich für die
öffentliche Hand aus dem demografischen Wandel ergeben. Das Thema insgesamt ist natürlich zu umfangreich,
um in den 30 Minuten, die mir zur Verfügung stehen, wirklich umfassend abgehandelt zu werden. Ich will mich
daher auf einige zentrale Dimensionen des demografischen Wandels und die sich daraus ergebenden Hand-
lungsbedarfe konzentrieren.
In der öffentlichen Diskussion liegt der Fokus meist auf dem Bevölkerungsrückgang, aber es gibt einige weitere
wichtige Dimensionen des demografischen Wandels. Ich werde Ihnen im Folgenden einige Daten zu 5 zentralen
Dimensionen des demografischen Wandels zeigen und erläutern, wieso die öffentliche Hand hier vor Anpas-
sungserfordernissen steht. Ich möchte Sie auch dazu auffordern, darüber nachzudenken, inwiefern die ver-
schiedenen Dimensionen des demografischen Wandels in Ihrem eigenen Arbeitsbereich in Zukunft Anpassungs-
erfordernisse hervorbringen werden.
Bevölkerungswachstum
Lassen Sie mich mit der Dimension des Bevölkerungswachstums beginnen. Abbildung 1 stellt die Bevölkerungs-
entwicklung ab dem Jahr 1991 dar, wobei 2014 als einheitliches Basisjahr gewählt wurde. Die grüne Kurve für
Sachsen zeigt einen relativ kontinuierlichen Rückgang bei der Gesamtbevölkerung. Auch wenn die Schrump-
fung am aktuellen Rand – u. a. bedingt durch die Zuwanderung nach Deutschland – temporär aufgehalten ist,
wird sich ein weiterer Bevölkerungsrückgang in der langen Frist nicht vermeiden lassen. Die rote Kurve zeigt
für die alten Bundesländer in den letzten 25 Jahren eine relative stabile Bevölkerungszahl, wobei auch hier in
Abhängigkeit von der Zuwanderung langfristig ein Bevölkerungsrückgang eintreten wird.
Quellen: Statistisches Bundesamt; Statistisches Landesamt Sachsen
Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Nicht für alle Anpassungserfordernisse ist unbedingt die Gesamtbevölkerung relevant. Gerade für Fragen des
Arbeitsmarktes liegt der Fokus vielmehr auf den Personen im erwerbsfähigen Alter, z. B. der Bevölkerung zwischen
15 und 65 Jahren. An der grünen, gepunkteten Linie in Abbildung 1 sieht man sehr deutlich, dass der Rückgang
der Erwerbsbevölkerung in Sachsen erst Ende der Neunzigerjahre beginnt, dafür aber umso schneller verläuft
und auch am aktuellen Rand anhält. In den alten Ländern wird die Abnahme der Erwerbsbevölkerung erst in
der Zukunft einsetzen. Was die Anpassungserfordernisse am Arbeitsmarkt betrifft, sind Sachsen und die übri-
gen neuen Länder Vorreiter.
In
der öffentlichen Diskussion wird der Bevölkerungsrückgang gerne mit der Abwanderung aus den neuen Län-
dern gleichgesetzt. Selbstverständlich gab es insbesondere unmittelbar nach dem Fall der Mauer eine starke
Abwanderung aus Sachsen, aber der dominierende Effekt beim Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschland war
und ist die sog. natürliche Bevölkerungsbewegung. Abbildung 2 stellt die natürliche Bevölkerungsbewegung
dem Wanderungssaldo gegenüber. Die roten Balken zeigen die Bevölkerungsänderung, die sich aus der Diffe-
renz von Geburten und Todesfällen ergibt, während die grünen Balken die Nettozuwanderung zeigen. Obwohl
die Wanderungsszenarien der statistischen Ämter auch in den nächsten Jahren eine Nettozuwanderung aus
dem Ausland unterstellen, wird diese Zuwanderung aller Voraussicht nach niemals ausreichen, um die natürli-
che Bevölkerungsbewegung auszugleichen.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Welche
Implikationen hat die Bevölkerungsentwicklung für die öffentlichen Haushalte? Angesichts der aktuell
sprudelnden Steuereinnahmen geraten die strukturellen Effekte gerne in den Hintergrund. Aber gerade für die
Landeseinnahmen wird die Demografie langfristig einen erheblichen Einfluss haben. Denn im Wesentlichen
hängen die Landeseinnahmen an der Einwohnerzahl. In den neuen Ländern spielen darüber hinaus die sinken-
den West-Ost-Transfers, die kontinuierlich zurückgehen und im Jahr 2020 vollständig auslaufen werden, eine
zentrale Rolle. Abbildung 3 zeigt in einer Projektionsrechnung die realen Einnahmen für den Freistaat Sachsen
bis 2030. Bedingt durch die Bevölkerungsabnahme und die auslaufenden Transfers gehen in den nächsten Jah-
ren die realen Einnahmen zurück und erst ab dem Jahr 2025 ergibt sich wieder eine leichte Steigerung, weil
dann die Wachstumseffekte den negativen Demografieeffekt dominieren (grüne Kurve). Bis zum Jahr 2030
dürften nach dieser Projektionsrechnung die gesamten realen Einnahmen um ungefähr 5 % zurückgehen. Für
die Qualität der öffentlichen Leistungen kommt es allerdings weniger auf die absolute Höhe der Einnahmen,
sondern vielmehr auf die Pro-Kopf-Einnahmen an. Nach der Projektionsrechnung hat der Freistaat Sachsen im
Jahr 2030 real ungefähr genauso viel pro Einwohner zur Verfügung wie aktuell (rote Kurve). Zwischendurch
müssen wir aber mit einem erheblichen realen Rückgang rechnen (ca. -7 % in 2021 gegenüber 2016). Hin-
sichtlich der Anpassungserfordernisse der öffentlichen Hand bedeutet das, dass wir erstens diesen temporären
Rückgang bewältigen und zweitens unsere Strukturen an die geringere Einwohnerzahl effizient anpassen müs-
sen. Diese Anpassung geschieht nicht von alleine, sondern erfordert harte und manchmal auch unpopuläre
politische Entscheidungen.
Abbildung 2: Natürliche Bevölkerungsbewegung und Wanderungssaldo

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
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Quelle: ifo Dresden
Wenn von Anpassungsmaßnahmen an die veränderte demografische Situation die Rede ist, wird fast schon
reflexartig von Kahlschlag oder Kaputtsparen gesprochen. Allerdings liegen die Einnahmen, die pro Einwohner
inklusive der Gemeindesteuern in den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen, immer noch deutlich vor
den Vergleichszahlen in den finanzschwachen West-Flächenländern. Auf Dauer konvergiert die Finanzsituation
in den neuen Ländern gegen das Niveau der finanzschwachen West-Flächenländer. Wie von Herrn Bullerjahn
bereits angesprochen, kann die Lösung nicht darin bestehen, in überhöhte Verschuldung zu gehen, was im
Übrigen auch die Schuldenbremse verhindert. Eine Lösung der demografischen Herausforderungen über die
Einnahmenseite steht allenfalls dem Bund und z. T. den Kommunen zur Verfügung. Auf Landesebene gibt es
hier nur sehr begrenzte Spielräume, da die Länder lediglich bei der Grunderwerbsteuer überhaupt über eine
Steuersatzautonomie verfügen. Weil die Anpassung weder über die Schulden noch über die Einnahmen erfol-
gen kann, bleibt eben nur die Ausgabenseite für die Anpassungen übrig. Nach obiger Projektionsrechnung be-
steht die Herausforderung darin, die realen Gesamtausgaben in Sachsen bis 2030 um ungefähr 5 % zurückzu-
führen.
Altersstruktur
Lassen Sie mich nun über die zweite wichtige Dimension, die Altersstruktur, sprechen. Abbildung 4 stellt die
absolute Zahl der älteren Bevölkerung dar, hier der Bevölkerung im Alter ab 60 Jahren. In Gesamtdeutschland
hatten wir im Jahr 1950 ca. 10 Mio. Menschen, die in dieser Alterskategorie waren. Demnächst überschreiten
wir hier die Schwelle von 25 Mio.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Abbildung 3: Projektionsrechnung der Einnahmen des Freistaates Sachsen
Abbildung 4: Bevölkerung im Alter 60+ in Deutschland

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Für manche Fragen ist es sinnvoll, die Veränderung der Altersstruktur über Relationen zu erfassen. Das Bundes-
institut für Bevölkerungsforschung liefert eine lange Zeitreihe der Jugend- und Altenquotienten. Abbildung 5
zeigt den Altenquotienten, also die Relation der Bevölkerung ab 65 Jahren relativ zur Bevölkerung zwischen 20
und 65, für Deutschland von 1871 bis 2060. Im Jahr 1871 betrug die Relation 10:1, d. h. 10 Leute im erwerbs-
fähigen Alter kamen auf eine Person im Alter von 65 Jahren und mehr. Momentan beträgt diese Relation 3:1, d. h.
3 Leute im erwerbsfähigen Alter müssen eine Person im Rentenalter versorgen. Und wie Sie an der roten ge-
punkteten Linie sehen, sinkt diese Relation bis zum Jahr 2050 unter 2:1.
Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Welche Folgen hat die Verschiebung der Altersstruktur für die öffentliche Hand? Zum einen brauchen wir bei
einer älter werdenden Bevölkerung mehr Pflegeinfrastruktur. Hier kommt es also auf die absolute Zahl von
älteren Menschen an. Schätzungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen, wie viele Pflegebe-
dürftige wir in Deutschland in der Vergangenheit hatten und in Zukunft voraussichtlich haben werden (Abbil-
dung 6). Aktuell sind in Deutschland ungefähr 2,5 Mio. Menschen pflegebedürftig; diese Zahl wird alle
15 Jahre um ungefähr eine dreiviertel Mio. Personen ansteigen. Nun braucht man nicht für jede dieser Perso-
nen einen Pflegeplatz in einem Pflegeheim; aber diese Zahlen geben uns zumindest einen Anhaltspunkt, mit
welcher Geschwindigkeit die Infrastrukturen in der Pflege ausgebaut werden müssen.
Abbildung 5: Jugend-, Alten- und Gesamtquotient in Deutschland, 1871 bis 2060

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
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Quellen: Statistisches Bundesamt; Berechnungen: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Neben dem Ausbau der Infrastruktur ist auch die Finanzierung einer alternden Gesellschaft, insbesondere des
Rentensystems, eine große Herausforderung für die Politik. Dabei kommt es im Wesentlichen auf die Relation
von Beitragszahlern zu Rentenempfängern an. Abbildung 7 zeigt eine Projektionsrechnung aus einem neuen
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). An der
linken Skala ist der prognostizierte Beitragssatz abgetragen, der momentan 18,7 % beträgt (blaue Kurve). Nach
dieser Projektionsrechnung durchbricht der Beitragssatz im Jahr 2030 die als kritisch angesehene Grenze von
22 % und steigt auf fast 24 %. Auf der rechten Skala (rote Kurve) ist das Versorgungsniveau der Rentner, das
sog. Nettorentenniveau vor Steuern, abgetragen; das ist das Rentenniveau des Eckrentners, der 45 Jahre den
Durchschnittslohn verdient und in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat, in Relation zum Brutto-
lohn eines durchschnittlichen Beschäftigten. Das Rentenniveau sinkt von aktuell 49 % auf 42 %. Ungefähr um
das Jahr 2035 wird die als kritisch angesehene Grenze von 43 % unterschritten. Hier steht die Politik vor einem
Dilemma. Wenn man versucht, das Niveau von 43 % zu halten, müssten die Beitragssätze steigen. Deckelt man
die Beitragssätze, geht dies zulasten des Rentenniveaus. Der Wissenschaftliche Beirat weist daher zu Recht
darauf hin, dass der einzige Ausweg darin besteht, die Lebensarbeit zu verlängern, um sowohl ein Explodieren
der Beitragssätze, als auch ein Absinken des Rentenniveaus zu verhindern.
Quelle: Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2016)
Abbildung 6: Anzahl von Pflegebedürftigen in Deutschland
Abbildung 7: Beitragssatz und Sicherungsniveau in der Gesetzlichen Rentenversicherung

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Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Regionalisierung
Die dritte Dimension des demografischen Wandels ist die Regionalisierung. Wir beobachten ein Bevölkerungs-
wachstum in den großen Städten und zugleich einen Rückgang bei der Bevölkerung in kleinen Städten, Dörfern
und auf dem Land. Abbildung 8 zeigt für Deutschland die Bevölkerungsentwicklung innerhalb der 3 Jahre 2011
bis 2013 auf der Gemeindeebene. Durch die hohe räumliche Auflösung wird deutlich, dass erstens der Bevölke-
rungsrückgang in Ostdeutschland regional durchaus differenziert ist und dass es zweitens diese regionale
Differenzierungen auch in Westdeutschland gibt. Wenn man bspw. auf die hessischen Gemeinden blickt, so
gibt es auch dort ländliche Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang und mit Leerständen in den Immobilien.
Vieles von dem, was in den letzten 10 bis 15 Jahren für Ostdeutschland diskutiert und unternommen wurde, wird in
den nächsten Jahren auch verstärkt in einigen westdeutschen Regionen eine Rolle spielen.
Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
An Rückbauprojekten wie in Zwickau Eckersbach lässt sich gut beobachten, wie aus einer dicht bebauten Platten-
siedlung eine moderne Wohngegend mit vielen Grünflächen entsteht. Solche Rückbaumaßnahmen haben wir in
den letzten 10 bis 15 Jahren in vielen Regionen Ostdeutschlands erfolgreich durchgeführt. Nun stellt sich die
Frage, ob diese Anpassungsmaßnahmen auch weiterhin funktionieren. Ohne weiteren Rückbau wird es nicht
abgehen, da sonst die Infrastrukturkosten in den Gemeinden mit schrumpfender Bevölkerung zu explodieren
drohen. Allerdings wird in den nächsten Jahren der klassische Rückbau wie in dem Zwickauer Beispiel an seine
Grenzen kommen. Denn bisher wurden primär relativ große Plattenbausiedlungen zurückgebaut, in denen alle
Gebäude einen einzigen Eigentümer hatten. So konnte bspw. eine Wohnungsgenossenschaft mit Fördermitteln
durchaus angeregt werden, Teile ihrer Plattenbausiedlungen abzureißen, weil sie dann mit dem verbleibenden
Gebäudebestand ein einigermaßen attraktives Wohngebiet herstellen konnte. In Zukunft werden wir diese Leer-
stände aber immer mehr in eher ländlichen Räumen sehen, wo Einfamilienhäuser den Immobilienbestand dominie-
ren. Mit Fördermitteln lässt sich hier relativ wenig machen. Wenn Sie ein Haus im ländlichen Raum besitzen
Abbildung 8: Bevölkerungsentwicklung 2011 bis 2013

image
Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
| 39
und der Staat bietet Ihnen moderate Fördermittel an, werden sie kaum bereit sein, Ihr Haus abzureißen, nur
damit Ihr Nachbar ein attraktives Wohnumfeld hat. Was bei großen Strukturen funktioniert, funktioniert eben
nicht in Einfamilienhaussiedlungen. Wir müssen daher in Zukunft verstärkt darüber nachdenken, wie wir die Anpas-
sung im Immobilienbestand auch in ländlichen Regionen organisieren können, wie wir trotz der abnehmenden
Bevölkerung ein attraktives Wohnumfeld gestalten können, damit keine Abwärtsspirale aus Leerstand und
Wegzug entsteht.
Singularisierung
Eine vierte Dimension des demografischen Wandels besteht in der Singularisierung, also der Veränderung der
Haushaltsstruktur. Abbildung 9 zeigt die Verteilung der Haushaltsgrößen in Ost- und Westdeutschland. Die
größte Gruppe stellen die 1-Personen-Haushalte dar, und diese Gruppe wächst auch über die Zeit hinweg.
Gleichzeitig nehmen die größeren Haushalte anteilsmäßig ab. Das hat übrigens kaum etwas mit Fertilität zu
tun, sondern primär mit der Alterung der Gesellschaft. Wenn aus einem 4-Personen-Haushalt die beiden Kinder
altersbedingt ausziehen, verschwindet aus der Statistik ein 4-Personen-Haushalt und ein 2-Personen-Haushalt
entsteht neu.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Ein Handlungsbedarf für die öffentliche Hand ergibt sich bei der Singularisierung u. a. im Immobiliensektor.
Wie wollen wir in der Gesellschaft mit den veränderten Wohnbedarfen einer alternden Gesellschaft umgehen?
Wir sehen typischerweise, dass die Flächeninanspruchnahme von Wohnraum im Alter ansteigt – nicht weil die
Menschen in größere Wohnungen ziehen, sondern weil zuerst die Kinder ausziehen, später vielleicht der Part-
ner stirbt, die Menschen aber in ihrer angestammten Wohnung bleiben. Ein Leben lang in derselben Wohnung
zu bleiben, kann für den Einzelnen und für die Gesellschaft optimal sein, muss es aber nicht. Vielleicht würde
manche ältere Person in Deutschland gerne in eine passende, kleinere Wohnung ziehen. Bei regulierten Mieten
würde sich diese Person aber vielleicht schlechter stellen, wenn sie aus einer Wohnung, in der sie 20 oder 30
Jahre gewohnt hat, auszieht und eine neue Wohnung anmietet. Hier gibt es möglicherweise Umzugshürden,
die von der Politik selbst erst geschaffen wurden.
Des Weiteren berührt die Veränderung der Haushaltsstruktur auch Fragen der Arbeitswelt. Je mehr Alleinerzie-
hende wir in Deutschland haben und je mehr Menschen ihre Angehörigen pflegen müssen, desto größer ist der
Bedarf an flexiblen Arbeitszeiten. Abbildung 10 zeigt die tatsächliche Arbeitszeit und die Arbeitszeitwünsche
der Arbeitnehmer in Deutschland. Die roten Balken zeigen die tatsächliche Wochenarbeitszeit, die grünen Bal-
ken die gewünschten Arbeitszeiten – getrennt für Männern und Frauen. Arbeitnehmer, die Vollzeit tätig sind,
würden tendenziell gerne ein bisschen weniger arbeiten. Umgekehrt sind zumindest die Frauen in Teilzeitbe-
schäftigung im Durchschnitt mit diesen Arbeitszeiten zufrieden, Männer würden tendenziell gern ein bisschen
mehr arbeiten. Möglicherweise gibt es hier Spielräume für politisch induzierte Verbesserungen im Arbeits-
markt. Wenn es uns gelingt, die Aufteilung der Arbeit sowohl innerhalb der Woche als auch über die Wochen
hinweg flexibler gestalten, fällt es den Menschen auch leichter, sich um ihre Kinder oder pflegebedürftigen
Angehörigen zu kümmern.
Abbildung 9: Haushaltsgröße

image
40 |
Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
Heterogenisierung
Die fünfte und letzte Dimension des demografischen Wandels ist die Heterogenisierung, womit die zunehmend
heterogenere Zusammensetzung der Gesellschaft gemeint ist. Abbildung 11 stammt aus einer Studie der Dresdner
Niederlassung des ifo Instituts für die Friedrich-Ebert-Stiftung und zeigt in einer Projektionsrechnung, wie sich
die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland zahlenmäßig voraussichtlich entwickeln wird.
Personen mit Migrationshintergrund sind grob gesprochen Zuwanderer der ersten und zweiten Generation.
Aktuell haben wir in Deutschland ungefähr 16 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund, also ein Sechstel der
Bevölkerung. An der unteren grau gestrichelten Linie sieht man, wie sich die Anzahl der Personen mit Migrations-
hintergrund in Deutschland entwickeln würde, wenn ab sofort keine neuen Zuwanderer mehr ins Land kämen.
Auch in diesem Fall würde sich der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland noch auf
ungefähr 20 % erhöhen, da sich der Migrationsstatus noch auf die künftigen Kinder der in den letzten Jahren
zugewanderten Personen übertragen würde. Bei einer plausiblen Nettozuwanderung von langfristig 100.000
(Variante W1) oder 200.000 Menschen (Variante W2) pro Jahr würde der Anteil der Bevölkerung mit Migrations-
hintergrund auf 25 bzw. 30 % der Bevölkerung ansteigen (schwarze bzw. grüne Linie). Alleine was die Zahl der
Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland betrifft, ist und wird Deutschland bunter.
Quelle: ifo Dresden, Friedrich-Ebert-Stiftung
10
12
14
16
18
20
22
24
26
2005
2010
2015
2020
2025
2030
Personen in Mio.
Variante W1
Variante W2
Wanderungssaldo Null
Abbildung 10: Gewünschte und tatsächliche Arbeitszeit
Abbildung 11: Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland

image
Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
| 41
Man kann die Heterogenität aber auch an den Herkunftsländern der ausländischen Bevölkerung festmachen
(Abbildung 12). Wenn man 1989 die 3 größten ausländischen Bevölkerungsgruppen in Bayern zusammennahm
– das waren die Menschen aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien und aus Italien –, hatte man schon mehr als
50 % der ausländischen Bevölkerung im Bayern erfasst. Im Jahr 2014 musste man schon die Bevölkerung aus
den 6 größten Herkunftsländer zusammenzählen, um in Bayern 50 % der ausländischen Bevölkerung zu erfas-
sen. Wir beobachten in Deutschland also nicht nur eine zunehmende Zahl von Menschen mit Migrationshinter-
grund, sondern auch die Herkunftsregionen dieser Bevölkerung werden vielfältiger.
Was sind die Implikationen für den öffentlichen Sektor? Einerseits kann die Heterogenisierung ein Nachteil
sein, weil im Vergleich zur klassischen Gastarbeitergesellschaft nicht mehr klar ist, wie man die Bevölkerungs-
gruppen ansprechen kann. Früher gab es in einer Region mit vielen türkischen Gastarbeitern typischerweise das
türkische Kulturzentrum oder ähnliche Einrichtungen, über die man die ausländische Bevölkerung vor Ort gut
erreichen konnte. Je heterogener die Gesellschaft ist, desto schwieriger ist eine solche Ansprache. Andererseits
bedeutet eine größere Heterogenität auch, dass es nicht die eine Gastarbeiterkultur gibt; der einende Faktor ist
dann nicht mehr das Herkunftsland, sondern eher der Aufenthalt in Deutschland.
Herausforderungen aus der Heterogenisierung ergeben sich insbesondere im Bildungssystem. Ein Teil der beim
PISA-Test gemessenen Unterschiede in den Kompetenzen rührt auch daher, dass sich Jugendliche je nach Her-
kunftsregion unterschiedlich gut in das deutsche Bildungssystem integrieren lassen. Eine aktuell besonders
wichtige Frage betrifft die Integration der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt. In der Öffentlichkeit wird
im Zusammenhang mit der Flüchtlingsmigration viel über die
de iure Qualifikation der Flüchtlinge gesprochen,
d. h. welchen Schul- oder Berufsabschluss sie erzielt haben. Für die Frage der Integration in den deutschen
Arbeitsmarkt ist aber die
de facto Qualifikation viel wichtiger. Leider liegen bislang nur wenige Informationen
darüber vor. Der Stanford Ökonom Eric Hanushek und mein Münchner ifo-Kollege Ludger Wössmann haben
international vergleichbare Schultests ausgewertet und errechnet, welcher Anteil der 16-Jährigen in verschie-
denen Ländern nicht über die grundlegenden Fähigkeiten verfügt, einfache Texte zu verstehen und einfache
Rechnungen durchzuführen. An den Balken in Abbildung 13 sehen Sie, dass dieser Anteil in Deutschland er-
schreckende 16 % beträgt. Gerade in den Flüchtlingsherkunftsländern liegen diese Quoten aber noch viel hö-
her, z. T. bei über 50 %. Nun wissen wir natürlich nicht genau, ob die Gesamtbevölkerung der Herkunftsländer
bez. der Qualifikationen der Flüchtlinge repräsentativ ist. Die Zahlen legen aber nahe, dass es eine große Lücke
zwischen dem formalen Schulabschluss und den
de facto Qualifikationen gibt. Dieser Befund passt auch zu den
sehr hohen Abbrecherquoten von Flüchtlingen in der deutschen dualen Berufsausbildung.
Abbildung 12: Ausländische Bevölkerung
Die größten Einwanderergruppen, die 50 % der ausländischen Bevölkerung abdecken. (Ex-Jug. = Jugoslawien bis 1992)
Quelle: Statistisches Bundesamt, ifo Dresden

image
42 |
Demografischer Wandel: Anpassungserfordernisse für die öffentliche Hand
Quelle: Hanushek & Wössmann (2015)
Angesichts der Qualifikationslücke zeichnet sich ab, dass einfache Lösungen wie kurzfristige Praktika keine
nachhaltige Integration in den deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen werden. Die Integration der Flüchtlinge in
den Arbeitsmarkt wird vielmehr eine Herausforderung für viele Jahre und erfordert dauerhafte Maßnahmen. Da
wir mit dem Mindestlohn gerade eine Untergrenze bei den Stundenlöhnen eingezogen haben, kann der Lohn
für die unteren Qualifikationsstufen nicht weiter absinken. Daher besteht voraussichtlich die einzige Möglich-
keit, einer langfristigen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, darin, Lohnzuschüsse für Geringqualifizierte zu
zahlen. Ob die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt Erfolg hat, wird nicht zuletzt davon abhängen,
ob die deutsche Politik hier einen langen Atem beweist und bereit ist, langfristig wirkende Maßnahmen zu
ergreifen.
Abbildung 13: De facto Qualifikation

| 43
Panel 1
Nachhaltige Haushaltspolitik für den
Freistaat Sachsen – Spannungsfeld zwischen
Konsolidierung und Wachstum

Panel 1: Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
| 45
Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
Dirk Panter MdL, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag
Dirk Panter studierte Verwaltungswissenschaften in Leipzig, Paris und Utrecht. Von 2000 bis 2006 war er als
Analyst und Associate bei JP Morgan Chase in London, New York & Frankfurt am Main tätig. Seit 2009 ist er
Abgeordneter des Sächsischen Landtags und seit 2014 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Für
diese ist er Sprecher für Haushalt und Finanzen sowie Medienpolitik.
Lieber Professor Binus,
sehr
geehrte Damen und Herren,
ich bin sehr dankbar gewesen für das Impulsreferat zum Thema „Wo sind die Grenzen der Konsolidierung“. Für einen
guten Haushälter gibt es keine Grenzen der Konsolidierung. Ich nehme an, in mindestens 14 Bundesländern gibt es
sehr große Konsolidierungsmöglichkeiten. Vielleicht nicht in Bayern, vielleicht auch nicht in Sachsen. Ich glaube es
lohnt sich, die sächsischen Verhältnisse etwas näher zu betrachten. Deshalb würde ich gerne darauf eingehen
und einige Eckdaten anbringen. Vielleicht vorab zur Definition, was Konsolidierung ist. Ich habe im Wirt-
schaftslexikon nachgeschaut: Konsolidierung wird als finanzpolitische Maßnahme zur Begrenzung bzw. Rück-
führung von öffentlichen Defiziten definiert. Das ist dann eine Beseitigung oder Verringerung von strukturellen
Defiziten, die Umstrukturierung von Ausgaben oder die Verringerung von Gesamtausgaben etc. Da stellt sich
natürlich die Frage, wie sieht es in Sachsen aus, welche Notwendigkeit gibt es?
Hier möchte ich auf einige Indikatoren eingehen. Zur Illustration habe ich ein paar Folien mitgebracht, nicht
allzu viele, aber wenn wir uns die wichtigsten Indikatoren für die Einnahme- und Ausgabestruktur eines Haus-
haltes anschauen, dann sind natürlich die Zins- und Versorgungsausgaben ein ganz wichtiger Punkt für die
langfristige Haushaltsstruktur.
Wenn
wir uns die Situation deutschlandweit betrachten, dann sehen wir Sachsen auf dieser Folie ganz rechts
- nur das Bundesland Bayern hat ähnlich niedrige Zinsausgaben. Andere Länder haben da erhebliche Probleme,
das Saarland z. B. sticht ganz groß heraus. Würden wir auf die Versorgungsausgaben schauen - die Folie habe
ich jetzt nicht mitgebracht - sehe das ganz genauso aus bzw. der Abstand wäre sogar noch höher, da die
Beamtenquote in Sachsen sehr gering ist, die geringste aller Bundesländer. Insofern kann man schon konstatieren:
Hinsichtlich des Zins- und Versorgungsausgabenniveaus steht Sachsen gut da. Wenn wir uns zum zweiten die
Personalsituation anschauen, können wir konstatieren, dass Sachsen ungefähr im Schnitt der Bundesländer
liegt. Es gibt Bereiche, in denen Sachsen mehr Personal vorhält, in Hochschulen z. B., interessanterweise auch in der
Finanzverwaltung. Aber es gibt andere Bereiche, wie z. B. KiTa-Erzieherinnen/Erzieher, in denen wir weniger Personal
vorhalten. Rein was die Köpfe angeht. Was aber interessant ist: Sachsen hat immer eine rigide Kostenstruktur. Es ist
213,6
70,8
202,9
196,6
254,7
279,2
480,5
277,7
205,1
206,8
264,8
258,4
66,7
0
100
200
300
400
500
600
BW
BY
HE
NI
NW
RP
SL
SH
BB
MV
ST
TH
SN
Abbildung 1: Zinsausgaben pro Kopf (in €)

46 |
Panel 1: Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
so, dass wir in absoluten Zahlen mit 1.330 € Personalausgaben pro Einwohner im Vergleich der Länder
(1.660 €) auf einem sehr guten Niveau sind. Es liegt vielleicht auch daran, dass wir eine relativ niedrige Beam-
tenquote haben und Eingruppierungen sehr vorsichtig vorgenommen werden. Das wären die 2 Punkte Zinsen/
Versorgungsausgaben und die Personalsituation.
Jetzt betrachten wir den Schuldenstand und die Vermögenssituation. Seit 2006 nimmt Sachsen keine Schulden
mehr auf. Diese Folie illustriert die regelmäßige Schuldentilgung sehr anschaulich.
Im Jahr 2012 haben wir zensusbedingt etwas mehr getilgt, ansonsten zeichnen sich die letzten 10 Jahre durch
eine hohe Kontinuität aus, und ich kann sagen, dass ich stolz darauf bin, dass die SPD in Sachsen noch keine
Schulden gemacht hat. Das haben wir der CDU überlassen in den Aufbaujahren bis 2004/2005. Meinen Kolle-
gen Jens Michel (MdL, CDU-Fraktion) ziehe ich immer gern damit auf – das darf dann auch mal sein.
Was aber auch wichtig ist: Wir haben den niedrigsten Schuldenstand pro Kopf deutschlandweit. Man könnte
dazu noch die Vermögenssituation gegenüberstellen. Das wäre dann wahrscheinlich ein extra Vortrag, wir
könnten uns trefflich streiten. Aber ich bin der Meinung, und das kann ich auch durch Zahlenmaterial unter-
setzen, dass Sachsen das einzige Bundesland ist, dass de facto eine Nettovermögensposition hat und gar keine
Schulden mehr. Aber auch das eignete sich als Thema eines eigenständigen Vortrags. Was wir aber sehen und
1.634
1.597
1.720
1.638
1.541
1.648
1.818
1.524
1.304
1.448
1.347
1.391
1.330
1.659
0
500
1.000
1.500
2.000
BW
BY
HE
NI
NW
RP
SL
SH
BB
MV
ST
TH
SN
Länder
220
208
460
492
393
353
-62
-79
-83
-79
-75
-75
-244
-75
-75
-75
-75
-75
-75
-300
-200
-100
0
100
200
300
400
500
600
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Soll
2016
RegE
2017
RegE
2018
Mio. €
Abbildung 2: Personalausgaben pro Kopf (in €)
Abbildung 3: Nettokreditaufnahme (in Mio. €)

Panel 1: Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
| 47
konstatieren können: Sachsen hat einen sehr niedrigen Schuldenstand. Nehmen wir die Extrahaushalte mit
dazu, also Sondervermögen und Rücklagen, dann hält sich das die Waage. Wir reden jetzt natürlich nicht über
implizite Verschuldung. Was die Pensionen angeht: Auch da stehen wir deutlich besser da als andere Bundes-
länder.
Nun haben wir also 3 wichtige Kennzahlen betrachtet. Die wichtige Frage ist nun, wie gehen wir mit den lau-
fenden Haushalten um. Wie sieht es aus mit den laufenden Einnahmen und den laufenden Ausgaben? Da kön-
nen wir konstatieren, dass wir hinsichtlich der Einnahmen in den letzten Jahren stets die Planzahlen übertrof-
fen haben: Die untere grüne Kurve sind die Planzahlen, die graue Kurve darüber, das sind die Ist-Zahlen.
In den letzten Jahren wurden die Abweichungen bei den Einnahmen immer deutlicher. Wir haben uns regelmäßig
unterschätzt und waren sehr überrascht, dass wir am Ende deutlich besser herauskamen als vermutet. Es hat
stets Argumente für eine vorsichtige Haushaltsplanung gegeben, denn so etwas fällt ja nicht vom Himmel. Es
hieß, es gäbe sehr große Risiken, weshalb die Einnahmeschätzung des Freistaates sehr konservativ angegangen
wurde. Praktisch war es ein permanenter Krisenmodus, in dem wir uns bewegten. Nun müssen wir noch die
18.000
13.600
11.300
11.200
10.700
10.100
9.300
8.600
8.200
7.200
5.700
2.800
1.600
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
14.000
16.000
18.000
20.000
SL
NW
RP
SH
ST
HE
NI
TH
BB
MV
BW
BY
SN
14.000
15.000
16.000
17.000
18.000
19.000
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Plan
Ist
Abbildung 4: Schulden pro Kopf (in €)
Abbildung 5: Gesamteinnahmen (in Mio. €)

48 |
Panel 1: Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
wichtige Kennzahl des Finanzierungssaldos betrachten. Wenn wir uns die letzten Jahre anschauen, dann will
ich nicht verhehlen, dass unsere Ansichten und die des Finanzministeriums (SMF) durchaus Unterschiede auf-
weisen. Aber egal welche Zahlen wir heranziehen, ob die Angaben des SMF oder die Kassenstatistik des Statis-
tischen Bundesamtes, welche auch die Extrahaushalte einbezieht, wir kommen auf Überschüsse i. H. v. 7 bzw.
10 Mrd. € in den letzten 10 Jahren.
Angaben des SMF
(Kernhaushalt)
Jahresrechnung 2004 - 2011,
Kassenstatistik 2012 - 2015
(inkl. Extrahaushalte)
2006
599
599
2007
1.954
1.954
2008
1.296
1.296
2009
21
20
2010
-915
-183
2011
1.352
2.034
2012
1.258
1.671
2013
1.014
826
2014
676
1.221
2015
-143
1.024
Summe
7.112
10.462
Das Finanzministerium Sachsen argumentiert, wir dürfen nur auf die Kernhaushalte schauen. Ich bin aber der
Meinung, sowohl Kern- als auch Extrahaushalte sind wichtig. Um es plastisch deutlich zu machen: Sie alle
haben sicherlich ein Girokonto und ich würde sagen 99 % der Anwesenden haben neben dem Girokonto noch
ein Sparkonto. Wenn ich mir jetzt Ihre Vermögenssituation anschauen möchte, dann schaue ich mir nicht nur
Ihre laufenden Einnahmen und Ausgaben des Girokontos an, sondern auch Ihre Vermögensposition. So will ich
es mal auf eine einfache Art und Weise darstellen. Ich kann es auch für Sachsen ausführen: Wenn wir die Kassen-
statistik des Statistischen Bundesamtes vom Juli diesen Jahres heranziehen, können Sie sehen, dass Sachsen im
Kernhaushalt ein Defizit von 143 Mio. € erwirtschaftet hat. Was haben wir bloß gemacht? Wenn wir allerdings
die Extrahaushalte mit dazu nehmen, dann haben wir aber einen Überschuss von 1.024 Mio. € erwirtschaftet.
Das sind dann im Saldo 1,15 Mrd. €, d. h. de facto wurden dem Kernhaushalt Überschüsse vorenthalten und
vorab in Extrahaushalte verschoben. Das kann man machen. Aber ein solches Vorgehen ist intransparent und
nicht zwingend effizient. Ich bin persönlich ein Anhänger von Transparenz, damit man weiß, worüber man
redet. Es geht ja nicht darum, dass man Geld zum Fenster rausschmeißt, sondern darum, wie man es sinnvoll
einsetzt. Ein sinnvoller Einsatz kann auch die Bildung von Rücklagen sein. Aber ich denke, darüber muss man
diskutieren.
Wir können die vorgetragenen Punkte jetzt selbst bewerten. Aber wir können auch externe Bewertungen für
den Freistaat Sachsen heranziehen. Ein Beispiel ist der Stabilitätsrat, der alle Bundesländer bewertet. Wenn
man sich den letzten Bericht anschaut, den der Stabilitätsrat herausgegeben hat und die Bewertung Sachsens,
dann lässt sich festhalten: Sachsen ist der absolute Primus. Ich sage es immer wieder: Sachsen ist reich aber
einkommensschwach. Wir haben da deutlichen Nachholbedarf und müssen in der wirtschaftlichen Entwicklung
noch einiges tun. Aber was die haushaltswirtschaftlichen Kennzahlen angeht, stehen wir sehr gut da, wie vom
Stabilitätsrat auch regelmäßig deutlich gemacht wird. Es gibt sogar die Möglichkeit, dass wir die Ausgaben real
in den nächsten Jahren steigern können, ohne auch nur ansatzweise in die Nähe einer Schuldenproblematik zu
kommen.
Das zweite Beispiel ist der PwC-Länderfinanzbenchmark, der schon öfter erwähnt wurde. In diesem Report
stehen wir genauso gut da. Etwas bedauerlich ist die Tatsache, dass Extrahaushalte, Sondervermögen und
Rücklagen nicht bewertet werden. Interessant ist allerdings der Fakt, dass PwC aufgrund der Situation in Sachsen
sein Reporting angepasst hat: In der Vergangenheit wurde lediglich auf die Zinsausgaben der Länder geachtet.
Dank Sachsen werden jetzt auch Zinseinnahmen aufgeführt, die bei Rücklagen oder Sondervermögen erwirt-
schaftet werden.
Aus den vorangegangenen Ausführungen möchte ich 2 Thesen ableiten, die wir gern diskutieren können. Ers-
tens: Konsolidierung ist nie zu Ende. Es gibt immer wieder Punkte, an denen man sich den Haushalt anschauen
und die Frage nach sinnvollen Investitionen oder Kürzungen beantworten muss. Aber ich würde die These auf-
Abbildung 6: Finanzierungssaldo (in Mio. €)
Quelle: Jahresrechnungs-
statistik, Kernhaushalte
Quelle: Kassenstatistik des
öffentlichen Gesamthaus-
halts, inkl. Extrahaushalte

Panel 1: Wo sind die Grenzen der Konsolidierung?
| 49
stellen, dass Sachsen an sich auskonsolidiert ist. Ich sehe nicht, wo wir wirklich noch substanzielle Bereiche
haben, in denen wir noch rückführen können.
Deshalb
komme ich zur zweiten These: Konsolidieren ist kein Selbstzweck. Denn wer nur konsolidiert, verliert
die lange Linie aus dem Blick. Damit will ich nicht gesagt haben, dass wir keine Probleme in Sachsen haben,
selbstverständlich haben wir die. Nur wenn wir uns jetzt lediglich mit den Ist-Haushalten beschäftigen und
schauen, wie wir diese möglichst niedrig halten können und Überschüsse in Rücklagen verschieben, dann blei-
ben die aktuellen Probleme ungelöst. Die Reparaturkosten in der Zukunft werden dann weitaus höher sein. Wir
erleben dies gerade sehr schmerzhaft im Bereich der Lehrerversorgung in Sachsen. Ich bin mir sicher, die meis-
ten von Ihnen haben das mitbekommen. Was wir jetzt schultern müssen, kostet uns mehr, sowohl finanziell als
auch politisch. Auch im Bereich der Demografie stehen wir vor Herausforderungen: In den nächsten 10,
12 Jahren werden die Altersabgänge in Sachsen, egal ob in Unternehmen oder im öffentlichen Dienst, ganz
erheblich sein. Ein anderer Bereich sind die Kommunen, mit denen wir versuchen müssen, ein gutes Verhältnis
zu pflegen, auch was deren finanzielle Ausstattung anbelangt, damit wir da nicht in Probleme laufen, die wir
in der Zukunft wieder schmerzhaft beheben müssen. Deshalb meine ich, Konsolidierung ist kein Selbstzweck.
Ganz wichtig für einen Haushälter ist es, die langfristigen Probleme im Blick zu behalten. Deshalb sollten wir
nicht ständig im Krisenmodus eine falsche Wirklichkeit vor uns herschieben, sondern stattdessen die Haus-
haltsrealität annehmen. Und die Realität heißt, wir sind auskonsolidiert und wir müssen die drängenden lang-
fristigen Probleme in Sachsen angehen. Dafür haben wir die notwendigen Mittel und die notwendigen Mög-
lichkeiten. Dass unterscheidet uns zu anderen Bundesländern. Darüber müssen wir diskutieren, aber nicht nur
im anstehenden Doppelhaushalt, nicht nur für die Legislatur bis 2019, sondern langfristig. Wenn nun gefragt
wird, wo die Grenzen der Konsolidierung sind: Ich denke, wir haben sie erreicht. Ich habe immer gern nach
Sachsen-Anhalt geschaut. Jens Bullerjahn hat ja vorhin in seinem Vortrag einige Punkte genannt, die er ver-
sucht hat anzugehen. Sachsen-Anhalt ist deutlich schlechter ausgestattet, was die Finanzen angeht. Ohne jetzt
Sachsen-Anhalt zu nahe treten zu wollen, trotzdem wurde dort langfristig geschaut, wie können wir die Schulen
sanieren, wie können wir die Kommunen, die Verschuldung entlasten etc. Ich denke genau solche Programme,
solche langfristigen Zielstellungen, brauchen wir auch in Sachsen. Damit wir am Ende auch den gesellschaftli-
chen Zusammenhalt in diesem Bundesland, das auch noch ganz andere Probleme hat, bewahren können. Des-
halb habe ich auch in meiner Haushaltsrede im August gesagt, dass ich der Meinung bin, Sachsen kann mehr.
Mehr als nur einen Doppelhaushalt, mehr als nur für eine Legislatur zu denken. Ich denke, dass muss auch die
Quintessenz dieses Vortrages sein.
Vielen Dank.

Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
| 51
Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Jens Michel MdL, Haushalts- und Finanzpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Sächsischen
Landtag
Jens Michel ist studierter Rechtswissenschaftler. Seit 1994 ist er im Gemeinderat in Lohmen, von 2001 bis 2009
war er stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Lohmen. Seit 2007 ist Jens Michel stellvertretender Kreisvor-
sitzender des CDU-Kreisverbandes Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und seit 2009 Mitglied des Sächsischen
Landtags. Seit 2010 ist er Haushalts- und Finanzpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.
Lieber Herr Professor Binus,
sehr geehrter Herr Professor Nolden,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Landtag,
sehr verehrte Gäste,
wenn
man über einen ausgeglichenen Staatshaushalt spricht, dann gilt es immer, die Balance zwischen Ein-
nahmen und Ausgaben herzustellen. Vor dieser Aufgabe standen wir auch bei den Koalitionsverhandlungen.
Wir als CDU-Landtagsfraktion waren froh, dass wir uns schon damals geeinigt hatten, keine Steuererhöhungen
aktiv zu betreiben. Das bedeutet: Eine Erhöhung des Grunderwerbsteuersatzes als Erhöhung des Landesanteils
wird es in Sachsen in dieser Koalition nicht geben. Es bleibt bei 3,5 %.
Aber einnahmeseitig müssen wir damit rechnen, dass die Zuwendungen des Bundes bis zum Jahr 2020 zurück-
gehen. Zur Herstellung der Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben bleibt einnahmeseitig nur eine Steige-
rung der Wirtschaftseinnahmen.
Es
wurde schon angesprochen, ausgabenseitig bestehen natürlich immer die Möglichkeiten zur Konsolidierung.
Andererseits sind ausgabenseitig viele Kostenblöcke vorgegeben, wie z. B. die Infrastruktur.
Gerade
mit dem Thema Infrastruktur stellt sich die Frage, wie die Infrastruktur tatsächlich die Wirtschaft
beeinflusst. Wenn wir den Schluss ziehen, Einnahmesteigerung erfolgt über mehr Steuereinnahmen ohne
Steuererhöhungen, funktioniert das letztendlich nur über die Wirtschaft.
So
möchte ich Sie einladen, einen kleinen Ritt durch verschiedene Themen zu machen, die aus meiner Sicht im
Freistaat wichtig sind - also Themen, welche wir in den nächsten Jahren beachten müssen. Die Wirtschaft
selber gibt mehrheitlich an, dass Infrastrukturmängel großen Einfluss auf wirtschaftliche Betätigung haben
und ihre Geschäftsabläufe negativ beeinflussen.

image
52 |
Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Wenn wir uns die Infrastruktur in Sachsen anschauen, dann sind wir mit der Maßgabe der 90er Jahre, inner-
halb von 30 Minuten müsse eine Autobahn erreicht sein, eigentlich bei einem relativ guten Maßstab, denn der
Verkehr und die Erreichbarkeit der Arbeitsplätze sind aus meiner Sicht wichtige Aspekte. Das haben wir noch
nicht überall erreicht. Insofern ist auch richtig, was der Wirtschaftsminister macht: Dass man ggf. auch schon
Straßen saniert (wir brauchen nicht immer die großen Highways). Wir müssen auch sehen, dass wir ordentliche
Verhältnisse haben; angepasste Verhältnisse, denn der Standard muss nicht in jeder Gemeinde eine vierspurige
Umgehungsstraße sein. Es ist ein Aspekt, der zu beachten ist. Trotzdem brauchen wir eine ordentliche solide
Infrastruktur. Dorthin möchte ich Sie, als erste These, mitnehmen.
Ich glaube, der Begriff der Infrastruktur aus den 90er Jahren mit Straße und Schiene muss erweitert werden.
Da gehört noch viel mehr dazu. Da gehören universitäre Einrichtungen, Breitband etc. dazu. Der Begriff der
Infrastruktur wird sich im Laufe der Zeit immer wieder wandeln, weil die Anforderungen höher werden.
Wenn wir die Wirtschaft weiter im Blick behalten als unsere Haupteinnahmequelle, dann hat Sachsen einen
fulminanten Aufholprozess gemacht. Aber in den letzten Jahren ist es uns nicht gelungen, den Abstand zu den
westdeutschen Bundesländern wesentlich zu verringern. Wir hinken immer noch hinterher und versuchen, den
Abstand weiter zu verkleinern. Was uns gelungen ist, ist die Arbeitsplatzdichte. Da sind wir schon relativ weit
gekommen.

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
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Arbeitsplatzdichte in Deutschland - Flächenländer
Wir sind da mit manchen Bundesländern auf einem guten Niveau, natürlich noch nicht mit den erfolgreichen
großen Südländern, die eher unser Vorbild sind. Aber das ist der erste Erfolg, den wir schon erreicht haben.
Weniger gelungen ist uns, und bleibt noch als Aufgabe, die Steigerung der Industriedichte. Wir in Sachsen
müssen hieran noch arbeiten. Insbesondere verarbeitende Industrie fehlt uns. Aus meiner Sicht ist das auch eine
Investition in Infrastruktur. Wir müssen versuchen, Industrie anzusiedeln. Investoren für Gewerbe- und Indust-
riegebiete müssen begeistert werden. Das wird nicht ohne staatliche Förderung gehen, die auch Geld kosten
wird.
Wenn wir uns die Verteilung der börsennotierten Unternehmen anschauen, wissen wir, dass in Ostdeutschland,
auch in Sachsen, das Feld sehr dünn besiedelt ist.
Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass könne uns egal sein. Aber die Transformation nach 1990,
zunächst mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und dann mit den folgenden Investitionen in die Wirt-
schaft - mit all den Mitnahmeeffekten -, folgten dann wieder die Wirtschaftskrisen. Natürlich schlägt sich das
auf die Wirtschaft nieder und wir sind von der großen globalen Wirtschaft noch weit weg. Das alles spielt bei
unserer Einnahmegestaltung eine Rolle.
Darin besteht unser Nachteil. In der Folie können wir sehen, welche Anstrengungen wir unternommen haben
und welche wir auch noch machen müssen. Ein Aspekt dabei ist, dass wir in den letzten Jahren begonnen haben,
sehr auf Forschungseinrichtungen in Sachsen zu setzen. Wir haben viel Geld für die Forschungsintensität aus-
gegeben.
Datengrundlage:
http://wirtschaft.sachsen.de/367.html,
abgerufen am 05.10.2016
Über 500 Erwerbstätige
auf 1000 Einwohner
470 – 500 Erwerbstätige
auf 1000 Einwohner
Unter 470 Erwerbstätige auf
1000 Einwohner
462
447
431
478
482
436
469
499
482
513
529
550
537
Niveau der Arbeitsplatzdichte im Frei-
staat Sachsen ähnlich hoch wie in Rhein-
land-Pfalz und Niedersachsen

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in % des BIP, 2012
In der prozentualen Gesamtsumme liegt Sachsen gar nicht schlecht. Aber, wenn wir jetzt den Vergleich mit
Bayern sehen, ist das dann der Ausfluss der starken dortigen Unternehmen. Dort, wo die großen Unternehmen
sitzen, wird in die Forschung investiert. Hier ist schon ein erster Punkt zu überwinden. Es ist eine Aufgabe für
uns, die enorme Gelder kostet, um dies auszugleichen. Unser staatlicher Anteil ist wieder höher in den Forschungs-
ausgaben. Wir sehen auch die Kleinteiligkeit der sächsischen Wirtschaft - das Eine bedingt das Andere.
1,4
1,5
1,5
1,7
2,1
2,1
2,1
2,3
2,3
2,7
2,9
2,9
3,2
3,2
3,6
5,2
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
5,0
5,5
ST
SL
SH
BB
RP
NW
MV
TH
HH
HB
NI
SN
HE
BY
BE
BW
Wirtschaft
Hochschulen
Staat
Quelle: Statistisches Bundesamt

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
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Strukturnachteil: Kleinteiligkeit der sächsischen Wirtschaft
Verarbeitendes Gewerbe – Anteil der Betriebe am Gesamtumsatz 2012
Ein kleines Unternehmen investiert weniger in die Forschung als ein großes Unternehmen. In Sachsen haben
wir mit 24 % den größten Anteil an den verarbeitenden Gewerbebetrieben zwischen 10 und 249 Beschäftigten.
Die bayerische Wirtschaft hat 49 % mit 1.000 Beschäftigten und mehr. Jetzt können wir sagen, es ist eben so,
und wir müssen es hinnehmen. Wir aber versuchen in unserer Not, die Erfolge der Gründergeneration von 1990
- die nun so langsam in Rente geht - mit der Problematik der Unternehmensnachfolge und der Thematik Unterneh-
mensgrößen zu verzahnen. Wir haben hier im Wirtschaftsministerium eine Offensive dazu. Es wurde ein Fusion-
fonds angelegt, um eine ordentliche Unternehmensgröße sowie eine bessere Unternehmensstruktur weiter
aufzubauen.
Ziel ist es immer, am Ende für den Staat die Einnahmenseite zu verbessern. Aber dazu gehört auch die Einnah-
meseite in der Bevölkerung: Das Einkommen bei uns in Sachsen liegt noch pro Kopf gesehen unter dem, was
wir uns vorstellen.
Nächstes Ziel ist sicherlich das durchschnittliche Einkommen von Schleswig-Holstein. Auch Niedersachsen
sollten wir als Ziel avisieren. Da haben wir einiges zu tun. Bis zu den Werten von Bayern ist es noch ein langer
Weg für uns.
Betriebsgröße
(Anzahl der tätigen Personen je Betrieb)
Quelle: SMF / Statistisches Bundesamt

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Verfügbares Einkommen je Einwohner in Deutschland nach Flächenländern 2014
In der Zukunft stehen wir natürlich noch vor großen Problemen in punkto Demografie. Es ist schon angesprochen
worden, aber ich möchte es noch einmal kurz betrachten. Wenn in den nächsten 10 Jahren 600.000 Arbeitnehmer
in Rente gehen, wachsen nur 300.000 in den Arbeitsmarkt nach. Das wird so langsam ein ähnlicher Faktor wie
die Infrastruktur. Jetzt ist die Aufgabe für uns zunächst, die Urbanisierung nicht weiter voranzutreiben. Es
bleibt bei der Infrastrukturstrategie: Die Autobahn muss in 30 Minuten von überall erreicht werden können.
Schnell und flexibel müssen unsere Menschen vom Wohnort zur Arbeit pendeln können. All das muss gewähr-
leistet sein, damit wir keine Arbeitskräfte verschenken, die dann nicht zum Arbeitsplatz kommen oder sich
deshalb gezwungen sehen, in die Stadt zu ziehen und den ländlichen Raum weiter zu entvölkern.
Auf der anderen Seite steht der öffentliche Dienst im Wettbewerb mit der Wirtschaft. Es ist nur die Frage: Ist
es Aufgabe des öffentlichen Dienstes, der bereits Lohnführer ist, diese Spirale der Lohnkosten noch weiter voranzu-
treiben? Oder gilt es nicht vielmehr, in einer Aufgabenkritik letztendlich zu prüfen, ob der Bedarf im öffentli-
chen Dienst tatsächlich so hoch sein muss.
Es wurde heute ebenso angesprochen das Thema Asyl oder Zuwanderung: Könnte für dieses Arbeitskräfteproblem
die Zuwanderung eine Lösung sein? Es gibt dazu ganz verschiedene Theorien. Aus meiner Sicht wird das in den
nächsten 10 Jahren nur punktuell eine Lösung des Fachkräftebedarfs sein. Denn im Gegensatz zum Problem
stehen die heruntergebrochenen Bildungsabschlüsse. Das Institut der Wirtschaft in Köln hat die entsprechen-
den Schulabschlüsse untersucht.
Über 21.000 €
Über 18.000 €
Unter 18.000 €
Über mehr Ausgaben für Forschung und
Entwicklung zu höheren Einkommen!
Datengrundlage: Statistische Ämter unter
http://www.vgrdl.de

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
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Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln nach BAMF, „SoKo“-Datenbank, 03.02.2016; alle HKL: n = 222.062, Top-10: n = 174.155; Anteile
unter 4 Prozent werden nicht ausgewiesen
Qualifikationsstruktur der Asylbewerber
Höchste besuchte Bildungseinrichtung der volljährigen Asylerstantragsteller im Jahre 2015, in Prozent
Daraus ist zu ersehen, dass der Nachqualifizierungsbedarf sehr hoch ist.
Das ist ein realisiertes Risiko des arabischen Frühlings, auch wenn wir die Zuwanderung finanztechnisch in
Sachsen relativ gut lösen konnten.
Aber wir wissen, dass diese Menschen mit einer Qualifikation kommen, welche für unseren Arbeitsmarkt nicht
ausreicht. Hier muss investiert und letztendlich die Menschen fit gemacht werden für den Arbeitsmarkt - nicht
nur sprachlich - sondern auch bildungstechnisch. Und nur wenn uns das gelingt, steht am Ende immer wieder
das Ziel des Staates, die Steuereinnahmen zu erhöhen. Dies muss unser primäres Ziel sein.
Nächstes Ziel dabei sind die guten Arbeitsplätze, die gut ausgebildeten, die hochqualifizierten Arbeitsplätze.
Dies bedeutet Studenten. Die Anzahl der Hochschulzugangsberechtigungen ist in Sachsen relativ hoch. Wir
haben eine extreme hohe Anzahl von Studienplätzen. 115.000 Studienplätze bei sächsischen Abiturienten von
50.000 sind also lukrativ für andere Länder. Wir hoffen nur, dass der sog. Klebeeffekt sich noch weiter ausbrei-
tet. Im Schnitt bleiben 30 % der Menschen, die hier studieren, mit der ersten Anstellung in Sachsen. Nur die
erste Anstellung kann man nachverfolgen. Die nächsten Anstellungen nachzuverfolgen, wird dann schwieriger.
Das aufgeblähte Studiensystem ist eine Investition, die extrem viel Geld kostet, was wir uns im Moment aber
noch leisten können.
In der Zusammenfassung ist festzuhalten, dass bei einem Haushaltsvolumen von rd. 18 Mrd. € rd. ein Drittel
für Bildung und Forschung ausgegeben wird.
Das nächste Bild zeigt die Schulausgaben pro Schüler.

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Ausgaben für öffentliche Schulen je Schüler
Sachsen belegt Platz 6 im Länderranking. Sachsen hat nach Bayern die höchste Anzahl an Forschungsinstituten. Die
Erfahrungen mit den z. B. sehr renommierten Fraunhofer Instituten zeigen, dass Wissenschaftler sehr viel lieber
kommen, wenn ihre Institute eine Investitionsunterstützung erhalten.
Nach meiner These gehört heute eine Forschungslandschaft mit zur modernen Infrastruktur. Dabei stellt sich
angesichts der damit verbundenen Ausgaben die Frage nach dem Nutzen, wenn hier geforscht wird und der
Freistaat Sachsen das bezahlt. Das führt zur weiteren Frage, was davon in der heimischen Wirtschaft ankommt.
In den kommenden Jahren muss dazu übergegangen werden, auch den Nutzen und die Patente hier in der
sächsischen Industrie und in die Wirtschaft umzusetzen.
Ein anderer wichtiger Fakt für ein Bundesland ist aus meiner Sicht, eine stabile kommunale „Landschaft“ zu
haben. Ich meine, der Freistaat sorgt dafür. Wir haben ein sehr gutes FAG, welches eine berechenbare Kommu-
nalfinanzierung gewährleistet. Wir haben bundesweit gesehen einen sehr guten Finanzierungssaldo der kom-
munalen Kernhaushalte. Und nicht zu vergessen: Unser Programm „Brücken in die Zukunft“, in dem wir ge-
meinsam mit der kommunalen Familie 800 Mio. € in ein kommunales Investitionsprogramm für die nächsten
Jahre bis zum Jahr 2020 aufgelegt haben – ein kleiner Tropfen Bundesmittel ist auch dabei. Die kommunale
Familie hat sich als Fördergegenstände hauptsächlich ausgesucht: Schulhausbau, Kita-Bau, Straßenbau. Das ist
ca. die Hälfte der kommunalen Investitionen. 800 Mio. € im Freistaat Sachsen zu verbauen, ist schon eine große
Leistung. Dies wird aber teilweise gar nicht so wahrgenommen. Wir sind beim Anspruchsdenken schon sehr
weit oben im Freistaat.
Meine nächste These ist, dass uns der allgegenwärtige Vergleich mit anderen Bundesländern fehlt. Dieser ist
aber notwendig, um herauszufinden, was wir noch verbessern können, aber auch, um die erreichten Leistungen
besser einordnen zu können.
Zurück zu meiner These, der Schlüssel zur Einnahmesteigerung der Staatsfinanzen sei eine gute Entwicklung
der Wirtschaft. Nur das wird uns in Zukunft ermöglichen, den Staatshaushalt auszugleichen.
Ein erstes Problem ist die ist mit 39 % viel zu geringe Exportquote in Sachsen.
Quelle: Bildungsfinanzbericht 2015

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
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Exportquote Sachsens im Vergleich
Wir müssen es schaffen, dass wir unsere Unternehmen auf eine höhere Exportquote trimmen können. Das hat
viele Ursachen. Von Einstellungsfragen bis hin zur Unterstützung bei der Erschließung von neuen Absatzmärk-
ten. Das ist ein weitgefächertes Feld.
Dazu möchte ich Sie kurz mit einem Lieblingsthema von mir zu einem Abstecher einladen. Es gibt im Moment
das Aufstellungsverfahren der Verkehrsnetze. Gegenwärtig wird in Deutschland die Nord-Süd-Achse von Skan-
dinavien bis Istanbul diskutiert. Uns berührt es bei der Frage des Erzgebirgstunnels. Die Achse könnte von Ber-
lin weiter durch die Sächsische Schweiz nach Prag geführt werden. Damit würde sie durch Sachsen gebaut
werden. Der jetzige Bundesverkehrsminister sieht für diesen Tunnel momentan rd. 1 Mrd. € für den deutschen
Teil vor, evtl. auch mehr. Dieser Tunnel sei aber ein Hindernis. Er würde das lieber Richtung Bayern verlegen.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Wirtschaft gestärkt werden soll und meine These richtig ist, dass ein Land
möglichst an Handelswegen liegen sollte, ist es sinnvoll, dafür zu kämpfen, dass wir diese Achse durch Sachsen
bekommen. Diese Nord-Süd-Trasse wird in Europa eingeschätzt als diejenige mit dem größten Zukunftsvolu-
men. Und es ist noch ein Aspekt zu betrachten: Es gibt nur wenige West-Ost-Trassen, es gibt die Trasse Ant-
werpen-Warschau und es gibt eine Untertrasse über Breslau, die durch Dresden führen soll. Wenn es uns also
gelingen würde, diese Nord-Süd- und West-Ost-Achse zu bekommen, hätten wir einen der wenigen Schnitt-
punkte in Europa in Dresden. Dass sollte aus meiner Sicht für Sachsen ein erstrebenswertes Ziel sein, dass wir
den Kampf aufnehmen und den Bundesverkehrsminister schon noch davon überzeugen, dass wir das hier mit
ansiedeln können.
Das nächste Thema wurde schon kurz angesprochen. Aus meiner Sicht ist ein wichtiger Aspekt moderner Infra-
struktur die Breitbandverfügbarkeit. Wir haben verschiedene Instrumente für die Zukunftssicherung geschaffen. Wir
haben - weil es überjährige Projekte sind - einen Zukunftssicherungsfonds aufgelegt. Aus Zeitgründen kann ich
nur verkürzt sagen, dass rd. 600 Mio. € in einem Fonds enthalten sind, der für Digitalausbau, Schulhausbau,
Krankenhausbau, Telemedizin, Straßenausbau - also für reine Infrastrukturmaßnahmen - vorgesehen ist. Wenn
immer wir Geld haben, welches nicht verkonsumiert wird, versuchen wir es in den Zukunftssicherungsfonds
einzulegen, um die Strukturfragen lösen zu können.
Quelle: Initiative Neue Marktwirtschaft, 2012

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60 |
Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
Was ist unser Vorteil zu anderen Ländern? Wir haben sicherlich eine geringe Verschuldung und wir haben einen
geringen Anteil an Pensionslasten.
Versorgungszusagen und Verschuldung des Bundes und der Bundesländer in Prozent des
jeweiligen BIP 2009
Jetzt gilt es das zu halten. Da gibt es permanente Kämpfe bis hin zu einer Kultusministerin, die gerne Lehrer
verbeamten will in Sachsen. Es ist unbestritten, dass wir diese Themen nach wie vor „auf dem Schirm“ haben.
Und dass ist die große Frage, wie geht man damit um. Die ewige Frage, die jeder hat. Jeder der Geld hat, muss
sich entscheiden: Konsum oder Investition. Bei Ausgaben je Schüler sind wir gar nicht mal so schlecht als
Sachsen. Also auch hier liegen wir im vorderen Bereich.
Das ist hier die berühmte PwC-Studie, die heute schon mehrfach Einfluss in die Debatte gefunden hat, wir sind
schon vorne dran.
Quelle: Forschungszentrum Generationenverträge, Veröffentlichung 2013

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Panel 1: Budgetverantwortung für nachhaltige Infrastrukturentwicklung auf Landesebene
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Der
nächste Punkt ist die Polizei. Wir sind gut aufgestellt im Verhältnis mit der Polizei, aber haben die Debatte
trotzdem hier im Lande. Jeder Sachse den Sie fragen, wird behaupten, wir haben zu wenig Polizei. Niemand
aber weiß, wie viel Überstunden ein Polizist im Jahr macht. Durchschnittlich 10 Überstunden, wenn wir mal
von Fachexperten absehen. Jetzt frage ich mich, wäre dies alleine ein Grund für mehr Personal?
Anderer
Aspekt, neue Aufgaben, würde ich sagen – dazu stehe ich. Aber die Debatte „Wir haben zu wenig Polizei“
schon vorher halte ich für kritisch. Da sind wir bei der Kernfrage. Auch in Sachsen - obwohl wir versuchen zu
konsolidieren - müssen wir weiter daran arbeiten, als erstes die inneren Ressourcen zu heben. Wir müssen
daran arbeiten, die bestehenden Mittel, das bestehende Personal, effektiver einzusetzen, weil die Investitions-
quote sinkt und die Personalausgabenquote steigt. Und das ist die Aufgabe für die Finanzpolitiker: Dass wir
diesen Trend verzögern, stoppen, denn die Investition ist das Einzige, was uns hilft, um die staatlichen Einnah-
men zu steigern. Und nur so werden wir die Balance eines ausgeglichenen Haushaltes lösen können.
Ich
bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Panel 1: Sparen wir uns kaputt?
| 63
Sparen wir uns kaputt?
Sebastian Scheel, Staatssekretär für Wohnen in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
und Wohnen in Berlin
1
Sebastian Scheel studierte Politikwissenschaften an der Universität Leipzig und war von 1999 bis 2004 Mitglied im
Leipziger Stadtrat. Von 2004 bis 2017 war Sebastian Scheel Mitglied des Sächsischen Landtags für die Fraktion DIE
LINKE. Er war u. a. stellvertretender Fraktionsvorsitzender (2004-2012), Vorsitzender des Haushalts- und Finanz-
ausschusses (2009-2014) und parlamentarischer Geschäftsführer (2014-2017). Seit 02/2017 ist Sebastian Scheel
Staatssekretär für Wohnen in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen in Berlin.
Sehr geehrter Herr Präsident,
lieber Herr Professor Binus,
sehr geehrte Damen, meine Herren,
es hört sich an, als hätten wir uns abgesprochen Ich bin wohl eingeladen worden, um ein wenig Würze in das
Panel zu bringen und ich werde mich nach Kräften bemühen.
Sie können sich auch ganz auf mich konzentrieren, ich habe nämlich keine Folien mitgebracht. Ich versuche,
sie mit ein paar Argumenten oder ein paar Punkten mit auf eine kleine Reise zu nehmen.
Politik und Haushalte sind nicht dafür gemacht, dass wir uns als Haushälter gegenseitig katholisch machen, ob
der Haushalt schön oder nicht schön aussieht. Am Ende des Tages geht es darum, ob wir es schaffen, dieses
Land voranzubringen, ob wir Entwicklungen sinnvoll in Gang setzen können. Der Freistaat Sachsen hat in den
letzten 25 Jahren einige gute strukturelle Gegebenheiten gehabt, die uns - ich glaube im Osten wird immer
gern vom Klassenprimus gesprochen, Vorteile verschafft haben. Wir haben über 4 Mio. Einwohner, d. h. wir
haben mehr Köpfe und damit strukturell mehr Einnahmen als andere ostdeutsche Bundesländer, auch wenn die
Fläche ungefähr gleich groß ist. Wir haben darüber hinaus mit den 3 großen Städten Chemnitz, Leipzig und
Dresden wirtschaftlich starke Zentren in Sachsen. Wenn es nach der CDU gehen würde, hätte sie wahrschein-
lich Kurt Biedenkopf erfunden, sodass wir heute partizipieren können, aber die waren schon länger da und
haben uns früher schon große Vorteile gebracht. Wir haben in Sachsen auch eine sehr starke - hier wieder
Chemnitz angesprochen - Industriekultur. Auch davon kann und konnte der Freistaat bisher sehr gut zehren.
Wenn wir darüber sprechen; der ehemalige Finanzminister Herr Bullerjahn hat davon gesprochen, dass es bei
Politik um Ziele und Zielorientierung geht und sie haben das Thema als Spannungsfeld aufgemacht zwischen
Wachstum und Konsolidierung. Mein Vorredner hat ja gerade schon ein paar Aspekte genannt, ich werde gleich
noch einmal darauf zu sprechen kommen.
Eine der großen Aufgaben, die wir wohl im Osten und damit auch in Sachsen haben, ist der sog. „Aufholpro-
zess“. Wir wollen die wirtschaftliche Stärke und
damit natürlich auch bei der Einnahmestärke für die staatli-
chen Haushalte ein Niveau erreichen, das wenigstens dem Durchschnitt der westdeutschen Länder entspricht.
Und das ist erst einmal ein gutes Ziel, diesen Aufholprozess anzugehen. Allerdings müssen wir feststellen, dass
wir in den letzten 10 Jahren eine Phase der Stagnation erleben. Sie haben vorhin schon eine wunderschöne
Folie gesehen, deshalb kann ich einfach darauf Bezug nehmen, dass es uns nicht gelingt, die Wirtschaftskraft
des Freistaates Sachsen im Verhältnis zu dem Durchschnitt der Bundesländer zu erreichen. Dass es uns nicht
gelingt, eine Art gläserne Decke, diese 75 %-Grenze zu durchstoßen. Es ist ein ernsthaftes Problem. Ich komme
gleich auf die Lösungsansätze, die gerade Herr Michel angesprochen hat, und vielleicht mit den Problemen, die
damit einhergehen. Seit 10 Jahren gelingt uns das nicht, wir sind im Gegenteil sogar froh, dass wir es gerade
so schaffen, den Wettlauf um die Erhöhung des Wirtschaftswachstums wenigstens mitzumachen. Das Wachs-
tum der Wirtschaft belief sich in Deutschland auf 1,5 % oder 1,7 % und wir sind froh, wenn wir auch mithal-
ten, damit wir nicht weiter zurückfallen. Aber wir kommen strukturell nicht wirklich weiter voran. Und die
Fragen, die sich stellen, sind Wirtschaftsstrukturfragen. Wir sehen, dass das verarbeitende Gewerbe in Sachsen
im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt ein eben schon angesprochenes Exportproblem hat. Nur 78 % des
Durchschnittes erreichen wir im Export. Obwohl wir Großunternehmen wie VW haben, die natürlich einen
1
Zum Zeitpunkt des Vortrages war Sebastian Scheel MdL, parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag.

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Panel 1: Sparen wir uns kaputt?
Großteil dieses Exportergebnisses erzielen. Wir haben ein Entgeltniveau für die Arbeitnehmerinnen von 72 %,
d. h. auch die Attraktivität des Standortes Sachsen für Arbeitnehmerinnen ist gering ausgeprägt. Wir haben
eine Produktivität, Produktivkraftentwicklung, nach dem alten Marx ja doch ein wesentlicher Faktor für die
gesellschaftliche Entwicklung, von 65 % des westdeutschen Durchschnittes. Betriebsgrößen von ebenfalls
65 % und daraus resultierend aus dieser Betriebsgrößenstruktur eine Forschung und Entwicklung aus den Un-
ternehmen selbst von gerade mal 30 % des bundesdeutschen Durchschnittes. Wenn wir also darüber sprechen,
was ist hier zu tun, welche Ziele sollten wir haben, um nachhaltig das Land voranzubringen, dann sind dass
genau die Kennziffern, an denen wir arbeiten müssten.
Jetzt kommt meine erste These. Was ist zu tun? Wir sind ja hier unter uns, die Politik ist ratlos! Wir haben in
den letzten 25 Jahren mit viel Geld so gut alles ausprobiert, was auszuprobieren ist, um Unternehmen hier
anzusiedeln. Wir haben ihnen wunderbare Gewerbeparks hingestellt. Wir haben ihnen Gründerzuschüsse gege-
ben. Wir haben ihnen Zuschüsse gegeben, wenn sie Mitarbeiter einstellen, wenn sie innovative Sachen
gemacht haben, haben wir ihnen auch noch Leute zur Seite gestellt. Wir begleiten sie auch dabei, wenn sie
vorhaben zu fusionieren. Der Fusionsfonds ist gerade angesprochen worden, allein, es nimmt die Mittel nie-
mand ab. Also die Politik hat viele tolle Ideen gehabt, nur sie sind alle nicht zum Tragen gekommen. Und viel-
leicht können wir heute noch mal das eine oder andere mit aufnehmen, vielleicht hat heute noch jemand eine
zündende Idee. Wir sind wirklich sehr dankbar, also ich persönlich bin wirklich sehr dankbar für alles, was an
Ideen kommt. Vielleicht können wir ja das eine oder andere in der Politik umsetzen.
Einen kleinen Exkurs erlauben Sie mir noch, weil gerade der Kollege Michel angeführt hat, dass wir uns ob der
Forschung und Entwicklung Sachsens sehr rühmen dürfen. Die 3 %, die ja eigentlich als Ziel ausgegeben sind,
sind mit staatlicher Unterstützung gerade so zu erreichen; man möge bedenken, dass dieser Wert immer noch
auf einem niedrigen Niveau von ungefähr 70 % der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung basiert. Also ich
möchte mir gar nicht vorstellen, wir wären bei 100 % Durchschnitt, dann wären wir vielleicht gerade mal bei
2 %, wenn überhaupt, an Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Aber dass nur als kleiner Exkurs am Rande.
Kollege Michel hat gesagt, Investitionen sind das Wichtigste. Da schauen wir uns doch mal an, was wir in den
letzten Jahren gemacht haben. In den letzten Jahren, ich komme gleich noch mal zu der konkreten Prozent-
zahl, kann man festhalten, dass jeder vierte bis fünfte Euro unseres Haushaltes in Investitionen gegangen ist.
Jeder vierte bis fünfte Euro, 20 bis 25 % für die das nicht so schnell ausrechnen wollen. Im Westen im Durch-
schnitt können die Länder froh sein, wenn sie um die 10 % erreichen, d. h. wir haben gut das
Doppelte wenn nicht sogar mehr als das Doppelte an Investitionen im Freistaat Sachsen geleistet. Und sollte
man denken, wenn wir dass also so machen, wenn wir soviel Investitionen leisten, dann müsste es doch hier
eigentlich brummen. Eigentlich müssten doch die Wirtschaftsinvestitionen hierher strömen. Es ist aber nicht
der Fall, ich habe gerade darauf hingewiesen. Wir rühmen uns, dass wir die sog. Sonderbedarfsbundesergän-
zungszuweisungen im Gegensatz zu allen anderen ostdeutschen Ländern, wie auch immer wieder betont wird,
zweckgerecht verwenden. Und zwar durchgängig. Es ist noch kein Wert an sich - ich sage immer dieser leichte
Sachsenchauvinismus wird uns auch nicht weiterhelfen, auch in der Freundlichkeit untereinander nicht, aber
zumindest wird es immer gern betont. Wir haben im Durchschnitt eine Verwendungsquote von 133 %, d. h. wir
nehmen nicht nur das Geld was wir vom Bund bekommen um den Aufholprozess zu finanzieren, sondern wir
nehmen noch eigene Landesmittel dazu, um Investitionen zu tätigen. Im Jahr 2015 kam es noch besser, eine
Verwendungsquote von 273 %. Du meine Güte, das muss doch vorangehen. Wir müssen doch ganz vorne dabei
sein. Ich fürchte nur, dass uns der Investitionsbegriff so wie wir ihn bisher betrachten offensichtlich nicht wei-
ter führt, weil wir eben nicht erreichen, die wirtschaftliche Prosperität des Freistaates voranzubringen. Sondern
wir bleiben trotz dieser immensen Investitionen auch aus Landesmitteln eigenfinanziert weit hinter dem Bun-
desdurchschnitt zurück.
Also eine weitere These, die ich in den Raum werfen würde, die Investitionen, auch die Mehrinvestitionen haben
keinen Effekt. Wir müssen also über den Investitionsbegriff als solches reden und ich habe ja großes Verständ-
nis dafür, dass diese Debatte immer wieder gescheut wurde, solange wir noch keine Schuldenbremse hatten.
Aber jetzt, wo nicht mehr die Regel von 1967 gilt, wo der Grundgesetzartikel 115 ja geändert wurde und wir
nicht mehr sagen, du kannst soviel Schulden aufnehmen wie du Investitionen hast, also Sachinvestitionen, was
sich ja nicht so richtig tragfähig erwiesen hat, muss es doch möglich sein, mal die Debatte zu führen, ob die
nächste Umgehungsstraße um einen Ort, in dem niemand mehr wohnt, die sinnvollere Investition ist oder viel-
leicht ein Mehr in Forschung und Entwicklung in unseren Hochschulen. Diese Debatte muss doch möglich sein,
damit wir wegkommen von diesem eigenartigen Investitionsverständnis und einem Fetisch, so muss man ihn
mittlerweile nennen, der ein Investitionsquotenfetisch ist, der vor sich hergetragen wird, wer die höchste Inves-
titionsquote hat, der hätte demzufolge die besten Bedingungen im Land. Das ist offensichtlich eine Chimäre, das ist
offensichtlich nicht der Fall.

Panel 1: Sparen wir uns kaputt?
| 65
Und jetzt komme ich zu dem, was mich am meisten umtreibt in der aufgeworfenen Frage, sie werden es ver-
muten, was ist denn der Preis. Und auch da kann ich mich auf den Kollegen Michel beziehen, wir hätten als
Haushälter immer ein Spannungsfeld auszuhalten, Investition oder Konsumtion. Also „verfressen“ wir das
Geld,
was uns der Steuerzahler zur Verfügung stellt, um damit verantwortungsvoll umzugehen oder sind wir in der
Lage,
damit „vernünftige“ Investitionen zu tätigen. Ich fürchte dieses Spannungsverhältnis, ich habe eben
schon darauf hingewiesen, ist ein falsches, weil es in die falsche Richtung geht. Und das Ergebnis und den
Preis sehen wir jetzt gerade, der Gedanke, hohe Investitionen halten zu wollen, hat führende Politiker, u. a.
auch den Ministerpräsident an dieser Stelle vor einigen Jahren dazu bewegt, in den Raum zu werfen, dass auch
wir das Personal kürzen müssten von bisher 84.000 Menschen, die für den Freistaat Sachsen tätig sind, auf
70.000 im Jahre 2020. Der Rechnungshof hat darauf hingewiesen, dass eigentlich nichts unternommen wird,
um dieses Ziel zu erreichen. Er hat gesagt, 70.000 sind zu erreichen. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es
auch noch kein zurückgenommenes Ziel der Staatsregierung. Bis vor 2 Jahren war es sogar erklärtes Handeln
der Staatsregierung. Wir haben nur eine gefährliche Situation, gefährlich kann man sie nennen, da wir mit dem
vorhin beschriebenen demografischen Wandel einen gigantischen Umbruch auch in der öffentlichen Verwal-
tung, aber auch im gesamten Arbeitsbereich haben. Und dieser Umbruch äußert sich so, dass wir bis 2030 den
Großteil unserer Bediensteten in den wohlverdienten Ruhestand verlieren werden. Insgesamt nach dem Bericht
der Kommission, die ja durch die Koalition ins Leben gesetzt wurde, werden von den 84.000 Bediensteten, die
wir haben, bis zum Jahr 2030 40.484 in Rente gehen, die gute Hälfte. Und jetzt stellen wir gerade fest, wir
haben einen Fachkräftemangel in der Wirtschaft, wir haben zu wenig junge Leute, die in die Ausbildung gehen
können. Wir haben es eigentlich mit einem Kampf um die besten Köpfe zu tun. Und da verstehe ich ehrlich
gesagt nicht, wie man dann sagen kann, wir müssen weiterhin viele Straßen bauen, wenn wir gerade sehen,
dass uns die Köpfe in der öffentlichen Verwaltung und damit dem Kern des Staates abhanden kommen. Ich
nenne nur mal ein paar Zahlen. Bis 2030 wird ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte in Rente gehen. Wir
verlieren mehr als die Hälfte unserer Lehrerinnen und Lehrer. Die Reaktion darauf ist jetzt, dass wir Leute ein-
stellen, weil wir sehen, dass die Verwaltung gegen den Baum fährt. Jeder zweite der neu eingestellten Lehre-
rinnen und Lehrer ist kein Pädagoge, also Leute, die einen Hochschulabschluss haben, also fachlich gebildet
sind, aber keinen pädagogischen Hintergrund haben. Und jetzt reden wir wieder davon, was ist nachhaltig und
zielorientiert. Ist es sinnvoll, nachhaltig und zielorientiert, gerade im Bildungsbereich der doch, wie man so
sagt, in entwickelten Volkswirtschaften eines der Schlüsselfelder ist, im Bildungsbereich das System so gegen
die Wand fahren zu lassen. Also ich würde sagen nein. Doch da werden wir uns in den nächsten 15 Jahren mit
der Frage intensiv auseinander setzen müssen, dass wir sog. Demografiebrücken schaffen. Es heißt also, wenn
wir wissen, dass innerhalb kürzester Zeit sehr viele Menschen auf einmal in den Ruhestand gehen, müssen wir
jetzt eigentlich schon zusätzliche Leute einstellen, damit die dann später deren Job übernehmen können. Um
das mal so auf den Punkt zu bringen, um diesen Wissenstransfer, der da dringend notwendig ist, zu bewerk-
stelligen. Allein aufgrund des demografischen Wandels, der mangelnden Anzahl an jungen Menschen, die
überhaupt in Ausbildung gehen können, die wir hier in Sachsen haben, sehe ich dort weder schwarz noch weiß
aber grau. Insofern eine letzte These, bevor ich uns gemeinsam in die Diskussion entlasse, was ja mein Privileg
hier als letzter Redner ist, die staatliche Handlungsfähigkeit ist in Gefahr. Wenn wir also vom Spannungsfeld
zwischen Wachstum - vorhin beschrieben, wohin wir eigentlich kommen müssen - und den Konsolidierungsan-
forderungen, die in den letzten Jahre offensichtlich für die Politik handlungsleitend waren, sprechen, dann
haben wir eine Unwucht, der es jetzt gilt, mit aller Macht entgegen zu treten, nämlich diesen Staat und dessen
Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Ich hoffe, ein paar Anregungen gegeben zu haben und bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank.

| 67
Panel 2
Positionsbestimmung – Anforderungen
an die Finanzkontrolle im Umfeld von
Wachstum, demografischen Herausforderun-
gen und Flüchtlingsproblematik

Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
| 69
Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
Dr. Peter Pollak, Direktor des Stadtrechnungshofs Wien
Dr. Peter Pollak ist promovierter Rechtswissenschaftler und hat einen MBA im Fachbereich Public Manage-
ment. Ab 1985 war er in verschiedenen Positionen als rechtskundiger Bediensteter für die Stadt Wien tätig,
u. a. als Leiter des Verfassungsdienstes und Bereichsleiter für Bürgerservice und Dezentralisierung der Verwal-
tung. Seit 2010 ist Peter Pollak Direktor des Stadtrechnungshofs Wien.
A Positionsbestimmung - Anforderungen im Umfeld von Wachstum, demografischen Herausforderungen
und Flüchtlingsproblematik
Bevor das Thema der Anforderungen an eine moderne Finanzkontrolle beleuchtet wird, sind die Rahmenbedin-
gungen zu beschreiben. Univ.-Prof. Dr. Magdalena Pöschl hat sich anlässlich des 19. Österreichischen Juristen-
tages im Zuge ihres Gutachtens in der Sektion „Öffentliches Recht" mit dem Thema „Migration und Mobilität"
befasst. Wer auswandert, ist in seiner Heimat unzufrieden, weil Krieg herrscht, weil schlechte politische, wirt-
schaftliche oder soziale Bedingungen bestehen oder weil andere Gründe vorliegen. Andere Staaten können nur
schwer beeinflussen, ob jemand zum Flüchtling wird. Anziehend für Flüchtlinge sind gute Lebensbedingungen
im Zielstaat. Des Weiteren wurde dargestellt, dass auch Netzwerke - je größer die Einwanderungsgemeinde ist,
umso stärker ist die Anziehungskraft - die Wanderungsbewegungen steuern.
Darüber hinaus wurde im Gutachten dargestellt, dass die Migration bezogen auf einzelne Perspektiven ambivalent
ist. Beispielsweise wurde ausgeführt: „Aus einer sozialen Warte sind Migranten für die einen ein Kostenfaktor,
andere wiederum hoffen, dass gerade Migranten künftig unsere Sozialsysteme tragen werden. Aus der Gesundheits-
perspektive fürchten wir, dass Migranten unsere Gesundheitssysteme ausbeuten; zugleich hätten wir gern, dass sie
weiter unsere Alten und Kranken pflegen. Ökonomisch betrachtet sind Migranten bald Konkurrenten, die uns
Arbeitsplätze wegnehmen, bald eine Humanressource, die Lücken am Arbeitsmarkt schließt." (Pöschl, S. 15)
Damit
wird die Herausforderung der demografischen Entwicklung angesprochen. Prof. Dr. Thomas Lenk hat sich
mit diesem Thema in seinem Vortrag „Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die öffentlichen
Finanzen" im Zuge des 1. Symposiums „Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft" im September 2014 in
Meißen auseinandergesetzt. Die demografische Entwicklung in Deutschland ist durch 3 Trends gekennzeichnet.
Der erste Trend ist die Alterung der Bevölkerung. Der zweite Trend ist der absolute Rückgang der Bevölkerung,
wobei seit den 1970er Jahren die negative natürliche Bevölkerungsbewegung durch die räumliche Bevölke-
rungsentwicklung, konkret die Zuwanderung aus dem Ausland, kompensiert wird (Lenk, 41 f.), und der dritte
Trend ist die Pluralisierung von Gesellschaft und Lebensstilen.
Es
wird in der Folge nicht nur die Frage zu beantworten sein, was machen Flüchtlinge mit unserem Geld,
sondern auch die Frage zu stellen sein, ob Flüchtlinge nicht jenen Mehrwert schaffen, der notwendig ist, um
unsere Systeme der öffentlichen Wohlfahrt weiter finanzieren zu können. Letztlich generieren Migranten eine
Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, welche einen Wachstumsanstoß bewirken können, womit die
dritte Anforderung thematisiert wird.
B Bremser
oder Beschleuniger?
Die Fragestellung, ob die Finanzkontrolle als Bremser oder Beschleuniger einzuordnen ist, erscheint auf den
ersten Blick schwierig. Der Bremser ist wichtig, um Unfälle zu verhindern, kann aber auch ein zügiges Fort-
kommen verhindern. Der Beschleuniger fördert das rasche Weiterkommen, kann aber zur Erhöhung der Unfall-
gefahr beitragen, wenn das Fahrzeug vor einem Hindernis nicht mehr rechtzeitig angehalten werden kann. Auf
den zweiten Blick ergibt sich, dass die Finanzkontrolle beides nicht ist, da diese in das Lenken und die
Geschwindigkeit des Fahrzeuges nicht eingreift. Vielmehr ist die Finanzkontrolle - wie sich aus den nachfol-
genden Ausführungen ergeben wird - der Navigator der Verwaltung.
C
Begriff der Kontrolle
I. Definition der Kontrolle im Allgemeinen
Die nachfolgenden Ausführungen erfolgen im Zuge einer Veranstaltung, deren Zielsetzung es ist, neue Perspek-
tiven einer modernen und wirkungsvollen Finanzkontrolle zu gewinnen. Es ist daher eine Festlegung des

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Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
Begriffes „Kontrolle" geboten. Eine nüchterne juristische Definition lautete: Kontrolle ist der Vergleich von
gesetzten Maßnahmen, Tätigkeiten und Handlungsabläufen mit den für sie vorgegebenen und zu erfüllenden
Zielen und Zwecken (Hengstschläger, Gemeinderecht Rz. 119). Im Sinne dieser Festlegung ist die Tätigkeit der
Kontrolle ein Teil des Controllingprozesses, der sich im Wesentlichen aus 4 Phasen zusammensetzt. Dies sind
die Phasen Zielplanung, Ressourcenplanung, Ausführungsphase und Kontrollphase (Trauner, 79).
Besonders ist aber zu betonen, dass einer Kontrollinstanz im Sinne eines kybernetischen Modells des Regelkrei-
ses die Funktion der Rückkopplung (feed-back) zukommt, d. h. die Meldung etwaiger Abweichungen der
Ist-Werte von den vorgegebenen Soll-Werten (Schwab, 149).
Kontrolle dient daher der Überprüfung, ob und wenn ja, in welchem Ausmaß die geplanten Ziele erreicht
wurden. Des Weiteren ist eine Begründung zu erarbeiten, warum Ziele nicht erreicht oder Leistungen nicht
oder kritikwürdig erbracht wurden.
Die Kontrolle in der öffentlichen Verwaltung ist ein unentbehrliches „Konkurrenzsurrogat" (Klug 48), da Ver-
waltungsstellen in der Regel nicht in Wettbewerbskonstellationen tätig werden.
Diese Unentbehrlichkeit ist besonders hervorzuheben, insbesondere im Kontext mit den oben beschriebenen
Anforderungen und deren Maßnahmen seitens der Verwaltung. Die Betreuung von Flüchtlingen und die Bewäl-
tigung der Arbeits-, Ausbildungs- und Besuchsmigration wird weitgehend durch staatliche Maßnahmen erfol-
gen, welche nicht dem Markt überlassen werden sollen, oder vom Markt überhaupt nicht angeboten werden.
Der Generationenvertrag, der als politischer Konsens das Fundament der staatlichen Pensionsvorsorge darstellt,
ist nicht ein Dienstleistungsprodukt einer privaten Ablebensversicherung und somit nicht ein Produkt des
Marktes. Die Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit im Zuge der Ein- und Ausreise von Migranten, die
Erfassung derer Personaldaten, die Steuerung der Migrationsströme zur Sicherstellung der öffentlichen Sicher-
heit werden vom privaten Markt nicht geleistet, sondern sind Kernaufgaben des Staates. Fehlt das Korrektiv
des Marktes, ist eine Kontrolle durch eine unabhängige staatliche Einrichtung ein unabdingbarer Garant für
eine effiziente bzw. effektive Mittelverwendung.
II. Definition Finanzkontrolle im Besonderen
Die Veranstaltung beschäftigt sich konkret mit der Finanzkontrolle, sodass dieser Begriff ebenfalls näher zu
definieren ist. In der österreichischen juristischen Lehre wird die finanzielle Kontrolle als Kontrolle der Geba-
rung angesehen. Im Sinne eines Erkenntnisses des österreichischen Verfassungsgerichtshofes gilt als Gebarung
jedes Verhalten, das finanzielle Auswirkungen hat (Verfassungssammlung 7944/1976). Somit geht der Begriff
„Gebarung" über ein bloßes Hantieren mit finanziellen Mitteln (Tätigen von Ausgaben und Einnahmen, das
Verwalten von Vermögensbeständen) hinaus. Die Gebarung ist Teil der Vollziehung, nicht jedoch die diese Voll-
ziehung bestimmende Gesetzgebung, weshalb sich die Gebarungsprüfung nach der österreichischen Rechtslage
nicht auf Gesetzgebungsakte der Legislativorgane erstrecken darf.
Ungeachtet dessen können die Einrichtungen der öffentlichen Finanzkontrolle aber auch in diesem Bereich
einen wertvollen Betrag leisten. In einem Interview des Oberbürgermeisters von Leipzig, Burkhard Jung, veröf-
fentlicht in der Zeitschrift „Die Zeit" am 30. Juni 2016 führt dieser aus: „Wir hatten ein Altenpflegeheim, ein
wunderschönes Gründerzeitgebäude, das wurde bis 2015 vom städtischen Altenhilfebetrieb genutzt. Nachdem
wir ein neues Pflegeheim gebaut haben, wollten wir im alten Gebäude Flüchtlinge unterbringen. Schlagartig
waren Brandschutzauflagen zu erfüllen, die jenseits aller Vorstellungen liegen. Was jahrelang für alte Men-
schen funktioniert hatte, sollte plötzlich nicht mehr zulässig sein." Auf die Frage, ob er als Oberbürgermeister
nichts unternehmen könne, antwortet er: „Das haben wir natürlich versucht, über den Städtetag zum Beispiel.
Aber die bauordnungsrechtliche Lobby ist sehr stark in Deutschland." Des Weiteren antwortet er auf die Frage:
„Und daran hat auch die Flüchtlingskrise nicht geändert?", mit den Ausführungen: „Wir hatten eine Chance,
aber ich fürchte, wir haben sie vertan. Wir leben in einer solch gesättigten Gesellschaft, dass wir kaum in der
Lage sind, schnell und flexibel etwas wirklich grundsätzlich infrage zu stellen. Ich glaube, das hat vor allem
zwei Gründe: zum einen die Macht der Fachlobbys, zum anderen ganz schlicht Angst."
An dieser Darstellung anknüpfend ist die These aufzustellen, dass Berichte der öffentlichen Finanzkontrolle und
deren unbefangene Darstellung der finanziellen Auswirkungen einer Normenfestlegung der Macht einer Fach-
lobby entgegentreten können. Des Weiteren kann die Einrichtung der Finanzkontrolle die Risiken darstellen und
abwägen, sodass Ängste der politischen Entscheidungsträger relativiert werden oder zumindest ein Weg aufge-
zeigt wird, wie mit diesen Ängsten umgegangen werden kann.

Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
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III. Abgrenzung der Finanzkontrolle zur Rechtmäßigkeitskontrolle
Ein schwieriges Problem der Praxis ist die Abgrenzung der Gebarungskontrolle von der Rechtsmäßigkeitskon-
trolle. Für die Rechtmäßigkeitskontrolle sind die Rechtsschutzeinrichtungen vorgesehen, sodass die Finanzkon-
trolle zu diesen Rechtsschutzeinrichtungen in eine Konkurrenzsituation geraten kann.
Zweifelsfrei hat die Finanzkontrolle die Akte der Gebarung an den für sie geltenden finanz- und haushalts-
rechtlichen Vorschriften zu messen. Bleibt aber die Frage offen, ob die Entscheidung der Verwaltung anhand
jener Vorschriften, die nicht dem Haushaltsrecht zuzurechnen sind, von der Finanzkontrolle zu prüfen sind.
Einhellige Meinung in Österreich ist, dass sich die Prüfung der Rechtmäßigkeit im Rahmen der Prüfung der
Ordnungsmäßigkeit auf gebarungsrelevante Akte der Verwaltung beschränkt, das sind jene, die finanzielle
Auswirkungen, Konsequenzen für die Ausgaben, Einnahmen oder Vermögensbestände haben. In der österreichi-
schen rechtswissenschaftlichen Literatur haben sich mehrfach Autoren zu dem Thema der Rechtmäßigkeitsprü-
fung durch den (Bundes)Rechnungshof geäußert. Hengstschläger, (Rechnungshofkontrolle Rz. 11) führt bei-
spielsweise aus, es liege wohl „am Rechnungshof selbst, das rechte Maß zu finden und sich nicht mehr auf
Fragen der Rechtmäßigkeit einzulassen, als dies für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der zu kontrollierenden
Gebarungsakte notwendig ist". Fiedler (Die Staatspolitische Funktion des Rechnungshofes 11 f.) hat die Kon-
trolldoktrin sogar explizit dahin gehend präzisiert, dass die formalen Ziele der ziffernmäßigen Richtigkeit und
Rechtmäßigkeit gewissermaßen nur „Vorziele" für die auf kontrollpolitisch höherer Stufe stehenden ökonomi-
schen Ziele darstellen. Baumgartner (Bundesverfassungsrecht, Rz. 33) führt wie folgt aus: „Angesichts des
beschriebenen Spannungsverhältnisses ist der Rechnungshof gut beraten, sich bei der Beurteilung von Recht-
mäßigkeitsfragen auf eine Grobprüfung im Hinblick auf evidente Rechtswidrigkeiten zu beschränken. Solange
gebarungswirksamen Akten eine vertretbare (denkmögliche) Rechtsansicht zugrunde liegt, sollte der Rech-
nungshof von rechtlichen Beanstandungen Abstand nehmen.“
Welche Bedeutung diesen Überlegungen in der Praxis zukommt, soll an 2 Beispielen dargestellt werden:
Darf die Finanzkontrolle die Verleihung von Staatsbürgerschaften prüfen?
Ja, da alle Vorgänge geprüft werden dürfen, die finanzielle Auswirkungen haben. Das Kontrollamt (jetzt Stadt-
rechnungshof) Wien hat im April 2007 einen Bericht über die Verleihung von Staatsbürgerschaften in Wien
erstellt. Es wurden Themen wie die Dokumentation der Verfahren, Wirtschaftlichkeit der Erhebungen, Verge-
bührung, längere Zeiträume ohne Bearbeitungsschritte etc. beleuchtet. Es wurde aber keine Beurteilung vorge-
nommen, ob eine Verleihung der Staatsbürgerschaft zu Recht oder Unrecht erfolgte.
Ist die Kreditaufnahme wegen Flüchtlingskosten eine Notsituation?
Laut der Zeitschrift „Behörden-Spiegel" vom Juli 2016 hat die Bremer Bürgerschaft im Juni 2016 einen Haus-
halt beschlossen, wonach mehr Schulden aufgenommen werden, als dies erlaubt sein soll. Bremen vertritt den
Standpunkt, vertragstreu zu sein, da Mehrkosten durch den Flüchtlingszuzug entstünden, und argumentiert,
dass eine außergewöhnliche Notsituation vorliege. Dem wird entgegengehalten, dass die Ausnahme im Grunde
für Naturkatastrophen gedacht sei, die plötzlich auftreten und der staatlichen Gestaltungsmöglichkeit entzogen
sind. Laut der Zeitschrift „Behörden-Spiegel" vom Juli 2016 könnte sich der Stabilitätsrat mit dem Fall
beschäftigen, wenn Bremen einen Antrag auf Ausnahme stellen sollte. Folgt man der Ansicht, dass die in dieser
Causa relevanten Normen den finanz- und haushaltsrechtlichen Vorschriften zuzurechnen sind, sollte die Ein-
schätzung einer Einrichtung der Finanzkontrolle für den politischen Entscheidungsträger von erheblicher
Bedeutung sein. Wenn der Saarländische Rechnungshof der Hansestadt Rückendeckung gibt, indem er die
Meinung vertritt, „dass vom Bund nicht erstattete Migrationsausgaben aufgrund der von ihm zu verantworten-
den Asyl- und Migrationspolitik im Bedarfsfall als Sondereffekt bzw. als besondere Ausnahmesituation gegen-
über dem Stabilitätsrat geltend gemacht werden sollten, um den Erhalt der Konsolidierungshilfen sicherzustellen"
(Zitat aus dem Behörden-Spiegel/August 2016, Seite 6), ist dies eine Meinung, der erhebliche Tragweite zu-
kommen sollte.
IV. Kontrolle als Navigator
Der Gesetzgeber entscheidet durch seine Normenfestlegung über die Ziele, die erreicht werden sollen, so wie
dem Navigator ein Zielort bekannt gegeben wird. Es ist eben nicht die Aufgabe des Navigators, den Zielort
festzulegen, er kann aber eine Beurteilung vornehmen, ob mit den vorhandenen Ressourcen das Ziel überhaupt
erreicht werden kann, oder feststellen, dass der gewählte Kurs vom Zielort wegführt. In diesem Sinn hat der
österreichische Rechnungshof in seiner Strategie (siehe
www.rechnungshof.gv.at/beratung/positionen.html)
festgelegt, dass er Wegekritik, nicht aber Zielkritik ausübt.

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Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
Der Navigator bestimmt jedenfalls den Standort, d. h. den Ist-Zustand der Verwaltung. Er errechnet des Weite-
ren, wie lange die Fahrt noch dauern wird, kann den noch notwendigen Ressourcenverbrauch abschätzen und
vieles mehr, wenn dies gewünscht wird. Die Entscheidung, welcher Kurs gefahren wird, ob die Fahrt langsamer
oder schneller fortgesetzt wird oder sogar die Fahrt abgebrochen wird, ist aber dem Fahrzeugführer vorbehal-
ten und nicht dem Navigator.
Entscheidet sich der Fahrzeugführer zu regelwidrigem Verhalten, hat der Navigator jedenfalls seine Stimme zu
erheben, wenn ein Kurs gefahren wird oder eine Fahrweise gewählt wird, die gegen Vorschriften verstößt, welche
das Verhalten im Verkehr oder die Sicherheit des Fahrzeuges betreffen. Letztlich hat er aber zu akzeptieren,
wenn der Fahrzeugführer die erlaubte Höchstgeschwindigkeit überschreitet oder unbefahrbares Terrain wählt.
D Zeitpunkt der Kontrolle
I. Ab-ante, ex-ante, ex-post Kontrolle
Besonders wichtig ist eine klare Position, zu welchem Zeitpunkt eine Prüfung seitens der Einrichtungen der
Finanzkontrolle zu erfolgen hat.
Eine vorgängige (ab-ante) Kontrolle bedeutet, dass das zu prüfende Verwaltungshandeln noch nicht beendet
ist. Eine derartige Kontrolle greift häufig bereits in die Planungsphase ein. Eine besondere Form der Vorhinein-
Kontrolle ist die begleitende Kontrolle, eine Kontrolle, der die Eigenschaft laufend bzw. in regelmäßigen zeit-
nahen Abständen wiederkehrend wesensmäßig ist (Klug 54).
Die nachgängige Kontrolle erfolgt erst dann, wenn das Verwaltungshandeln abgeschlossen ist. Dies kann in der
Form der ex-ante oder der ex-post Kontrolle erfolgen. Die ex-ante Kontrolle ist nachfolgend, beschränkt sich
aber auf eine Beurteilung aus früherer Sicht, das heißt, bei dieser Beurteilung sind später ablaufende Vorgänge,
die zum früheren Zeitpunkt noch nicht bekannt sein konnten, nicht zu berücksichtigen. Bei der ex-post Kon-
trolle werden hingegen auch nachträglich erkennbar gewordene Vorgänge, insbesondere Sachverhalte in die
Prüfung und die Bewertung des Verwaltungshandelns einbezogen.
II. Vorteile und Nachteile
Der Nachteil der nachfolgenden Kontrolle wird darin gesehen, dass vom geprüften Entscheidungsträger eine
Korrekturhandlung in der geprüften Angelegenheit nicht möglich ist. Gegen die Vorverlegung einer Kontrolle in
die Ausführungsphase spricht aber, dass das Kontrollorgan eine Mitverantwortung übernimmt und sich für eine
abschließende Beurteilung präjudiziert. Es ist sogar die Ansicht zu vertreten, dass hierdurch dem Grundsatz der
Unbefangenheit widersprochen wird (Schwab 158). Daraus sei die Position abzuleiten, dass ein Projekt für eine
Kontrollstelle, welche die begleitende Kontrolle durchgeführt hat, im Nachhinein nicht mehr prüfbar ist.
Dr. Tilmann Schweisfurth hat sich mit diesem Thema im Zuge des o. g. 1. Symposiums „Nachhaltige öffentliche
Finanzwirtschaft" in seinem Vortrag auseinandergesetzt und kommt dem Grunde nach zu einer ähnlichen Ein-
schätzung. Er sieht das zukünftige Prüfungsspektrum der Rechnungsprüfung in einem Feld, welches zwischen
der reinen Rechnungsprüfung und der Strategie-/Systemprüfung liegt. Für Letztere hält er fest: „Der Ansatz der
Prüfung liegt also vor dem Beginn des eigentlichen Verwaltungshandelns." Hinsichtlich der Vor- und Nachteile
wird von ihm dargestellt, dass der größte Vorteil der moderneren Prüfungsansätze gegenüber einer reinen
ex-post Kontrolle in der größeren Bedeutung der beratenden Funktion besteht. Des Weiteren führt er aus:
„Zudem gibt es bessere Möglichkeiten für die Exekutive, bereits bei der Implementierung von Maßnahmen die
Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit wirksamer zur Geltung zu bringen. Damit kann ein wichtiger
Beitrag zur langfristigen Erfolgssicherung der Landespolitik und -verwaltung geleistet und potenzieller Schaden
bereits vor dem Eintreten abgewehrt werden" (Schweisfurth, 86). Er verweist aber auch auf die Gefahr, dass die
Nähe zur Politikberatung eine unabhängige ex-post Kontrolle erschwert.
III. Darstellung der Lage in Österreich
a) Österreichische Verfassungsrechtslage
Der österreichische Verfassungsgesetzgeber hat sich nach Ansicht der herrschenden Lehre dahin gehend ent-
schieden, dass eine begleitende Kontrolle weder durch den Rechnungshof noch durch einen Landesrechnungs-
hof verfassungsrechtlich zulässig ist. Im Zuge einer Fachtagung des Österreichischen Städtebundes wurde von
Prof. Heinz Mayer aber festgehalten, dass „auch wenn man mit Entschiedenheit daran festhalten muss, dass
eine begleitende Kontrolle durch den Rechnungshof oder einen Landesrechnungshof verfassungsrechtlich nicht
gestattet ist, weil eine solche die Grenzen der Verantwortung verwischt", man sehen muss, „dass bei größeren
Projekten eine Kontrolle von Teilprojekten zulässig ist. Eine Prüfung von Detailprojekten kann einer begleiten-
den Kontrolle durchaus nahe kommen; hier wird es Sache des kontrollierenden Rechnungshofes sein, den Prü-

Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
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fungsgegenstand sorgfältig einzugrenzen und Eingriffe in künftige Entscheidungen des kontrollierten Organs
strikt zu vermeiden. Dazu kann es auch notwendig sein, bestimmte Beurteilungen vorläufig zu unterlassen"
(Mayer, 23). Prof. Mayer führte in seinem Referat abschließend aus: „Diese Überlegungen sollen nicht als eine
Absage an eine begleitende Kontrolle per se verstanden werden. Eine solche muss aber im Bereich des jeweili-
gen Rechtsträgers und in einem organisatorischen Naheverhältnis zu den Entscheidungsprozessen stattfinden.
Denn die Einsichten, die bei einer begleitenden Kontrolle gewonnen werden, sollen ja möglichst in Entschei-
dungsprozesse eingebunden werden können. Ganz anders verhält es sich mit der Kontrolle durch einen Rech-
nungshof; diese ist Teil der parlamentarischen Kontrolle und steht im Zusammenhang mit der Realisierung
politischer Verantwortung. Dieser Unterschied darf nicht verwischt werden." (Mayer, 24)
b) Deklaration von Lima
Die Einrichtungen der externen Finanzkontrolle sollten aber auch den internationalen Anforderungen entspre-
chen. Die Deklaration von Lima (ISSAI 1) erfordert, dass Abweichungen von Normen und Verletzungen der
Grundsätze der Gesetzmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit der Gebarung so recht-
zeitig aufgezeigt werden, dass korrektive Maßnahmen im einzelnen Fall ergriffen, die verantwortlichen Organe
haftend gemacht, Schadenersatz erlangt oder Maßnahmen ergriffen werden können, die eine Wiederholung
derartiger Verstöße in der Zukunft verhindern oder zumindest erschweren. Der ehemalige Präsident des öster-
reichischen Rechnungshofes hielt dazu im Zuge einer Fachtagung fest: „ISSAI 1 sieht somit die Bereitstellung
von zeitnahen und entscheidungsrelevanten Informationen für den Teilbereich der korrektiven Maßnahmen
vor" (Moser, 46). Des Weiteren leitete er daraus ab: „Zeitnähe ist entsprechend ISSAI 1 jedenfalls dann gege-
ben, wenn die Möglichkeit des Gegensteuerns vorliegt." Letztlich vertrat er die Ansicht, dass es „für den Rech-
nungshof im Rahmen seines verfassungsmäßigen Auftrages die Möglichkeit gibt, zeitnahe Prüfungsleistungen
zu erbringen, sobald abgeschlossene Gebarungsfälle vorliegen, die zuverlässige Information für Entscheidungs-
träger liefern". Die ISSAI-Richtlinie geht aber auch davon aus, dass Beratungsleistungen zulässig sind, wobei
auch klargestellt wird, dass die Verwaltung die Verantwortung für die Befolgung oder Nichtbefolgung des Gut-
achtens trägt. Gutachten der Finanzkontrolle sollen zukünftigen Feststellungen der Finanzkontrolle nicht vor-
greifen bzw. die effektive Prüfungstätigkeit nicht beeinträchtigen (siehe § 12 der Deklaration von Lima).
Der Ausgleich zwischen den oben dargestellten Vor- und Nachteilen der ab-ante bzw. ex-post Kontrolle kann
somit darin gefunden werden, dass die externe Finanzkontrolle zwar immer ex-post prüft, ihre Prüfungsleis-
tungen aber so zeitnah wie möglich erbringt.
c) Projektkontrolle und Überprüfung von Großvorhaben in zwei Bundesländern
Beispiele einer zeitnahen Prüftätigkeit sind die Projektkontrolle und Gesamtkostenverfolgung von Projekten,
die der steiermärkische Landesrechnungshof (siehe Art. 53 ff. des Landes-Verfassungsgesetzes 2010) vornimmt,
sowie die Kostenüberprüfung von Großvorhaben und Überprüfung der Durchführung von Großvorhaben, welche
dem Landesrechnungshof von Kärnten (siehe §§ 10 ff. des Kärtner-Landesrechnungshofgesetzes 1996) übertra-
gen sind.
1. Steiermark
In der Steiermark hat der Landesrechnungshof ein Vorhaben, das einen in wirtschaftlicher, rechtlicher und
finanzieller Hinsicht einheitlichen Anschaffungs- oder Herstellungsvorgang zum Gegenstand hat, der aufgrund
einer gesamtheitlichen Planung durchgeführt werden soll, und zwar unabhängig davon, ob
1. das Vorhaben in einer oder in mehreren Phasen durchgeführt wird oder
2. die Finanzierung einmalig erfolgt oder sich aus einer Mehrzahl von sachlich abgrenzbaren finanziellen Leis-
tungen zusammensetzt,
zu überprüfen, sofern die Gesamtkosten des Projektes 2 ‰ der Gesamtauszahlung des Finanzierungsbudgets
des gültigen Landesbudgets (die Grenze betrug für das Jahr 2016 rd. 11,52 Mio. €) übersteigen. Ist diese
Voraussetzung nicht gegeben, so kann eine solche Kontrolle auf begründetes Ersuchen der Landesregierung
oder durch Beschluss des Landtages vorgenommen werden. Der Landesrechnungshof hat dann binnen
3 Monaten ab Vorliegen aller Unterlagen zu prüfen und der Landesregierung sowie dem Kontrollausschuss des
Landtags einen Projektkontrollbericht vorzulegen.
Im Rahmen dieser Gesamtkostenverfolgung besteht eine Verpflichtung der Projektträger, Änderungen des Pro-
jektes zu melden und das tatsächlich zur Ausführung gelangende Projekt samt den Soll-Kosten- und Folge-
Kosten-Berechnungen vorzulegen. Dem Landesrechnungshof sind überdies während der Projektabwicklung
Quartalsberichte über die Gesamtkostenentwicklung vorzulegen, worauf dieser zu prüfen hat, ob die Quartals-
berichte mit den Soll-Kosten- und Folge-Kosten-Berechnungen übereinstimmen.

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Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
Treten während der Durchführung des Projektes gegenüber der Soll-Kosten-Berechnung Überschreitungen von
mehr als 20 % auf oder ist mit einer solchen Überschreitung zu rechnen, so haben die Projektverantwortlichen
dies dem Landesrechnungshof mit ausführlicher Begründung bekannt zu geben. Kostensteigerungen, die auf
die Erhöhung des Baukostenindexes zurückzuführen sind, bleiben unberücksichtigt. Der Landesrechnungshof
hat die vorgelegten Unterlagen zu prüfen und binnen eines Monats der Landesregierung und dem Kontrollaus-
schuss des Landtages zu berichten.
2. Kärnten
In Kärnten obliegt dem Landesrechnungshof vor der Durchführung von beabsichtigten Großvorhaben die Über-
prüfung der Soll-Kosten- und der Folge-Kosten-Berechnungen.
Als Großvorhaben gilt ein Vorhaben, das einen in wirtschaftlicher, rechtlicher und finanzieller Hinsicht einheit-
lichen Anschaffungs- oder Herstellungsvorgang, der aufgrund einer gesamtheitlichen Planung durchgeführt
werden soll, zum Gegenstand hat, und zwar unabhängig davon, ob das Vorhaben in einer oder in mehreren
Phasen durchgeführt wird und ob die Finanzierung einmalig erfolgt oder sich aus einer Mehrzahl von sachlich
abgrenzbaren finanziellen Leistungen zusammensetzt und von außergewöhnlicher finanzieller Bedeutung ist.
Von außergewöhnlicher finanzieller Bedeutung ist jedenfalls ein Vorhaben, dessen Gesamtkosten 2 ‰ des
Gesamtausgabenvolumens des letztgültigen Landesvoranschlages (die Grenze betrug für das Jahr 2016 rd.
5,2 Mio. €) übersteigen.
Die Berechnungsunterlagen sind vor der Beschlussfassung über die Durchführung von Großvorhaben durch jene
Stelle, die die Berechnungsunterlagen zu erstellen hat, dem Landesrechnungshof zu übermitteln. Der Landesrech-
nungshof hat innerhalb von 3 Monaten nach der Übermittlung die Berechnungsunterlagen auf ihre ziffernmäßige
Richtigkeit sowie auf ihre Nachvollziehbarkeit zu prüfen und in einem Bericht zusammenfassend darzustellen.
Der Bericht ist jedenfalls der Landesregierung, dem Kontrollausschuss des Landtages und ggf. dem geprüften
Rechtsträger zu übermitteln.
Dem Landesrechnungshof obliegt des Weiteren die Überprüfung der Durchführung von Großvorhaben dahin
gehend, ob bei einzelnen oder bei mehreren Durchführungsphasen die tatsächlich angefallenen Kosten die
Soll-Kosten-Berechnungen übersteigen.
Treten während der Durchführung von Großvorhaben bei einzelnen Durchführungsphasen Kostenüberschrei-
tungen von mehr als 20 % gegenüber den Soll-Kosten-Berechnungen auf oder ist mit Kostenüberschreitungen
zumindest in dieser Höhe zu rechnen, sind die zur Erstellung der Kostenberechnungsunterlagen verhaltenen
Stellen verpflichtet, diese Umstände umgehend dem Landesrechnungshof, versehen mit einer ausführlichen
Begründung für die Ursachen der Kostenüberschreitungen, zur Kenntnis zu bringen. Kostenüberschreitungen,
die allein auf die Erhöhung des Baukostenindexes zurückzuführen sind, haben dabei unberücksichtigt zu bleiben.
Der Landesrechnungshof hat über das Ergebnis von Überprüfungen u. a. der Landesregierung und dem Kon-
trollausschuss des Landtages zu berichten.
3. Rechtliche Bewertung
Der ehemalige Direktor des oberösterreichischen Landesrechnungshofes hat hierzu die Meinung vertreten, dass
es sich bei diesen Aufgaben um eine nachgängige Kontrolle handelt, da auch die Projekt- und Großvorhaben-
prüfung auf bereits vorliegende Planungen und Kostenberechnungen abstellt (Brückner, 59). Er führt des Wei-
teren aus: „Im Sinne einer höchst aktuellen Ergebniskontrolle kann nachprüfende Kontrolle so zeitnah gestaltet
werden, dass noch rechtzeitig Gegenmaßnahmen eingeleitet und Ansprüche gegen Dritte geltend gemacht
werden können. Wichtig dabei ist aber, festzuhalten, dass über die Gegenmaßnahmen nicht der Landesrech-
nungshof, sondern die geprüfte Stelle entscheidet." (Brückner, 59 f.)
d) Resolutionen
Die österreichischen Landesrechnungshöfe haben im Mai 2011 einen Beschluss gefasst, der klarstellt, dass die
Landesrechnungshöfe ex-post prüfen und eine begleitende Kontrolle dem Wesen einer unabhängigen öffentli-
chen Finanzkontrolle widersprechen würde. Dies entspricht auch der Meinungsbildung des Fachausschusses für
Kontrollamtsangelegenheiten im Österreichischen Städtebund. Dieser hat anlässlich einer Tagung am
11. Oktober 2001 unter anderem beschlossen: „Die begleitende Bau- und Projektkontrolle gehört nicht zu den
klassischen Aufgaben eines Kontrollamtes, wohl aber eine zeitnahe Kontrolle in Teilabschnitten bis zur Fertig-
stellung des Projektes."

Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
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IV. Exkurs: Europäische Normen zum privaten Wirtschaftssektor
Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass auch im privaten Wirtschaftssektor die Unbefangenheit der
Abschlussprüfer und von Prüfungsgesellschaften als wesentliches Element angesehen wird. Jüngst wurde in der
Richtlinie 2014/56/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 zur Änderung der Richt-
linie 2006/43/EG über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen im Erwä-
gungsgrund Nr. 6 festgehalten: „Damit Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften bei der Durchführung von
Abschlussprüfungen von den geprüften Unternehmen noch unabhängiger sind, sollten ein Abschlussprüfer oder
eine Prüfungsgesellschaft sowie jede natürliche Person, die mittelbar oder unmittelbar in der Lage ist, das
Ergebnis der Abschlussprüfung zu 'beeinflussen', von dem geprüften Unternehmen unabhängig und nicht in
dessen Entscheidungsprozesse eingebunden sein." Des Weiteren wird im Erwägungsgrund Nr. 8 der Verordnung (EU)
Nr. 537/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über spezifische Anforderungen an die
Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse und zur Aufhebung des Beschlusses
2005/909/EG der Kommission ausgeführt: „Wenn Abschlussprüfer, Prüfungsgesellschaften oder Mitglieder ihrer
Netzwerke für geprüfte Unternehmen bestimmte andere Leistungen als Prüfungsleistungen (Nichtprüfungsleis-
tungen) erbringen, kann dies ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen. Deshalb ist es angemessen, die Erbringung
bestimmter Nichtprüfungsleistungen wie etwa spezielle Steuerberatungs- und Beratungsdienstleistungen für
das geprüfte Unternehmen, dessen Muttergesellschaft und die von ihr beherrschten Unternehmen innerhalb
der Union zu verbieten."
Daraus ist vereinfacht abzuleiten, wer prüft, soll nicht den Geprüften beraten haben. Der Prüfer ist der Gefahr
der Befangenheit ausgesetzt. Zielsetzung ist, ein möglichst von Eigeninteressen des Prüforganes freies und
objektives Prüfungsurteil zu gewährleisten. Dieser Gedanke sollte auch für die öffentliche Finanzkontrolle
maßgeblich sein.
V. Zeitpunkt der Navigation
Moderne Navigationsgeräte verarbeiten blitzschnell alle Daten und teilen stetig die gewünschten Informatio-
nen mit. Die Zieleingabe und das Steuern sowie das Festlegen der Geschwindigkeit verbleiben aber beim Fahr-
zeugführer, sodass Navigationsgeräte maximal zeitnah den Ist-Stand bekannt geben, aber niemals in die Steu-
erung eingreifen. Übernimmt die Navigation auch die Steuerung, wird sie zum Autopiloten, wodurch sie dem
Fahrzeugführer seine Verantwortung teilweise abnimmt. Dessen Verantwortung reduziert sich auf die Ent-
scheidung, den Autopiloten ein- oder auszuschalten.
An dieser Stelle sei nochmals klargestellt, dass Navigationsgeräte weder bremsen noch beschleunigen, Autopi-
loten übernehmen diese Aufgabe aber sehr wohl. Die Aufgaben der externen Finanzkontrolle sollte sich auf die
Navigation beschränken, jedoch die Raschheit moderner Navigationsgeräte anstreben.
E Unabhängigkeit der Einrichtung
I. Ausprägungen der Unabhängigkeit
Der Status der Unabhängigkeit umfasst, wie die Direktorin des niederösterreichischen Landesrechnungshofes in
ihrem Referat im Zuge des o. g. 1. Symposiums „Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft" dargestellt hat,
sowohl eine organisatorische, eine funktionelle als auch finanzielle Unabhängigkeit von der geprüften Stelle
(Goldeband, 93).
Die organisatorische Stellung der Finanzkontrolle ist ein wesentlicher Aspekt bei der Beurteilung, ob und in
welchem Ausmaß die Finanzkontrolle von der Verwaltung unabhängig ist. In der öffentlichen Verwaltung
bestehen in der Regel interne Kontrolleinrichtungen, die aufgrund ihres Arbeitsauftrages bzw. ihrer Aufgaben-
stellung für die Verwaltung ein Instrument der internen Prüfung und Beratung sind. In den internationalen
Standards für die berufliche Praxis der Internen Revision wird die Tätigkeit der Internen Revision als Prüfungs-
und Beratungsdienstleistung definiert. Davon zu unterscheiden sind Einrichtungen der externen Kontrolle,
welche von der Verwaltung unabhängig sind bzw. unabhängig sein sollten, d. h. sie sind aus der staatlichen
Behördenstruktur herausgenommen.
Funktionelle Unabhängigkeit heißt ausschließliche Bindung an das Gesetz und Weisungsfreiheit im Verhältnis
zur Verwaltung, vor allem Ausschaltung jeglicher Einmischungsmöglichkeit betreffend den Umfang und die Art
der Prüfungsarbeit sowie den Inhalt der zu treffenden Feststellungen. An dieser Stelle ist noch anzuführen,
dass eine begleitende Kontrolle einen Eingriff in diese Unabhängigkeit darstellen kann. Unabhängigkeit bei der
Erstellung eines Berichtes bedeutet nämlich auch, dass der Zeitpunkt bestimmt werden kann, zu dem eine
Prüffeststellung erfolgt. Diese wird erst dann erfolgen, wenn die Erhebungen und Ermittlungen als vollständig
angesehen werden. Terminzwänge im Zuge der begleitenden Kontrolle können diese Unabhängigkeit schmä-

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Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
lern, indem Berichte zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erstellen sind, obwohl die Prüftätigkeit nicht abge-
schlossen ist oder eine Notwendigkeit zur Rechtfertigung entsteht, warum ein Bericht noch nicht erstellt wurde.
Für die Beurteilung der Unabhängigkeit einer Kontrollinstitution ist überdies von Relevanz, ob Prüfungsberichte
veröffentlicht werden. Die Veröffentlichung von Prüfergebnissen stellt sicher, dass diese vollständig wiederge-
geben werden und nicht die Verwaltung den Prüfbericht nur teilweise oder im Sinne ihrer Interpretation publi-
ziert. Überdies hemmt die Veröffentlichung die mögliche Neigung der geprüften Einrichtung bzw. des politisch
Verantwortlichen zur Einflussnahme auf die Prüfung oder den Prüfbericht, da diese das Risiko eingehen, dass
die Intervention im Prüfbericht veröffentlicht wird. Werden die Ergebnisse der Kontrolle öffentlich zugänglich,
kann die wahlberechtigte Bevölkerung bei Wahlen oder anderen Formen der direkten Demokratie das Verhalten
der Regierungen bewerten und beeinflussen.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Möglichkeit eines Rederechtes des Leiters einer Kontrolleinrichtung vor
dem höchsten politischen allgemeinen Vertretungskörper. Dies gibt dem Leiter die Möglichkeit, ohne Dazwi-
schentreten der Verwaltung die Prüfergebnisse zu kommentieren oder darzustellen, dass die Ressourcenpla-
nung hinsichtlich der Kontrolleinrichtung keine optimale unabhängige Prüftätigkeit sicherstellt. Hierdurch soll
vor allem die finanzielle Unabhängigkeit der Finanzkontrolle geschützt werden.
II. Bedeutung der Unabhängigkeit
Zweifelsfrei wird die Flüchtlingsproblematik die politischen Entscheidungsträger veranlassen, die zur Bewälti-
gung dieser Aufgabe notwendigen Ressourcen sicherzustellen. Des Weiteren werden demografische Verände-
rungen zu einer anderen Ausgabenpolitik führen. Erhöhte Aufwendungen in diesen Bereichen können durch
Mehreinnahmen oder Ausgabenkürzungen in anderen Bereichen gedeckt werden. Werden die Ressourcen für die
Finanzkontrolle gekürzt, soll diese zumindest die Möglichkeit haben, diese Kürzungen in der Öffentlichkeit
transparent darstellen zu können.
Politische Entscheidungen im Umfeld von Wachstum, demografischen Herausforderungen und Flüchtlingsprob-
lematik sind sicherlich schwierig. Die Tätigkeit der Finanzkontrolle kann in oder unmittelbar nach Entschei-
dungsabläufen als Belastung empfunden werden, sodass die Versuchung aufkeimen könnte, zu behaupten, dass
die Prüftätigkeiten zur Unzeit stattfinden oder Feststellungen aus der Sicht der Finanzkontrolle einer politi-
schen Abwägung zuwiderlaufen würden. Eine starke Unabhängigkeit der Finanzkontrolle soll sicherstellen, dass
derartige Überlegungen auf die Tätigkeit der Finanzkontrolle keinen Einfluss nehmen können, vielmehr hat die
Finanzkontrolle zu jeder Zeit ein sachliches Gutachten zu liefern, so wie der Navigator die Position eines Schiffes
sowie deren Kurs errechnet, gleichgültig, ob eine laue Brise bläst oder ein starker Sturm fegt, ob die Sicht gut
oder schlecht ist oder auf der Brücke gestritten wird oder Gelassenheit herrscht.
F Kontrollwirkung
In einem geschlossenen System besteht die Kontrollwirkung darin, dass das Kontrollergebnis zwingend zu einer
Korrektur des Soll- und/oder Ist-Zustandes führt. Im Bereich der Rechtskontrolle ist dies in der Regel der Fall,
wenn die Entscheidung eines Obergerichtes für das Untergericht in einer Causa, die im Rechtsmittelweg vom
Obergericht entschieden wurde, verbindlich ist. Im offenen Kontrollsystem werden unverbindliche Empfehlun-
gen erstellt, die zur Korrektur führen können, aber nicht zwingen (Klug 46).
Für den Bereich der Finanzkontrolle ist in Deutschland und Österreich das System der offenen Kontrolle in der
Regel vorzufinden. Dies ist auch sinnvoll, da die demokratisch legitimierten Entscheidungsträger darüber befin-
den sollen, wie sich das ökonomische Wachstum entwickeln soll, wie die demografischen Herausforderungen
bewältigt werden sollen und wie die Flüchtlingsproblematik zu lösen ist und nicht die Einrichtungen der Finanzkon-
trolle. Die Einrichtung der Finanzkontrolle bremst nicht und beschleunigt auch nicht. Wenn der politische Ent-
scheidungsträger aufgrund der Expertise der Finanzkontrolle bremst oder beschleunigt, ist es letztlich seine
Verantwortung und er hat sich in regelmäßigen Abständen einer Wahl durch den Souverän zu stellen. Die
öffentliche Finanzkontrolle erfüllt die Aufgabe der Navigation. Dies ist Verantwortung genug.

Panel 2: Bremser oder Beschleuniger? Positionsbestimmung moderner Rechnungsprüfung
| 77
Literaturverzeichnis
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14. Lieferung (2014), Art. 126b B-VG
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und Kontrolle (2011)
Fiedler, Die Staatspolitische Funktion des Rechnungshofes (1994)
Goldeband, Rechnungshöfe und Politik, in Finanzkontrolle in Sachsen, Band 6, Schriftenreihe des
Sächsischen Rechnungshofs, S. 91 ff.
Hengstschläger, in Klug/Oberndorfer/Wolny (Hrsg.), Das Österreichische Gemeinderecht, 16. Teil Ge-
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Pöschl, 19. Österreichischer Juristentag (ÖJT) Band I/2, Hrsg. Österreichischer Juristentag, 14 ff.
Schwab, Kontrollsysteme, in das öffentliche Haushaltswesen in Österreich, Jahrgang 12 (1971),
Heft 2-3
Schweisfurth, Neue Instrumente der Rechnungsprüfung, in Finanzkontrolle in Sachsen, Band 6,
Schriftenreihe des Sächsischen Landesrechnungshofes, 85 ff.
Trauner, Verwaltungsmanagement in der Gemeinde, in Kahl (Hrsg.), Offen in eine gemeinsame Zu-
kunft, 2012, 55 ff.

Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
| 79
Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
Richard Höptner, Präsident a. D. des Niedersächsischen Landesrechnungshofs
Richard Höptner studierte Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen. Er war zunächst im Nieder-
sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur und später im Niedersächsischen Finanzministerium
Leiter des Haushaltsreferats. Von 2008 bis Februar 2016 war er Präsident des Niedersächsischen Landesrech-
nungshofs.
Ich danke dem Sächsischen Rechnungshof und insbesondere seinem Präsidenten für die Einladung. Ich freue
mich, als ehemaliger Präsident eines Rechnungshofes über die Wandlung der Aufgabenstellung der externen
Finanzkontrolle sprechen zu dürfen. Es ist ein Thema, das mich gerade in den letzten Jahren meiner Amtszeit
stark beschäftigt hat:
Wie
muss sich unser Auftrag entwickeln, damit wir der Gesellschaft optimal dienen können?
Ich will dabei nicht weiter eingehen auf das tägliche Prüfgeschäft, auf die Frage, ob ex-post, ex-ante oder ad-
ante zu prüfen ist. In Niedersachsen fand in den letzten Jahren eine deutliche Verschiebung hin zu ad-anten
Prüfungen statt. Jedes große Bauvorhaben wird im Planungsstadium geprüft und die ganz großen Bauvorhaben
werden auch begleitend geprüft, aber das soll hier nicht das Thema sein.
Und ich will auch nicht weiter eingehen auf die Verschiebungen von der Ordnungsmäßigkeitsprüfung hin zur
Wirtschaftlichkeitsprüfung und damit zur Beratung, die der Kollege Dr. Tilmann Schweisfurth beim ersten
Symposium im September 2014 so treffend dargelegt hat. Ich kann insofern nur auf seine Ausführungen ver-
weisen.
Mein Thema heute sollen die langfristigen Perspektiven sein, die auch Herr Minister a. D. Jens Bullerjahn heute
Morgen angesprochen hat:
Ich
werde versuchen diese Fragen in 10 Thesen zu fassen.
These
1:
Es ist zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass Rechnungshöfe nicht nur Berater sind, sondern auch poli-
tical player. Wir leben in einer Mediengesellschaft, und diese Mediengesellschaft sorgt dafür, dass alle halb-
wegs skandalträchtigen Meldungen auch entsprechend publiziert werden. Rechnungshöfe müssen dies berück-
sichtigen, sie können damit aber auch arbeiten. Viele meiner Kollegen, auch ich selber, nutzen die mediale
Option, sie werden damit aber auch automatisch zum political player. Rechnungshöfe haben durch die mediale
Öffentlichkeit Einfluss auf politische und damit auf gesellschaftliche Entwicklungen, die meines Erachtens über
die schlichte Beratertätigkeit hinausgehen kann.
Rechnungshöfe
haben dabei allerdings zu berücksichtigen, dass sie kein unmittelbares demokratisches Mandat
haben. Ihre Vorschläge müssen daher so positioniert werden, dass die demokratisch Legitimierten, also die
Legislative eine Chance hat, damit verantwortungsvoll umzugehen.
Und
dies ist angesichts der indifferenten Grundströmungen in der Gesellschaft nicht einfach: Auf der einen
Seite fordert die Gesellschaft einen festen Ordnungsrahmen, der am besten auch noch aus der guten alten Zeit
übernommen werden sollte, auf der andern Seite werden alle Beschränkungen der persönlichen Freiheit abge-
lehnt. Die Montagsdemonstrationen hier in Dresden sind dafür ein guter Beleg.

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Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
These 2: Die Akzeptanz staatlichen Handelns schwindet
Rechtsrahmen staatlicher Handlungsoptionen wird verkannt
Globalisierung
Europäische Verträge
Föderalismus
oberflächliche mediale Berichterstattung
generelle Angst vor Veränderung
mangelhafte Kommunikation
Welche Gründe gibt es für diese Akzeptanzkrise?
Zunächst einmal wird verkannt, dass sich Politik nur innerhalb eines limitierten Handlungsrahmens bewegen
kann.
Das war zu Zeiten des Nationalstaates einfach. Es gab eine selbst definierte Rechtsordnung, die man bei Bedarf
- wenn auch nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Grenzen - ändern konnte.
Aber die Zeiten sind vorbei. Zwar haben wir in vielen Politikfeldern noch immer eine allein definierte Rechts-
ordnung, in wesentlichen Bereichen limitieren aber die Globalisierung der Wirtschaft, die europäischen Verträ-
ge oder der Föderalismus den Handlungsspielraum von Bund und Ländern, von Legislative und Executive.
Die mediale Berichterstattung blendet diese vielfach aus. Sie erweckt den Eindruck, Politik könne handeln,
obwohl bi- oder multilaterale Verträge dies ausschließen.
Hinzu tritt eine generelle Ablehnung von Veränderung. Die Angst vor sozialem Abstieg führt in Teilen der
Gesellschaft zu diesem Phänomen, dem in Zeiten einer unausweichlichen Globalisierung nicht Rechnung ge-
tragen werden kann.
Tritt dann noch eine mangelhafte politische Kommunikation hinzu, ist die Krise perfekt.
Staatliches Handeln wird in der klassischen Lehre normativ oder funktional legitimiert:
Nach der normativen Legitimationstheorie muss jede staatliche Entscheidung zurückführbar sein auf höherran-
giges Recht und damit letztendlich auf die parlamentarische Legitimation durch Wahl. Es geht um den klassi-
schen juristischen Anspruch, dass alle Macht vom Volke auszugehen hat.
Nach der funktionalen Legitimationstheorie ist vereinfacht gesprochen alles legitim, was dem Gemeinwohl
dient, was also nützlich ist. Problem dieser Theorie ist, dass es in vielen Fällen keinen gesellschaftlichen Kon-
sens über die Gemeinwohlförderlichkeit von notwendigen Entscheidungen gibt. Als Beispiele können genannt
werden die Diskussion über Stromtrassen, die Agenda 2010 oder die Euro-Rettung.
Beiträge der Rechnungshöfe zur Stärkung staatlicher Legitimation
Schaffung von Transparenz
Einfordern juristischer Konsequenz
Europatreue
Bundestreue
Rechts- und Verfassungstreue
Einfordern unpopulärer (nicht gemeinwohldienlicher) Entscheidungen
Herausarbeiten von Verantwortlichkeiten
Betonung politischer Entscheidungsprärogative
Betonung des parlamentarischen Letztendscheids

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Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
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Rechnungshöfe müssen sich dieser Situation stellen:
Sie haben Transparenz zu schaffen,
sie müssen juristische Konsequenz insbesondere Bundes- und Europatreue einfordern und
sie müssen unpopuläre Entscheidungen einfordern, insbesondere diejenigen, die nicht gemeinwohlorientiert
sind. Denn gerade hier gibt es Sachzwänge, die Rechnungshöfe aufgreifen und thematisieren müssen.
These 3: Rechnungshöfe können nur im Rahmen ihres Auftrages überzeugen
Konzentration auf den verfassungsmäßigen Auftrag
Art. 70 NV: LRH prüft … die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung
fachliche Neutralität
objektive Sachverhaltsfeststellung
saubere juristische Subsumtion
politische Neutralität
Rechnungshöfe können damit einiges zur Steigerung der öffentlichen Akzeptanz staatlichen Handelns beitra-
gen, sie müssen sich dabei aber immer ihrer Grenzen bewusst sein. Es mag dahinstehen, ob Rechnungshöfe
staatliche Organe sind, wie immer wieder behauptet wird, im Kern sind sie Behörden. Sie agieren auf der Basis
eines begrenzten Verfassungsauftrages. Dieser sichert die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit ihrer Arbeit,
begrenzt sie aber auch auf die Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsfüh-
rung.
Rechnungshöfe haben den Auftrag, in diesem Rahmen Transparenz zu schaffen und Verantwortlichkeiten her-
auszuarbeiten, aber immer unter Betonung des parlamentarischen Letztentscheides.
Dabei haben sie fachlich wie politisch Expertise und Neutralität an den Tag zu legen, denn nur so können sie
überzeugen.
These 4: Rechnungshöfe müssen Entwicklungen antizipieren
Rechnungshöfe entscheiden nicht, sie informieren und beraten.
Wer ist mein Adressat?
Wann erreiche ich Ihn?
Wie kann ich ihn überzeugen?
Was ist zum Zeitpunkt der Berichterstattung relevant?
Was muss ich dementsprechend prüfen?
Welche Handlungsempfehlungen können sich aus den Prüfungen ergeben?
Berichte des Rechnungshofes können nur dann eine befriedigende Resonanz finden, wenn sie den richtigen
Adressaten zum richtigen Zeitpunkt erreichen.
Der Adressat ist i. d. R. leicht zu bestimmen, es ist je nach Thema die Behörde, Executive oder Legislative.
Schwieriger ist die Frage des Zeitpunktes. Beachtung finden Bemerkungen eines Rechnungshofes, wenn sie für
anstehende Entscheidungen relevant sind. Ex-post Bemerkungen sind zwar interessant und notwendig, sie
lösen aber nur dann Handlungsbedarf aus, wenn sich aus ihnen Konsequenzen für künftige Prozesse aufdrän-
gen.
Rechnungshöfe sollten deshalb die Relevanz ihrer Prüfungen antizipieren. Sie sollten sich schon bei der Prü-
fungsplanung überlegen, welche Themen zum Zeitpunkt der Berichterstattung von besonderem Interesse sein
könnten und daran ihre Prüfungstätigkeit ausrichten. Angesichts der Prüfungsdauer setzt dies eine Voraus-
schau von ca. 3 Jahren voraus. Selbstverständlich kann eine soweit vorausgreifende Prüfungsplanung nicht das
gesamte Prüfungsgeschäft des Rechnungshofes umfassen, für ein Schwerpunktthema ist es aber ein probates
Mittel.
In Niedersachsen sind wir diesen Weg mit gutem Erfolg gegangen, beispielsweise mit dem Thema Schulden-
bremse.

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Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
These 5: Ausgliederung und „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben müssen extern begleitet werden
Große Modellvielfalt
Eigenbetriebe
Stiftungen
Gesellschaften mit und ohne Drittbeteiligung
Zuwendungsfinanzierung
gesetzlich basierte Finanzhilfen (freie Wohlfahrtsverbände)
Betreiberverträge
ÖPP
Solange Land oder Kommunen eine Gewährleistungspflicht haben muss die externe Finanzkontrolle auch
umfassende Prüfungsrechte haben.
Es darf im staatlichen Bereich keine prüfungsfreien Räume geben, das ist allgemeiner Konsens.
In der Praxis ist dieser Grundsatz allerdings nur mit Schwierigkeiten umzusetzen. Probleme bereiten bspw.
Ausgliederungen, die laufend in höchst unterschiedlicher Form geschaffen werden. Wir kennen
Eigenbetriebe,
Stiftungen (in Niedersachsen bspw. Hochschulen),
Gesellschaften mit und ohne Drittbeteiligung,
die Finanzierung öffentlicher Aufgaben durch Zuwendungen,
gesetzlich basierte Finanzhilfen (in Niedersachsen z. B. freie Wohlfahrtsverbände oder Studentenwerke),
Betreiberverträge (z. B. im Rahmen der Flüchtlingsunterbringung),
ÖPP usw.
Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann diese Liste nicht haben, da ständig neue Formen der Staatsflucht
erfunden werden.
Die Durchsetzung von Prüfungsrechten in diesen Bereichen ist schwierig, teilweise auch nur mit gerichtlicher
Hilfe zu realisieren. Rechnungshöfe müssen sich diesen Auseinandersetzungen stellen; zum einen bereits im
Prozess der Ausgliederung selbst, in dem sie sich entsprechende Prüfungsrechte einräumen lassen, zum andern
aber auch durch konsequentes Einfordern ihrer Rechte.
Solange Land und Kommune eine Gewährleistungspflicht haben, muss die externe Finanzkontrolle auch die
passenden Prüfungsrechte haben
These 6: Die überörtliche Kommunalprüfung muss zu den Rechnungshöfen
Aufgabenerledigung von Ländern und Kommunen sind untrennbar verbunden
Schule
Sozialfürsorge
Flüchtlingsaufnahme
Systemprüfungen müssen in diesen Fällen beide Seiten einbinden
Umsetzung von Prüfungsergebnissen fordert beide Seiten
Auf Länderebene werden öffentliche Aufgaben in einem engen Zusammenwirken von Staat und Kommune
bewältigt. Dies gilt insbesondere für die hoch ausgabewirksame Daseinsfürsorge wie bspw. Sozialfürsorge,
Schule oder Krankenhausversorgung. Gerade die Probleme der Unterbringung von Flüchtlingen im letzten Jahr
hat sehr deutlich gemacht, dass Land und Kommunen solche Aufgaben nur gemeinsam erledigen können - und
dass es kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander im Lande geben muss.
Umfassend geprüft werden können diese Aufgaben nur, wenn neben der staatlichen Verwaltung auch die
kommunale Umsetzung in den Blick genommen wird.
Die überörtliche Kommunalprüfung gehört deshalb aus meiner Sicht zu den Rechnungshöfen. Es sollte in
Bereichen einer integrierten Aufgabenerledigung nur abgestimmte Prüfungen geben, die die Probleme beider
Seiten aufgreifen und die sich an beide Seiten richten.

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Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
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These 7: Der Verfassungsauftrag der Rechnungshöfe bedarf der Ergänzung
Akzeptanzprobleme des Staates liegen jenseits der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
Politisch und wirtschaftlich unabhängiges Organ ohne Eigeninteresse kann Diskussionen versachlichen
Verfassungsgerichte
Rechnungshöfe
Die bisher vorgetragenen Thesen bewegten sich im Rahmen des aktuellen Verfassungsauftrages. Er beschränkt
sich zurzeit auf die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Haushaltswirtschaft. Die-
ser Auftrag, erstmalig erteilt von August dem Starken vor über 300 Jahren, greift angesichts der geschilderten
Akzeptanzprobleme von Executive und Legislative m. E. zu kurz, seine Ergänzung sollte geprüft werden. Rech-
nungshöfe können mehr leisten.
In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es nur noch wenige Einrichtungen, die allgemein oder doch zumindest
überwiegend als objektiv und neutral anerkannt werden. Das sind dieses die Verfassungsgerichte, aber eben
auch die Rechnungshöfe.
Es sollte deshalb geprüft werden, wie dieses Phänomen zur Steigerung der Akzeptanz öffentlichen Handelns
genutzt werden kann. Auch dazu einige Thesen:
These 8: Bei Einführung einer Normenkontrolle sollte die Expertise der Rechnungshöfe genutzt werden
Im Gesetzgebungsverfahren:
Prüfung der Gesetzesfolgenabschätzungen und Wirtschaftlichkeitsberechnungen
Im Vollzug:
Prüfung der Wirksamkeit
Rechnungshöfe agieren auf der Basis der geltenden Rechtsordnung. Sie haben nicht die Aufgabe, die legislative
Meinungsbildung zu kommentieren oder Entscheidungen infrage zu stellen. Diese Binsenweisheit bedarf der
Feststellung, wenn man über eine Einbindung der Rechnungshöfe in legislative Prozesse nachdenkt.
Gleichwohl gibt es Bereiche, in denen die Legislative die Expertise der Rechnungshöfe heranziehen und nutzen
könnte.
Ein Bereich wären Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Gesetzesfolgenabschätzungen, die von der Executiven
zu jedem Gesetzgebungsantrag erstellt werden müssen. Sie zu prüfen und ihre Tragfähigkeit zu beurteilen,
könnte eine Aufgabe für die Rechnungshöfe sein.
Ein zweiter Bereich, gerade bei Leistungsgesetzen wäre eine Wirksamkeitskontrolle. Erreichen gesetzliche
Regelungen die intendierten Ziele? Rechnungshöfe stellen diese Fragen bereits heute, allerdings ihrem Auftrag
entsprechend unter Kostengesichtspunkten. Eine stärkere Betonung der Nutzenseite könnte im Sinne einer
Beratung der Legislativen liegen.
These 9: Öffentliche Verwaltung braucht ein Compliance-Management
Rechtstreue des Bürgers erfordert Rechtstreue der Exekutive
Umsetzungsgrad von Fachgesetzen teilweise mangelhaft
Kenntnis des Europarechts in einigen Fachressorts rudimentär
Beihilferecht
Föderalismusreform II / Schuldenbremse
Für international agierende Konzerne ist ein wirkungsvolles Compliance–Management ein unverzichtbares
Instrument.
Gleiches gilt allerdings auch für öffentliche Einrichtungen.
Wie kann der Staat von seinen Bürgern glaubhaft verlangen Steuern zu zahlen, wenn er selbst bspw. den Ver-
fassungsauftrag der Schuldenbremse nicht einhält? Akzeptanz setzt Glaubwürdigkeit voraus und diese ist nur
sicherzustellen, wenn alle Seiten sich ihrer Verpflichtungen bewusst sind.

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Panel 2: Wandel der Aufgabenstellung öffentlicher Finanzkontrolle
Nach meinen Erfahrungen muss das Europäische Recht, insbesondere das europäische Beihilferecht deutlich
stärker in den Fokus der Verwaltung gerückt werden.
Gleiches
gilt auch für den Umsetzungsgrad von Fachgesetzen.
Auch hier könnten Rechnungshöfe aktiv werden.
These
10: Die Basis ist fragil
Renommee der Rechnungshöfe basiert auf
fachlicher und juristischer Expertise
Unabhängigkeit
politischer Neutralität
Senatsprinzip
thematischer Beschränkung gem. Verfassungsauftrag
medialem Wohlwollen
ADAC zeigt, wohin eine Verkennung dieser Faktoren führen kann
Aufgabenerweiterung bedarf daher
eines klaren Verfassungsauftrages
einer schrittweisen Kompetenzerweiterung
Bei einer Ausweitung des Verfassungsauftrages der Rechnungshöfe wie mit den Thesen 8 und 9 vorgeschlagen
muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Basis unseres Handelns fragil ist.
Das Ansehen und Renommee der Rechnungshöfe basiert auf Expertise, Unabhängigkeit und Neutralität, auf
dem Senatsprinzip und auch auf medialem Wohlwollen. Es gibt keine Garantie, dass dies bei einer Aufgaben-
erweiterung unangetastet bleibt.
Eine Aufgabenerweiterung bedarf deshalb einer fundierten Abwägung und eines klaren Verfassungsauftrages.

Panel 2: Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mechanismen?
| 85
Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mechanismen?
Herbert Gehring, Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt Dresden
Herbert Gehring ist Diplom-Verwaltungswirt und war von 1993 bis 2008 Amtsleiter der Stadtkämmerei der
Landeshauptstadt Dresden. Von 2008 bis 2010 war er Büroleiter der Oberbürgermeisterin. Seit 2010 ist er
Amtsleiter des Rechnungsprüfungsamtes der Stadt Dresden.
Ich nehme jetzt das Laserschwert in die Hand und transportiere das Bild meines Vorredners weiter. Mit dem
kann ich nicht nur losschlagen, was wir als Rechnungsprüfer ja nicht dürfen, aber was wir können, wir können
aufzeigen, wir bringen Licht ins Dunkel mit dem Laserschwert …
Vielen Dank, Herr Rix! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie war gleich noch mal das Thema? „Anforderungen an
die Finanzkontrolle im Umfeld vom Wachstum demografischer Herausforderungen und Flüchtlingsproblematik.“
Ich benenne das Thema nach meinen Worten, wie folgt: Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mecha-
nismen?
Bevor
ich beginne, gestatten Sie mir, dass ich einen kleinen Vorspann mache: Wir reden über öffentliche Finanzwirt-
schaft, über nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft und haben interessante Vorträge gehört. Ich behaupte
- stelle fest: Nachhaltige öffentliche Finanzwirtschaft braucht eine wirksame Finanzkontrolle! Und dann gleich
die provozierende Frage: Funktioniert kommunale Finanzkontrolle, örtliche Rechnungsprüfung im Freistaat
Sachsen?
Ich behaupte: Teilweise sehr schlecht! Woran liegt das? Die kommunale Finanzkontrolle, die örtliche Rech-
nungsprüfung ist personell und finanziell schlecht ausgestattet. Dies ist eine von mir aufgestellte Behauptung.
Ich möchte außerdem behaupten, umso weiter die jeweilige kommunale Gebietskörperschaft von der Landesdi-
rektion entfernt ist, umso schlechter ist es um die örtliche Rechnungsprüfung bestellt. Die Entfernung können
sie sowohl geografisch als auch verwaltungshierarchisch nehmen.
Ich
erkläre deutlich, es geht nicht um die Qualität der Prüfer, die oft als Einzelkämpfer „draußen an der Front“
sind. Ich kenne sehr viele und weiß, was dort geleistet wird. Es geht eindeutig um die Ressourcen, wo ich Defi-
zite sehe.
Bei
den Kreisfreien Städten, wir haben nur noch 3 in Sachsen, würde ich sagen, sieht es relativ gut aus. Bei den
Landkreisen, die Kolleginnen und Kollegen der Landkreise sind ja auch mit da, würde ich sagen von ausreichend
bis schlecht. Bei den Großen Kreisstädten eher schlecht. Bei den kreisangehörigen Städten und Gemeinden von
eher schlecht bis ganz schlecht.
Meine
Behauptung kommt nicht aus dem luftleeren Raum, sondern stützt sich auf verschiedene Fakten. Einmal
auf Berichte des Sächsischen Rechnungshofs, Herrn Rix und Herrn Teichmann, da war schon einiges über diese
Problematik zu lesen. Dann durch Wahrnehmungen in meiner täglichen Arbeit, durch Kontakte zu Ihnen und
dann natürlich aus Erfahrungen durch meine Tätigkeit beim SSG, die vorher Herr Rix ansprach.
Dieser
Vorspann war aus meiner Sicht notwendig, weil sich sonst manch einer von ihnen denkt, was machen
die hier eigentlich? Da wird über theoretisch tolle Sachen gesprochen, schön, dass ich das mal gehört habe.
Aber das können die vielleicht in Dresden machen, in Leipzig oder auch in Chemnitz, weil die ja genug Ressourcen
haben. Ich habe diesen Vorspann aber nicht nur gemacht, um Sie „einzufangen“, sondern auch deswegen, weil
ich der Meinung bin, dass auf einem solchen Symposium nicht nur schöne Vorträge gehalten werden sollen,
sondern auch Missstände aufgezeigt werden sollen.
Nun
aber zum Thema des Kurzreferates, das jetzt noch kürzer wird: Funktionieren die alten Instrumente bei
neuen Mechanismen. Noch mal etwas griffiger: Genügen die bisherigen Praktiken für neuartige Problemlagen,
um den Prüfungserfolg zu sichern?
Ich sage dazu deutlich: Nein!

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Panel 2: Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mechanismen?
Was waren die bisherigen Praktiken der Rechnungsprüfung? Da zeigen wir mal einige auf:
Learning by doing; Bisher hat ein neuer Prüfer im Wesentlichen ausschließlich von seinen alten, erfahrenen
Kollegen gelernt. Dieses Erfahrungswissen ist wichtig und muss auch zukünftig weitergegeben werden. Was
aber bisher fehlte, ist eine fundierte, klar strukturierte Weiterbildung/Qualifizierung zum Prüfer, die moder-
nen Weiterbildungskriterien entspricht.
Das Prüfen und das typische Abhaken von Zahlen: Viele verbinden mit dem Namen des Rechnungsprüfers
ausschließlich den „grünen Haken“, der früher oftmals die einzige „Spur“ der Prüfer war.
Ex-post-Prüfung, und zwar ausschließlich ex-post-Prüfungen sind ein Zeichen der Vergangenheit, da haben
wir heute andere Methoden.
Der Prüfer, die Prüferin hat oftmals im stillen Kämmerlein vor sich hin gewerkelt und die anderen haben sich
gefragt, was machen denn die eigentlich.
Was sind jetzt die neuen Herausforderungen mit ihren jeweiligen Auswirkungen, denen wir uns in der Rech-
nungsprüfung mit unseren Instrumenten stellen müssen?
Da ist die Globalisierung zu nennen, deren Auswirkungen auch im kommunalen Bereich, uns ständig vor neue
Herausforderungen stellen.
Dann die Informationsgesellschaft. Da habe ich vor Kurzem einen ganz „tollen“ Begriff gelesen: Das mediale
Pluriversum. Die wachsende Flut der Informationen und der ständig schneller werdende technologische Wandel
beschäftigt uns. Wir haben vielschichtige Systeme z. B. in der IT-Welt, man weiß gar nicht so genau, ob die
Organisation die IT treibt oder die IT die Organisation.
Dann natürlich die kommunale Doppik als eine große Herausforderung. Sie stecken alle in diesem Thema drin,
da muss ich nicht weiter ausholen.
Und dann natürlich auch der risikoorientierte Prüfungsansatz, der ist schnell gefordert, aber es ist durchaus
nicht einfach, diesem Anspruch in der Prüfung zu genügen.
So, was muss ich jetzt im Prüfungsamt tun. Für mich ganz wichtig: Ein Prüfer braucht eine solide Grundausbil-
dung. Es kann nicht sein, dass man neue Prüfer ausschließlich nur anlernt. Dass man ihn mal dorthin und dahin
schickt. Inzwischen gibt es in Deutschland Möglichkeiten für eine Grundausbildung, die angeboten werden. Zu
dieser Grundausbildung gehört natürlich im Anschluss eine ständige Fortbildung auf hohem Niveau.
Ich sage bei mir im Amt, wir müssen darauf achten, dass wir den Fachbereichen zumindest ebenbürtig sind,
oder, wenn es ganz gut läuft, sogar noch ein kleines Stückchen voraus. Wir haben eher mal die Zeit, uns ein
Fachbuch in die Hand zu nehmen oder mal eine spezielle Fortbildung zu besuchen als die Ämter, die draußen
„an der Front“ stehen. Diese haben oftmals keine Zeit, Lehrgänge zu besuchen. Da können wir unser Wissen
zum Nutzen der anderen aneignen. Das wär Punkt 1: Das Wissen und Können, das wir in der Rechnungsprü-
fung brauchen.
Dann geht es weiter. Ich halte es für wichtig, dass wir als Rechnungsprüfung mit vorn dabei sind. Das heißt,
wir müssen wissen, was bei uns in der Kommune passiert, was da geschieht. Man kann da nicht im stillen
Kämmerlein sitzen. Man muss da mitmachen! Die begleitenden Prüfungen gehören dazu. Auch mal schauen, ob
man als Rechnungsprüfung in Lenkungsgruppen, Arbeitsgruppen etc. mitwirken kann. Natürlich immer darauf
achten, dass man auf seiner Seite als Prüfer bleibt. Diese Problematik klang ja vorhin schon mit an bei beglei-
tenden oder ex-ante-Prüfungen. Sie müssen auf Ihrer Seite bleiben und nicht plötzlich Dinge mitentscheiden,
um dann später als Prüfer nicht mehr tätig werden zu können. Das fasse ich unter dem Punkt 2 zusammen, mit
dem Begriff Information. Also erst mal Wissen und Können ist aus meiner Sicht wichtig für Rechnungsprüfer
und eine topaktuelle Information.
Dann wichtig: Der Prüfer muss Kontakt suchen. Ein Prüfer, der keine Kontakte sucht, der keine Netzwerke
pflegt, ist aus meiner Sicht auf verlorenem Posten. Er muss Netzwerke bedienen, muss als Netzwerker tätig
sein. Um zu erfahren, wie die Entwicklungen laufen und was andere machen. Das erfordert natürlich aktives
Handeln. Hier ein schönes Beispiel: Letzte Woche war ich in Österreich beim Kollegen und habe kennengelernt,
wie in Österreich die Dinge laufen. Dort ist manches anders als bei uns. Es ist interessant zu sehen, wie dort

Panel 2: Funktionieren die alten Instrumente bei neuen Mechanismen?
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gearbeitet wird. Ich habe erfahren müssen, dass die Ausstattung der Rechnungsprüfung in vielen Kommunen
leider auch nicht besser ist als bei uns in Sachsen. Ich habe mit einigen Kollegen gesprochen, die in Städten
arbeiten, die man namentlich auch bei uns gut kennt und wo man dann erstaunt ist, dass es da nur 2 oder
3 Prüferinnen oder Prüfer gibt. Ich habe mit einer Kollegin aus einer Stadt gesprochen, die hat dort eine Halb-
tagsstelle und stemmt die ganze Rechnungsprüfung allein. Also das ist ein ganz wichtiges Thema: Netzwerken
ist das Stichwort und das steht unter der Überschrift der Kommunikation.
Die
3 Begriffe „Wissen und Können“, „Information“ und „Kommunikation“ sind ein Dreigestirn. Ich stelle als
These in den Raum: Dieses Dreigestirn sichert den Prüfungserfolg! Um dieses Dreigestirn zum Leuchten zu
bringen und damit den Prüfungserfolg zum Leuchten zu bringen, bedarf es jedoch der notwendigen Ressourcen. Das
ist eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Ausbau und die Sicherung der Rechnungsprüfung. Für eine
nachhaltige kommunale Finanzwirtschaft kann damit in unserem Freistaat ein wichtiger Eckpfeiler geschaffen
werden! In Sachsen ist dies auch erkannt worden. Wir haben ja eine Kommunalprüfungsverordnung und da ist
alles sehr schön aufgeschrieben: Das Rechnungsprüfungsamt ist für die Erledigung seiner Aufgaben mit erfor-
derlichem Personal und den erforderlichen Sachmitteln auszustatten. Leider ist es so, dass diesen Regelungen
im Freistaat Sachsen in weiten Teilen nicht gefolgt wird. Frau Oberbürgermeisterin Ludwig hat in ihrem Vortrag
gesagt, dass starke Rechtsaufsichtsbehörden wichtig sind. Ich stimme ihr darin voll zu: Das sind Partner von
uns! Das SMI, die Landesdirektion und die Landratsämter als Rechtsaufsichtsbehörden sehe ich ganz stark ge-
fordert, um die bestehenden Gesetze und Verordnungen durchzusetzen.
Jetzt haben wir genügend Stoff für eine Diskussion, ich bedanke mich dafür, dass sie mir zugehört haben.

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Panel 3
Strategische Lösungsansätze der
infrastrukturellen Fortentwicklung
in den Kommunen

Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
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Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungs-
planung der Kommunen
Dr. Henrik Scheller, Deutsches Institut für Urbanistik, Teamleiter Finanzen
Dr. Henrik Scheller promovierte in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Von 2006 bis 2007
war er Projektleiter am Hamburger WeltWirtschaftsInstitut. Nach Universitätsaufenthalten in Kanada und den
USA war Henrik Scheller am Lehrstuhl „Politik und Regieren in Deutschland und Europa“ an der Universität
Potsdam tätig. Seit 2015 ist er Teamleiter „Finanzen“ am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin.
In der Bundesrepublik sind es die Kommunen, die rd. 60 % aller öffentlichen Investitionen tätigen – noch weit
vor dem Bund und den Ländern. Dies ist naheliegend. Denn in den Städten und Gemeinden nehmen die Bürger
die meisten öffentlichen Leistungen und Güter in Anspruch: Von Kindergärten über Schulen, Straßen, die
Trinkwasserversorgung, die verschiedenen Ämter bis hin zu Brücken, Sportstätten und Friedhöfen. In regelmä-
ßigen Abständen brandet in den Medien eine öffentliche Erregungswelle über Schlaglöcher in Straßen, marode
Bürger- und Meldeämter sowie vom Schimmel befallene Schulen auf. Inzwischen ist der Investitionsstau in den
Kommunen so groß, dass die niedrigen Investitionsausgaben nicht mehr ausreichen, um die entstandenen Defi-
zite in der Infrastruktur zu beheben. Der Kapitalstock der Städte und Gemeinden schrumpft seit Jahren. Die
ganze Dimension dieses Problems wird erst erkennbar, wenn zusätzlich die extrem desolate Finanz- und Haus-
haltslage berücksichtigt wird, in der sich viele Kommunen befinden. Viele von ihnen sind hoch verschuldet und
unterliegen strengen Konsolidierungspflichten der kommunalen Aufsichtsbehörden. Schaffen Kommunen nicht
mehr aus eigener Kraft den Haushaltsausgleich oder unterliegen gar einem Haushaltssicherungskonzept, ist es
ihnen oft kaum mehr möglich, notwendige Nachhol- und Ersatzinvestitionen zu tätigen. Die Folgewirkungen
sind vorprogrammiert: Städte und Gemeinden verfallen und verlieren an Standort- und Lebensqualität. Nicht
selten kommt es dann zu einer Abwärtsspirale, da Unternehmen und Menschen ihre Gemeinden verlassen.
Auch der demografische Wandel tut dann das Seine.
Mit Blick auf diese Herausforderungen stellt sich die Frage, wie Kommunen (trotzdem) eine zukunftsgerichtete
Infrastrukturpolitik betreiben können, die einerseits den Bedarfen der Bürgergesellschaft vor Ort und anderer-
seits den haushälterischen Restriktionen der einzelnen Städte und Gemeinden Rechnung trägt. Darüber hinaus
gilt es noch eine dritte Dimension zu berücksichtigen. Denn als Teil einer integrierten Stadtentwicklungspolitik
muss Infrastrukturplanung auf kommunaler Ebene auch schon heute Ansätze für die absehbaren Auswirkungen
der „glokalen Megatrends“, wie demografischer Wandel, Klimawandel und Digitalisierung entwickeln.
Vor diesem Hintergrund beleuchtet der folgende Beitrag – auf Basis der Erkenntnisse zweier Forschungsprojekte, die
das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) derzeit durchführt – Voraussetzungen und Determinanten sowie
Möglichkeiten und Grenzen eines solchen integrierten, fach- und periodenübergreifenden Planungsansatzes.
Für eine Analyse des gegenwärtigen haushalts- und investitionspolitischen Umfeldes der Kommunen wird auf
Erkenntnisse des KfW-Kommunalpanels rekurriert. Dies wird jedes Jahr vom Difu in Form einer Umfrage unter
rd. 4.000 Kämmereien der Städte und Gemeinden in Deutschland durchgeführt, um auf diese Weise die wahr-
genommenen Investitionsbedarfe in den Kommunen zu erfragen. Daneben stützt sich der vorliegende Beitrag
auf ein Projekt, das das Difu mit der Stadt Köln durchführt, um einen integrierten Ansatz für eine generatio-
nengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzplanung zu entwickeln.
1
Finanz-
und investitionspolitisches Umfeld der Kommunen
Die Finanz- und Haushaltslage der Kommunen in der Bundesrepublik stellt sich seit einigen Jahren ambivalent
dar. So wies der kumulierte Finanzierungssaldo der Gemeinden aller Flächenländer 2014 in den Kernhaushalten
zwar einen leichten Überschuss in Höhe von 436,7 Mio. € auf, unter Einrechnung der Extrahaushalte war der
Saldo jedoch negativ (- 562,1 Mio. €). Im Jahr 2015 verbesserte sich der kommunale Finanzierungssaldo aller-
dings deutlich, sodass in den Kernhaushalten kumuliert ein Überschuss von 3,05 Mrd. € verbucht wurde. Unter
Einbeziehung der Extrahaushalte betrug der Überschuss sogar 3,15 Mrd. €.
2
2016 fiel der kommunale Über-
schuss mit 3,1 Mrd. € ähnlich aus. Ein Grund dafür bildete die insgesamt positive Entwicklung der gesamt-
1
Es handelt sich um das Projekt: „Leistungsfähige Infrastruktur generationengerecht finanziert – Das Beispiel der Stadt Köln, vgl. hierzu:
https://difu.de/projekte/2015/leistungsfaehige-infrastruktur-generationengerecht.html
(Abruf:
15.02.2017).
2
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 30.03.2016; Statistisches Bundesamt 2016: Vierteljährliche Kassenergebnisse der kommunalen Haushalte.
Eckwerte der Gemeinden/Gv. nach Ländern, Kern- und Extrahaushalte, Wiesbaden März 2016.

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Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
staatlichen Einnahmen, von der 2015 auch die kommunalen Kernhaushalte mit einem Plus von 6,3 % im Ver-
gleich zum Vorjahr profitierten. Gleichzeitig betrug der Ausgabenzuwachs der Landkreise und Gemeinden nur
5,0 %. Neben einer Erhöhung des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer haben auch Kompensationsmaßnah-
men des Bundes, die 2014 und 2015 auf den Weg gebracht wurden, zu dieser positiven Einnahmenentwicklung
der Kommunen beigetragen.
3
Diese Entwicklungen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Denn neben dem seit Jahren zu beobachten-
den Auseinanderstreben der kommunalen Finanzkraft, wurden die Haushalte der Kommunen im Jahr 2015 vor
neue, unvorhergesehene Herausforderungen gestellt, die mit erheblichen haushälterischen Unsicherheiten auch
für die kommenden Jahre verbunden sind:
Der massive Anstieg der Zuwanderung und die damit verbundenen Kosten für die Unterbringung und In-
tegration von Flüchtlingen haben bereits 2015 deutliche Spuren in den Haushalten von Landkreisen und
Gemeinden hinterlassen, da die Ausgaben für Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz um 98,2 % auf
3,1 Mrd. € gestiegen sind.
4
In den vergangenen Jahren sind die Förderbedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe sowie für Menschen mit
Behinderung kontinuierlich gestiegen. Während die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe (Einzel- und
Gruppenhilfe plus Zuwendungen für öffentliche und private Träger) im Zeitraum von 2001 bis 2014 von 19,2
auf 37,7 Mrd. € anwuchsen, stiegen die Kosten für die Eingliederungshilfen behinderter Menschen von 1963
bis 2013 sogar von 46 Mio. auf 15,6 Mrd. €.
5
Damit gehen entsprechende Ausgabensteigerungen in den
kommunalen Haushalten einher, die auch mit Blick auf die weitere Umsetzung inklusions- und integrations-
pädagogischer Ansätze zu erwarten sind.
Die Haushaltsbelastungen aufgrund sowohl der massiven Zuwanderung der letzten Monate als auch der
steigenden Sozialleistungen dürften die schon seit längerem auseinanderstrebenden Finanzkraft-
Disparitäten im interkommunalen Vergleich zusätzlich verschärfen – zumal finanzschwache Landkreise und
Gemeinden oft auch auf der Einnahmenseite unter Druck stehen.
6
Bereits bestehende Investitionsrückstände
vergrößern sich entsprechend.
7
Auch für die Kommunen birgt die Niedrig- bzw. Nullzinspolitik der EZB gewisse Unsicherheiten. Zwar nutzen
Landkreise und Gemeinden die derzeit günstigen Finanzierungsbedingungen für eine Umstrukturierung ihres
Schuldenportfolios. Das Risiko einer möglichen Zinsänderung bleibt allerdings bestehen.
Vor diesem Hintergrund bewegen sich die haushaltspolitischen Herausforderungen der Kommunen in einem
„magischen Dreieck“ zwischen Fortsetzung der Konsolidierungsbemühungen einerseits und steigenden kon-
sumtiven Ausgabenanforderungen sowie einem Abbau wachsender Investitionsrückstände andererseits. Schon
hier zeigt sich, wie die allgemeine Haushaltslage einer Kommune ihre Investitionstätigkeit beeinflusst. Hoher
Konsolidierungsdruck führt (notgedrungen) zu einem Verzicht auf Investitionen, da es sich hierbei um einen
der wenigen, frei disponiblen Ausgabenbereiche der Kommunalhaushalte handelt. Viele Kommunen unterliegen
zudem der Pflicht, erst ihre meist über Jahre aufsummierten Altdefizite abzubauen, bevor neue Verbindlichkeiten
eingegangen werden. In einer solchen Situation bleibt ihnen oft nur der Rückgriff auf Kassen- bzw. Liquiditäts-
sicherungskredite, die laut Gemeindehaushaltsverordnungen der Länder eigentlich nur zur Finanzierung der fälligen
laufenden Verwaltungsausgaben verwendet werden dürfen und nicht zur Finanzierung von Investitionen.
Dabei ist die durchschnittliche Finanzkraft der Kommunen in den ostdeutschen Ländern weiterhin mehr als die
Hälfte niedriger als in den Kommunen der finanzstärkeren Bundesländer – selbst wenn 2015 kumuliert für die
gesamte Gemeindeebene ein Einnahmeplus verzeichnet werden konnte. Allerdings liegen auch die Kommunen
in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein bei der Finanzkraft weiterhin deutlich unter dem
Durchschnitt der Flächenländer. Mit Blick auf diese ungleichen Entwicklungen stellt sich immer wieder auch
die Frage, ob die kommunalen Finanzausgleichssysteme dieser Länder eine hinreichende Angleichung der Finanzaus-
stattung zwischen den Gemeinden sicherstellen.
Trotz der deutlichen finanz- und haushaltspolitischen Erholung waren die Gemeinden und Gemeindeverbände
im Jahr 2015 die einzige gebietskörperschaftliche Ebene in der Bundesrepublik, die in den Kernhaushalten
kumuliert einen Verschuldungsaufwuchs um 3,8 % zu verzeichnen hatte. Denn während Bund und Länder ihren
3
BMF 2015, S. 16 ff.
4
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 30.03.2016.
5
Statistisches Bundesamt 2013, S. 7; Statistisches Bundesamt 2015: Pressemitteilung 392/15 vom 23.10.2015.
6
Deutscher Städtetag 2015: Gemeindefinanzbericht 2015, S. 11; Deutscher Landkreistag 2015, S. 423-445.
7
Schon bei einem Vergleich der Kassenergebnisse für die Jahre 2014 und 2015 zeigt sich beispielsweise, dass die kommunalen Ausgaben für Sachinves-
titionen in den Ländern gesunken sind, die die höchste Pro-Kopf-Verschuldung aufweisen (Saarland: - 20,7 %, Hessen: - 5,0 %, Rheinland-Pfalz -
4,9 %). Auch die ostdeutschen Bundesländer verzeichneten in diesem Zeitraum deutliche Investitionsrückgänge – wenn auch aus anderen Gründen.
Vgl. Statistisches Bundesamt 2016: Vierteljährliche Kassenergebnisse der kommunalen Haushalte, Eckwerte der Gemeinden/Gv. nach Ländern, Wiesba-
den: Stand März 2016.

Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
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jeweiligen Schuldenstand zum 31.12.2015 um 1,8 % (23,7 Mrd. €) bzw. 0,7 % (4,3 Mrd. €) verringern konnten,
wuchsen die Verbindlichkeiten der Gemeinden um 5,3 Mrd. €. Der kumulierte Schuldenstand (ohne Extrahaus-
halte) erreichte damit insgesamt 129,5 Mrd. €.
8
Von der Verschuldungsentwicklung sind die Gemeinden in den
einzelnen Bundesländern in unterschiedlicher Weise betroffen. In der Betrachtung der durchschnittlichen Pro-
Kopf-Entwicklung verzeichneten 2015 nur die Kommunen im Saarland, Rheinland-Pfalz und Schleswig-
Holstein einen jeweils leichten Zuwachs ihrer Kreditmarktverschuldung in den Kernhaushalten. Nach den
Kommunen aus Hessen (1.896 € pro Kopf), führten die saarländischen und rheinland-pfälzischen Kommunen
mit 1.436 bzw. 1.361 € pro Kopf die Liste der am höchsten verschuldeten Kommunen an.
9
Nordrhein-
Westfalen und Schleswig-Holstein folgten mit 1.145 bzw. 1.164 € pro Kopf. Im Gegensatz dazu konnten die
Gemeinden der anderen 10 Flächenländer ihre Pro-Kopf-Verschuldung abbauen. Bemerkenswert fiel vor allem
die kumulierte Verringerung der kommunalen Kreditmarktschulden in Sachsen-Anhalt (-11,7 %), Baden-
Württemberg (-9,82 %), Brandenburg (-8,8 %) und Niedersachsen (-4,43 %) aus.
10
Die kumulierten Zinsausgaben in den Kernhaushalten der Kommunen sanken 2015 im Vergleich zum Vorjahr
z. T. erheblich. Hochgerechnet auf die einzelnen Bundesländer konnten so z. B. die Kommunen in Mecklenburg-
Vorpommern (-19 %), Sachsen-Anhalt (-15,6 %), Sachsen (-15,0 %) sowie Brandenburg und Thüringen (jeweils
-9,4 %) am stärksten ihre Zinsbelastungen zurückführen. Nur die Kommunen im Saarland (+7,4 %), Bayern
(+5,0 %) und Hessen (+2,1 %) mussten Mehrausgaben für ihre Kredite hinnehmen, obwohl die durchschnittli-
chen kommunalen Kreditmarktschulden pro Kopf 2015 zumindest in Bayern und Hessen gesenkt wurden. Dies
macht deutlich, dass Landkreise, Städte und Gemeinden – in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Verschuldungs-
situation und den Finanzierungsangeboten der Banken vor Ort – sehr unterschiedlich von den derzeitigen
Niedrigzinsen auf den Kapitalmärkten profitieren.
Die Entwicklung der kommunalen Kassenkredite gilt inzwischen als ein wichtiger – wenn auch nicht alleiniger –
Gradmesser für die Finanzsituation der Städte und Gemeinden. In den vergangenen Jahren ist das Gesamtvo-
lumen der kommunalen Kassenkredite beständig gestiegen, auch wenn sich die Entwicklung in den vergange-
nen 3 Jahren abgeflacht hat.
11
Gleichwohl haben die Kassenkredite der gemeindlichen Kernhaushalte am
31.12.2015 – lt. Kassenstatistik – mit 49,64 Mrd. € einen neuen Höchststand erreicht (Vorjahr: 48 Mrd. €).
12
Pro Einwohner waren dies durchschnittlich 659 €. Über 70 % des gesamten Kassenkreditvolumens entfielen
dabei – wie schon in den Vorjahren – alleine auf das Saarland (2.117 € pro Kopf), Rheinland-Pfalz (1.622 € pro
Kopf) und Nordrhein-Westfalen (1.558 € pro Kopf) – Tendenz steigend.
13
Die geringsten Kassenkreditbelastun-
gen der kommunalen Kernhaushalte pro Kopf wiesen Baden-Württemberg (9 €), Bayern (15 €) und Sachsen
(23 €) auf. Bei den Landkreisen hingegen konnte auch 2015 ein weiterer Rückgang der Kassenkreditbestände
auf rd. 6,7 Mrd. € beobachtet werden – ein Trend, der sich seit 2012 fortsetzt.
14
Die sehr ungleiche Verteilung der Kommunalverschuldung – also der Kreditmarktschulden plus der Kredite zur
Liquiditätssicherung (Kassenkredite) – stellt einen Indikator für die fiskalischen Disparitäten im interkommuna-
len Vergleich dar. Schon bei der Verteilung der Kreditmarktschulden pro Kopf in den Kernhaushalten zeigt sich
im Ländervergleich eine beachtliche Spreizung. An der Spitze lagen dabei – wie schon in den Jahren zuvor –
die Landkreise und Gemeinden in Hessen (1.896 €), Rheinland-Pfalz (1.436 €) und im Saarland (1.361 €), ge-
folgt von Nordrhein-Westfalen (1.272 €) und Niedersachsen (1.145 €). Die geringste Pro-Kopf-Verschuldung
wiesen die Länder Brandenburg (448 €), Baden-Württemberg (503 €), Sachsen (689 €) und Sachsen-Anhalt
(754 €) auf.
15
Allerdings sind es die Landkreise in Sachsen-Anhalt (198 €), die 2015 hinter Hessen (660 €) und
Rheinland-Pfalz (474 €) die dritthöchste Pro-Kopf-Verschuldung in den Kernhaushalten aufwiesen.
16
Die Kassenkredite verteilen sich im Vergleich sowohl zwischen als auch innerhalb der Bundesländer in sehr
unterschiedlicher Weise auf die Kommunen. So sind es vor allem Mittel- und Großstädte mit einer Einwohner-
zahl über 50.000 Einwohner, die im Durchschnitt den höchsten Kassenkreditbestand aufweisen (Ende 2014:
1.093 € pro Kopf). Während sich die Mittelwerte für die Gemeinden der Einwohnergrößenklassen 5.000 bis
19.999 sowie 20.000 bis 49.999 Einwohner von 2013 bis 2014 leicht verbesserten, stiegen die Kassenkreditbe-
8
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung vom 22.03.2016.
9
Alle Pro-Kopf-Angaben wurden auf der Basis der Einwohnerzahlen der Bundesländern, Stand: 31.12.2014 berechnet. Vgl. hierzu: Statistisches Bundes-
amt 2015 (a).
10
Eigene Berechnungen auf der Grundlage von: Statistisches Bundesamt 2016: Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts – Kernhaushalte und Extra-
haushalte, Schulden nach Arten und Ländern, Stichtag: 31.12.2015.
11
BMF 2015: Monatsbericht Dezember 2015, S. 13.
12
Statistisches Bundesamt 2016: Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts – Kernhaushalte und Extrahaushalte, Schulden nach Arten und Ländern,
Stichtag: 31.12.2015.
13
Markert/Junkernheinrich: 2015, S. 463.
14
Deutscher Landkreistag 2015, S. 407.
15
Eigene Berechnungen auf der Basis von: Statistisches Bundesamt 2016: Finanzen und Steuern. Vierteljährliche Kassenergebnisse des Öffentlichen
Gesamthaushalts, S. 43-44; Deutscher Landkreistag 2015, S. 407.
16
Deutscher Landkreistag 2016.

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der Kommunen
stände bei den Mittel- und Großstädten an. Dies trifft für die Gesamtheit der Bundesländer zu, macht sich aber
in besonderer Weise bei den 4 Ländern Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland bemerkbar,
die insgesamt die höchsten Belastungen durch Kassenkredite aufweisen. Bei den Landkreisen sind es die hessi-
schen, rheinland-pfälzischen und niedersächsischen Kreise, die durchschnittlich den höchsten Bestand an Kas-
senkrediten aufweisen.
Dies verdeutlicht, dass es zu einem Aufwuchs an Kassenkrediten – nicht nur – aber schwerpunktmäßig bei
den
Kommunen kommt, die ohnehin schon hoch verschuldet sind und über eine vergleichsweise geringe Finanzkraft
verfügen.
17
Bei den Gemeinden im Saarland, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz verfestigt sich
auf diese Weise inzwischen ein Sockelbestand an Kassenkrediten, der zwar nicht notwendigerweise wächst,
sich allerdings aufgrund entsprechender Bedarfe auch nicht substanziell verringern lässt – im Gegensatz zu
den Kommunen der eher finanzstärkeren Bundesländer, denen ein entsprechender Abbau erkennbar einfacher
fällt. Allerdings bildet eine solche aggregierte Betrachtung die fiskalische Heterogenität, die selbst zwischen
den Kommunen innerhalb der einzelnen Bundesländer besteht, nur bedingt ab. Die These von einer Sockelbil-
dung bei der Entwicklung der kommunalen Kassenkredite wird durch eine weitere Beobachtung gestützt: Ob-
wohl das haushaltspolitische Instrument der Kassenkredite für gewöhnlich auf eine kurzfristige Überbrückung
kommunaler Zahlungsengpässe angelegt ist, mehren sich inzwischen die Hinweise aus den Kommunen, dass
Liquiditätskredite oft nicht mehr unterjährig abgebaut werden, sondern immer öfter Laufzeiten von mehr als
einem Jahr haben.
Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Kassenstatistik des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2015.
Es liegt auf der Hand, dass vor allem Kommunen mit einer ohnehin schwierigen Finanzlage in der Gefahr stehen,
auch den Haushaltsausgleich nicht zu erreichen. Dies hat oft eine Ausweitung der Kassenkredite zur Folge. So
antworteten im Rahmen der KFW-Kommunalpanel-Befragung 2016 insgesamt 50 % der befragten Kommunen,
die für 2015 eine Verfehlung des Haushaltsausgleichs erwarteten, dass sie den Kassenkreditbestand Ende 2016
„deutlich“ oder zumindest „etwas“ ausgeweitet haben werden. Keine Veränderungen ihres Kassenkreditbestan-
des erwarten lediglich rd. 33 % in dieser „pessimistischen Gruppe“. Dem standen 72 % in der „optimistischen
Gruppe“ gegenüber, die eine Erreichung des Haushaltsausgleichs erwartet. Nur 16 % der Kommunen, die eine
Verfehlung des Haushaltsausgleichs für 2015 erwarteten, gingen hingegen davon aus, dass sie ihren Kassen-
kreditbestand „etwas“ oder „deutlich“ abbauen werden.
17
Regionalverband Ruhr 2015, S. 9-11.
2.140
1.627
1.585
1.087
641
440
378
313
282
83
65
26
22
2.010
1.516
1.483
1.040
539
431
415
313
271
93
25
19
23
0
500
1.000
1.500
2.000
2.500
Saarland
Rheinland-Pfalz
NRW
Hessen
Sachsen-Anhalt
Mecklenburg-Vorpommern
Niedersachsen
Brandenburg
Schleswig-Holstein
Thüringen
Sachsen
Baden-Württemberg
Bayern
Durchschnittliche Pro-Kopf-Kassenkredite je Bundesland und Jahr
2015
2014

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der Kommunen
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Quelle: KfW-Kommunalpanel 2016, durchgeführt vom Difu von August bis Oktober 2015.
Finanzschwäche und hoher Schuldenbestand haben somit unmittelbaren Einfluss auf die Investitionspolitik von
Städten und Gemeinden. Im zeitlichen Längsschnitt zeigt sich, dass gerade Kommunen, die seit Jahren eine
Negativwahrnehmung ihrer finanziellen Gesamtsituation haben, auch pessimistisch in die Zukunft blicken.
Investitionspolitischer Status quo der Kommunen
Das vom Deutschen Institut für Urbanistik durchgeführte KfW-Kommunalpanel zeigt, dass sich auch im Jahr
2015 der Investitionsrückstand in der Hochrechnung für alle Kommunen mit mehr als 2.000 Einwohnern in
Deutschland mit einer Gesamtsumme von 136 Mrd. € nicht reduziert hat. Und dies, obwohl vor allem der Bund,
aber auch die Länder in den vergangenen Jahren seit der Finanzkrise 2008/2009 diverse Investitionsprogramme
aufgelegt haben. Der Investitionsrückstand verharrt damit in der Wahrnehmung der befragten Kämmerer auf
dem hohen Niveau der Vorjahre. Die Frage nach möglichen Ursachen für diese Entwicklung – trotz der erkenn-
baren Entspannung der finanziellen Gesamtlage der Kommunen in den letzten Jahren – verweist einmal mehr
auf die Problematik des unverkennbaren Auseinanderdriftens der Kommunen mit guter und eher schwieriger
finanzieller Lage: Kommunen mit guter Gesamtfinanzsituation und vergleichsweise niedrigem Investitionsrück-
stand investieren besonders viel. Gemeinden und Landkreise, die ohnehin schon von der Substanz zehren, kön-
nen aufgrund ihrer geringen finanziellen Spielräume nicht in die Zukunftsfähigkeit ihrer Infrastruktur investie-
ren. Die zunehmenden Disparitäten sind insofern ein wichtiger Grund dafür, dass es bisher nicht gelungen ist,
den Investitionsrückstand wieder abzubauen. Dies gilt – wenn auch nicht pauschal – bspw. für Kommunen in
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland, aber auch für einzelne Landkreise, Städte und Gemeinden
in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die über eine mittlere Finanzkraft verfügen und 2015 nur halb so
viel pro Kopf investierten, wie Kommunen in Bayern und Baden-Württemberg.
Die Hälfte des gesamten Rückstandes entfällt zu fast gleichen Teilen auf die beiden Bereiche „Straßen und
Verkehrsinfrastruktur“ sowie „Schulen, Erwachsenenbildung“
18
. Der Anteil der Straßen und Verkehrsinfrastruk-
tur am gesamten Rückstand ist dabei seit 2012 in etwa gleich geblieben. Der Rückstand bei der Bildungsinfra-
struktur hat dagegen im gleichen Zeitraum kontinuierlich an Gewicht gewonnen. Deren Anteil am Gesamtrück-
stand liegt heute 8 Prozentpunkte über dem Wert von 2012.
18
KfW 2016, S. 15-16
290,3
177,2
357,6
207,0
0
50
100
150
200
250
300
350
400
Ja
Nein
Haushaltsausgleich
2015 (vorr.)
Konnex zwischen Haushaltsausgleich und mittleren
Pro-Kopf-Gesamtinvestitionen
2015
2016
(geplant)

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der Kommunen
Anmerkung: Hochrechnung auf der Basis der Pro-Kopf-Mittelwerte für Gemeinden nach Größenklassen und Landkreise
Quelle: KfW-Kommunalpanel 2016, durchgeführt vom Difu von August bis Oktober 2015
Dabei hat sich der Anteil der Kommunen, die bei Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung einen
nennenswerten oder gravierenden Rückstand ausmachen zumindest seit 2013 kaum verändert. Dies weist darauf
hin, dass der Investitionsstau in den betroffenen Kommunen als immer umfangreicher wahrgenommen wird
– und das in einem Infrastrukturbereich, der einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Standortqualität einer
Gemeinde leistet. Denn mit qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten vor Ort wird in die fachlichen und
sozialen Kompetenzen der Menschen investiert und damit ein Beitrag zu ihrer Qualifizierung auch für die loka-
len und regionalen Arbeitsmärkte geleistet.
Am Beispiel der Kinderbetreuung wird erkennbar, dass sich die Investitionstätigkeit der Kommunen mithilfe
entsprechender Finanzierungsprogramme durchaus beeinflussen lässt. Der Anteil der Kommunen, die in diesem
Infrastrukturbereich einen mindestens nennenswerten Investitionsrückstand wahrnehmen ist von 2012 bis
2015 von 40 % auf 23 % gesunken. In der absoluten Höhe konnte der Rückstand dabei um gut ein Fünftel
reduziert werden. Hier greifen offenbar die vom Bund aufgelegten Investitionsprogramme – insbesondere zum
Ausbau der U3-Betreuung.
Der forcierte Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen geht aber womöglich zulasten anderer Infrastruktur-
bereiche. Denn sowohl die finanziellen Ressourcen als auch organisatorische Kapazitäten von Städten, Gemeinden
und Landkreisen werden offenbar verstärkt so eingesetzt, dass die von Bund und Ländern bereitgestellten Zu-
wendungen in Anspruch genommen werden können. In Kommunen, deren Spielräume für Investitionen ohnehin
eng sind, kann dies jedoch einen wachsenden Investitionsrückstand in anderen Infrastrukturbereichen zur Folge
haben. Ein Indiz dafür sind die im KfW-Kommunalpanel erhobenen Wahrnehmungen zu den Investitionsbedar-
fen im Bereich Schule einschließlich Erwachsenenbildung. Denn in diesem Bereich konstatierten 2015 mehr
Kommunen als in den Vorjahren einen nochmals zugenommenen Rückstand. Und dies, obwohl in den vergan-
genen Jahren eine kontinuierliche Aufstockung des gesamtstaatlichen Bildungsbudgets vorgenommen wurde.
Im Gegensatz dazu hat sich beispielsweise der Anteil der Kommunen, der einen gravierenden Rückstand im
Verkehrsbereich ausmacht, sowie das entsprechende investive Rückstauvolumen in den vergangenen Jahren
„nur“ in etwa parallel entwickelt. Betrachtet man diese Aussage im Lichte des seit 2006 deutlich rückläufigen
Personalbestandes in den kommunalen Bau- und Verkehrsverwaltungen, so stützt dies die Verdrängungseffekt-
These.
19
Dass die Ursachen kommunaler Infrastrukturrückstände – vor allem in (finanzschwachen) kleinen und mittleren
Städten – oft nicht alleine finanzieller Natur, sondern auch personeller Art sind, lässt sich bei der Infrastruktur
für die Wasserver- und -entsorgung beobachten. Der wahrgenommene Investitionsrückstand in diesem Bereich
ist 2015 – gegenüber dem Vorjahr – um 16 % gestiegen. In kleinen Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwoh-
nern ist der Rückstand sogar 32 % höher als 2014. Infolge der weitgehenden Privatisierung dieses Sektors der
vormals öffentlichen Daseinsvorsorge können und müssen Investitionen in diesem Bereich aus den erhobenen
19
Statistisches Bundesamt 2015, Abschn. 5.
Straßen und
Verkehrsinfra-
struktur
26 %
ÖPNV
0,3 %
Öff. Verwaltungs-
gebäude
8 %
Energieerzeugung
und -versorgung
0,2 %
Abfallwirtschaft
0,1 %
Wasserver- und
-entsorgung
8 %
Schulen,
Erwachsenen-
bildung
25 %
Kinderbetreuung
3 %
Kultur
3 %
Sportstätten, Bäder
8 %
Gesundheits-
infrastruktur
2 %
Wohnungs-
wirtschaft
2 %
Informations-
infrastruktur
4 %
Sonstiges
9 %
Insgesamt
136 Mrd. EUR
Wahrgenommener Investitionsrückstand der Kommunen 2015

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Entgelten finanziert werden. Wenn hier ein Investitionsstau entsteht, dürfte dies – rein theoretisch – eigentlich
nicht an der Verfügbarkeit der erforderlichen finanziellen Ressourcen liegen, da in den Kommunalabgabenge-
setzen (KAG) das Kostendeckungsgebot normiert ist. In der Kommunalpraxis kommt es jedoch oft genug vor,
dass aus politischen Gründen auf Gebührenerhebungen bzw. -erhöhungen verzichtet wird oder kommunale
Wasser- bzw. Stadtwerke quersubventioniert werden (müssen). Die vergleichsweise geringen Investitionen in
die Netze lassen sich – unabhängig davon – in beiden Fällen am ehesten durch einen Verweis auf die personel-
len und administrativen Ressourcen erklären, die zur Planung und Realisierung von solch komplexen Baumaß-
nahmen erforderlich sind. So sind zum einen die kommunalen Bauverwaltungen in den vergangenen Jahren
immer weiter ausgedünnt worden und umfassten 2013 durchschnittlich rund 15,4 % weniger an Personal als
noch 2011.
20
Da zum anderen auch die Wasserwerke als kommunale Eigenbetriebe dem Gewinnerzielungs- und
Wirtschaftlichkeitsprinzip verpflichtet sind, haben auch sie ein Interesse an einer kosteneffizienten Personalpolitik
– insbesondere, wenn die Entgeltfinanzierung nicht selbsttragend ist.
Für das Jahr 2015 waren die Landkreise, Städte und Gemeinden mit Blick auf die tatsächlich zu tätigenden
Investitionen optimistisch. So erwarteten die Kämmereien, dass die Investitionen insgesamt – bei weitgehend
gleichbleibenden Investitionsschwerpunkten – um gut ein Zehntel ansteigen würden. Dieser aus Sicht der
Kommunen positive Ausblick wurde jedoch nicht Realität. In beinahe allen Infrastrukturbereichen blieben die
tatsächlichen Investitionen hinter den Planungen zurück und lagen damit meist auch deutlich unter dem Niveau des
Jahres 2014. Basierend auf den Angaben der Kommunen ergab sich für 2015 ein hochgerechnetes Investitions-
volumen in Höhe von 24,5 Mrd. €. Im Bereich Straßen und Verkehrsinfrastruktur fiel der Unterschied zwischen
Erwartungen der Kämmereien und entsprechendem Investitionsvolumen mit 0,9 Mrd. € etwas geringer aus, als
bei den Investitionen in den meisten anderen Bereichen. Aus diesem Grund ist das relative Gewicht dieses Infra-
strukturbereichs an der Gesamtinvestition mit 29 % 4 Prozentpunkte höher als in der Erwartung für 2015. Auch
bei den Schulen einschließlich Erwachsenenbildung ist ein ähnlicher Effekt zu beobachten (Rückgang um
0,7 Mrd. € bzw. 3 Prozentpunkte). Damit konzentriert sich fast die Hälfte der gesamten Investitionstätigkeit
der Kommunen auf diese beiden großen Investitionsschwerpunkte. Trotzdem ist das in diesen Bereichen reali-
sierte Investitionsniveau offensichtlich nicht ausreichend.
Eine Ausnahme hinsichtlich dieser Negativentwicklung bildet der Bereich Kinderbetreuung. Hier rechneten die
Kommunen nach dem erfolgten Ausbau in den Vorjahren mit einer deutlichen Reduzierung. Statt mehr als 31 €
je Einwohner im Jahr 2014 wurde für 2015 von voraussichtlichen Investitionen in Höhe von 18 € pro Kopf
ausgegangen. Tatsächlich wurden den Angaben der Kommunen zufolge fast 21 € pro Kopf investiert – weniger
als im Vorjahr, aber mehr als erwartet. Gestiegen sind die Investitionen gegenüber dem Vorjahr nur bei der
Wasserver- und -entsorgung. Mit durchschnittlich 47 € je Einwohner lagen die Investitionen 2015 fast 6 €
höher als zuvor, obwohl auch hier die Erwartungen (50 €) nicht vollständig umgesetzt werden konnten. Für
2016 rechneten die Kommunen dann auch mit einem Rückgang auf 37 € pro Kopf, was dann 4 € weniger wären, als
2014 je Einwohner investiert wurde. Auch mit diesem Ausblick bleibt die Wasserver- und -entsorgung ein be-
sonderer Fall. Für die meisten anderen Infrastrukturbereiche erwarteten die Kommunen für 2016 eine Zunahme
der Investitionstätigkeit, z. T. auch über das durchschnittliche Investitionsvolumen von 2014 hinaus. Dieser
positive Ausblick kann sicherlich z. T. mit den zuletzt vereinbarten finanziellen Entlastungen der Kommunen
sowie mit den in Aussicht gestellten Fördermitteln im Rahmen verschiedener Investitionsmaßnahmen des Bun-
des erklärt werden – auch wenn diese in der Befragung nicht weiter erfasst wurden. Insgesamt sollten gemäß
den Planungen im Jahr 2016 wieder fast 27 Mrd. € investiert werden. Dabei wird es voraussichtlich bei der
gestiegenen Bedeutung der Straßen und Verkehrsinfrastruktur sowie der Schulen einschließlich Erwachsenen-
bildung bleiben. In diesen Bereichen ist die absolute Zunahme des Investitionsvolumens gemäß Hochrechnung
mit 0,4 Mrd. € (Straßen) bzw. 0,7 Mrd. € (Schulen) besonders hoch. Im Verhältnis zum Investitionsniveau im
Jahr 2015 sind es jedoch insbesondere die öffentlichen Verwaltungsgebäude (+45 %), die Informationsinfra-
struktur (+ 27%) und Sportstätten und Bäder sowie Wohnungswirtschaft (jeweils +26 %), in die wieder ver-
stärkt investiert werden soll.
Ansätze für eine integrierte und generationengerechte Infrastrukturplanung der Kommunen
Vor dem Hintergrund des disparaten finanzpolitischen Umfeldes stellt sich die Frage, wie eine integrierte und
generationengerechte Infrastruktur- und Finanzplanung der Kommunen gelingen kann. Wie können sich Städte
und Gemeinden also aus dem Dilemma befreien, einerseits in der Vergangenheit aufgebaute Investitionsrück-
stände beseitigen zu müssen und andererseits Investitionen in den Aus- und Umbau von Infrastruktur zu täti-
gen, ohne dabei im Übermaß neue fiskalische Lasten für zukünftige Generationen aufzubauen? Eine Neuaus-
richtung der kommunalen Finanz- und Infrastrukturpolitik, die sich an diesem Anspruch orientiert, stellt keine
triviale Aufgabe dar. Denn zunehmend müssen die spezifischen Wirkweisen „glokaler“ Veränderungstrends in
20
Schmid/Wilke 2016, S. 25-36.

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Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
entsprechenden Planungsprozessen berücksichtigt werden – also Phänomene, die eigentlich eine globale
Dimension aufweisen, inzwischen aber auch Folgewirkungen im lokalen Umfeld entfalten. Dazu zählen:
Demografischer Wandel:
Veränderungen der Bevölkerungszahl und -struktur führen sowohl zu Veränderun-
gen der künftigen Infrastrukturbedarfe als auch zu Veränderungen der Finanzierungsspielräume – und zwar
unabhängig davon, ob es sich um wachsende oder schrumpfende Kommunen handelt. Vor allem Zu- und
Abwanderung sowie Verschiebungen in der Altersstruktur machen Anpassungen der zukünftigen Aufgaben-
schwerpunkte in den Kommunen notwendig. Bedarf es in Zukunft zusätzlicher Ressourcen für die Unterbrin-
gung und Integration von Zugezogenen? In welcher Relation müssen Schulen und Pflegeheime angesichts
der erwartbaren Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung vorgehalten werden? Inwieweit kön-
nen neue Infrastrukturen so geplant und realisiert werden, dass eine zukünftige Nachnutzung z. B. altersge-
rechten Anforderungen genügt? Bereits diese wenigen Fragen verdeutlichen, dass mit dem Ausbau bzw.
Rückbau der Infrastruktur sowohl Investitionen als auch konsumtive Ausgaben für den zukünftigen Betrieb
neuer Einrichtungen verbunden sind.
Klimawandel:
Die auch in den Städten und Gemeinden immer spürbarer werdenden Folgen des Klimawan-
dels (z. B. erhöhtes Risiko von Extremwetterereignissen oder Hitzewellen), erfordern auf kommunaler Ebene
Anpassungen in verschiedenen Infrastrukturbereichen. Entsprechende Investitionserfordernisse gehen mit
finanziellen Belastungen einher.
Energiewende:
Mit der Energiewende werden in der Bundesrepublik 3 Ziele verfolgt: Sicherung einer nach-
haltigen Energieversorgung durch den Ausbau erneuerbarer Energien, Einsparung von Energie und Steige-
rung der Energieeffizienz. Zur Umsetzung dieser Ziele sind auch auf kommunaler Ebene erhebliche Pla-
nungs- und Finanzierungsanstrengungen zur Infrastrukturmodernisierung erforderlich.
Wirtschaftsentwicklung:
Obwohl die Bundesrepublik derzeit insgesamt eine positive BIP-Zuwachsrate auf-
weist, wird die Wirtschaftskraft vieler Kommunen durch den demografischen Wandel sowie grundlegende
Strukturprobleme negativ beeinflusst. Da die regionale und lokale Wirtschaftsentwicklung als zentrale Ein-
flussgröße die Finanzlage von Städten und Gemeinden bestimmt, versuchen viele Kommunen diesen proble-
matischen Entwicklungen entgegenzusteuern. Entsprechende Maßnahmen bergen jedoch die Gefahr eines
Infrastrukturwettbewerbs mit nicht ausgelasteten Überkapazitäten als Folge.
Digitalisierung:
Die Digitalisierung der Städte schreitet weiter voran und eröffnet den Städten die Bereit-
stellung ganz neuer Angebote der öffentlichen Daseinsvorsorge. Zugleich erlaubt die Digitalisierung neue
und verstärkte Kopplungen zwischen Infrastrukturen („Smart Cities“). Beide Entwicklungen dürften erhebli-
che Auswirkungen auf die Aus- und Umbauerfordernisse der bestehenden Infrastruktur haben.
Ein Verständnis von nachhaltiger Finanzplanung, das auf die Wahrung von Generationengerechtigkeit im Sinne
einer Vermeidung negativer Zukunftswirkungen heutiger finanzpolitischer Entscheidungen zielt und gleichzei-
tig einen Beitrag zur Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge auch in Zukunft leistet, erfordert angesichts
dieser Einflussfaktoren einer Modifizierung. Denn eine kommunale Finanz- und Haushaltspolitik, die sich an
einem umfassenden Nachhaltigkeitsverständnis orientiert, benötigt ein (neues) Instrumentarium, mit dem sich
die Zukunftswirkungen sowohl von laufenden „konsumtiven“ Ausgaben als auch von Investitionen abschätzen
lassen. Dabei muss unterschieden werden zwischen
fiskalischen Zukunftswirkungen – also den Folgen für zukünftige Haushalte aufgrund von Schulden, Zinsbe-
lastungen und/oder Folgekosten von Ausgabenentscheidungen,
ökonomischen Zukunftswirkungen – also den Folgen für das Wirtschaftswachstum und die künftige Produk-
tions- und Beschäftigungsentwicklung vor Ort,
sozialen Zukunftswirkungen – also den Folgen von Ausgabeentscheidungen für den Zugang sozial benach-
teiligter Bevölkerungsgruppen zu kommunalen Dienstleistungen (Mobilität, Bildung, Kultur, Sport etc.) sowie
ökologischen Zukunftswirkungen – also den Folgen für die lokale und regionale Umwelt.
Um kommunale Finanz- und Infrastrukturpolitik in diesem Sinne nachhaltiger zu gestalten, bedarf es eines
mehrgleisigen Ansatzes. Zunächst einmal muss eine weitere Ausweitung der Verschuldung auf ein Mindestmaß
reduziert werden. Eine Finanzierung durch Fremdkapital empfiehlt sich im Wesentlichen dann, wenn die mo-
dernisierte Infrastruktur dauerhaft zu Ergebnisverbesserungen führt. Langfristige Planungen – auch über die
mittelfristige Finanzplanung hinaus – ermöglichen eine Berücksichtigung periodenübergreifender Entwick-
lungstrends, die die kommunale Finanz- und Haushaltslage dauerhaft beeinflussen. Idealerweise geht dies mit
einer strategischen und verwaltungsübergreifenden Koordinierung einher. Auf diese Weise lässt sich Kosten-
transparenz herstellen – insbesondere, wenn eine Kostenerfassung über den gesamten Lebenszyklus der jewei-
ligen Infrastrukturen und Anlagegüter vorgenommen wird. Die Entwicklung und Erprobung geeigneter Prüfver-
fahren, wie z. B. einer kommunalen Tragfähigkeitsanalyse, erlaubt außerdem, mögliche Investitionsentschei-
dungen in ihrer langfristigen Wirkung zu beurteilen.

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Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
| 99
Durch den seit 2003 in den Kommunen laufenden Prozess zur Umstellung des Haushaltswesens von der Kame-
ralistik auf die Doppik wird eine solche Neuausrichtung begünstigt. Denn Kommunen verstehen sich selbst
zunehmend als „Konzern“, bestehend aus der Kernverwaltung sowie kommunalen Unternehmen und Beteili-
gungen. Als Dienstleister wirken diese für die Bürgerinnen und Bürger, die als Hauptnutzer der kommunalen
Infrastruktur immer stärker in kommunale Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden. Darüber hinaus
bringt die Ressourcenorientierung und Anwendung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) in
den kommunalen Kernhaushalten erweiterte Steuerungsmöglichkeiten mit sich. Zum ersten Mal werden das
Vermögen und die Verbindlichkeiten der Kommunen systematisch (wenn auch nicht einheitlich) erfasst und
bewertet. Auch die zukünftigen Auswirkungen heutiger Entscheidungen werden buchhalterisch durch planmä-
ßige Abschreibungen, Rückstellungen, Rücklagen transparenter gemacht.
Um aber den tatsächlichen Substanzverlust sowie (künftige) Infrastrukturbedarfe einer Kommune abschätzen
zu können, bedarf es zusätzlich eines integrierten Ansatzes zur nachhaltigen Infrastruktur- und Investitions-
planung. Mithilfe dieses erweiterten Instrumentariums soll es möglich werden, dass haushaltspolitische Prob-
leme und Zielkonflikte frühzeitig erkennbar und Lösungen mit geringerem Konfliktpotenzial entwickelt und
realisiert werden. Voraussetzungen zur Entwicklung eines solchen Planungsansatzes sind dabei:
Etablierung eines ressortübergreifenden und interdisziplinären Dialogs unter Beteiligung von politischer
Spitze, Finanz- und Fachdezernaten sowie Infrastrukturbetreibern über die Zukunft der Infrastrukturen und
deren (öffentliche) Finanzierung, um so einen stabilen Konsens über die grundlegenden Dienstleistungen der
zukünftigen Daseinsvorsorge herzustellen;
Entwicklung eines gemeinsamen Nachhaltigkeitsverständnisses einschließlich eines Bewusstseins für rele-
vante Zukunftsentwicklungen in allen Teileinheiten des Konzerns Kommune;
Diskurs über grundlegende politische Entwicklungsziele für den Konzern Kommune, mit dem mögliche Ziel-
konflikte transparent gemacht und geeignete Lösungsansätze entwickelt werden;
Zusammenführung einer breiten Datengrundlage, um alle planungsrelevanten Informationen insbesondere
zum Bestand und Zustand des gesamten Anlagevermögens systematisch und einheitlich ermitteln und ver-
walten zu können;
Entwicklung einer verwaltungsübergreifenden Methodik zur Erfassung möglicher Bedarfstreiber und Wirkungs-
weise zukünftiger Infrastrukturinvestitionen;
Verständigung über verbindliche Zuständigkeiten und Ressourcenverantwortlichkeiten;
Sensibilisierung für die Transparenz- und Kommunikationserfordernisse auf den verschiedenen Ebenen des
Konzerns Kommune;
direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürger in geeigneten Dialogformaten zur Steigerung der gesell-
schaftlichen Akzeptanz geplanter Investitionsvorhaben.
Neben diesen eher „weichen“ Voraussetzungen, ist auch die Schaffung einer gemeinsamen Datenbasis uner-
lässlich für die Entwicklung eines integrierten Infrastruktur- und Finanzplanungsansatzes. Dies scheint auf den
ersten Blick eine banale Anforderung. Bei genauerer Betrachtung offenbaren sich hier jedoch nicht selten
Schwierigkeiten, da die Kommunen zwar über diverse Datenbestände in ihren unterschiedlichen Fachverwal-
tungen verfügen. Diese sind aber selten miteinander verknüpft und oft fehlt es an einer Übersicht, wo welche
Daten in welcher Detailgenauigkeit verfügbar sind und auch tatsächlich genutzt werden. Mit Blick auf eine in
die Zukunft gerichtete Infrastrukturbedarfsanalyse geht es also darum, einen Überblick über grundsätzliche
Informationsbedarfe zu erstellen, bereits vorhandene Datenquellen zu identifizieren – und zwar für die Kern-
verwaltung und die Beteiligungen – und diese Datensätze zusammenzuführen und zu systematisieren. Hier
bietet sich – wenn möglich – die Entwicklung einer einheitlichen und übersichtlichen Datenbank an. Mithilfe
von Datenbanken und der vorhandenen Datengrundlagen lässt sich dann ein Berechnungsansatz entwickeln.
Unter Verwendung von Informationen aus der Anlagenbuchhaltung lassen sich so Infrastrukturbedarfe einer
Kommune ermitteln. Dabei kann zwischen 3 Bedarfstypen unterschieden werden
21
:
1. Nachholbedarfe bezeichnen Investitionen, die in der Vergangenheit nicht erfolgt sind und eine Abweichung
vom „Soll“ in Zustand (Qualität) oder Umfang (Quantität) begründen. Entsprechende Investitionen sind
eigentlich zwingend erforderlich, um gesetzlichen Standards genüge zu leisten.
21
Reidenbach et al. 2008.

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100 |
Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
2. Ersatzbedarfe zielen auf den Bestandserhalt bestehender Infrastrukturen und bezeichnen den (notwendi-
gen) Ersatz von Anlagevermögen nach Ablauf der regulären Nutzungsdauer. Hierbei handelt es sich um den
umfangreichsten Infrastruktur- und Investitionsblock, der sich – je nach Altersstruktur der bestehenden Inf-
rastrukturen – über einen langen Zeitraum verteilt.
3. Erweiterungsbedarfe werden durch verschiedene Bedarfstreiber, wie z. B. die demografische Entwicklung,
das Wirtschaftswachstum und den Klimawandel usw., begründet und umfassen den Ausbau, Umbau und
Rückbau von Infrastrukturen. Hier besteht der größte strategische Gestaltungsspielraum für die Städte und ihre
Beteiligungen.
Mithilfe der in der Anlagenbuchhaltung erfassten Parameter lassen sich dann die jeweiligen Bedarfe für die
einzelnen Infrastrukturbereiche – differenziert nach den verschiedenen Bestandteilen der einzelnen Infrastruk-
turen – erfassen. Als Berechnungsgrundlage dienen dabei – soweit vorhanden:
Mengenparameter (wie Anzahl der Infrastruktur-Anlagen und die Größe je Anlage (qm, km)),
Wertparameter (wie Anschaffungs- und Herstellungskosten (historische AHK), Wiederbeschaffungswerte/
Tagesneuwerte (für neuartige Anlagen in aktuellen Preisen) und Restbuchwerte und/oder Zeitwerte als aktu-
eller Wert der Anlage berechnet als historische AHK abzüglich Abschreibung und ggf. Wertberichti-
gung/alternativ Wiederbeschaffungszeitwert (Beschaffungspreis der ähnlichen gebrauchten Anlage),
Altersparameter (wie Herstellungs- bzw. Beschaffungszeitpunkt, Aktivierungszeitpunkt, Gesamtnutzungs-
dauer (lt. Abschreibungstabelle), Restnutzungsdauer (ggf. tatsächlich geschätzte Werte im Rahmen der
Inventur),
Zustandsparameter (wie Zustandsnoten je Anlagenobjekt (Bewertung auf Basis von Inventuren, Begehungen,
Inaugenscheinnahmen), ggf. Nutzwert (bisher unüblicher Kennwert) der Anlage aus der Sicht der Nutzer.
Für die Ermittlung der o. g. Daten gilt der Grundsatz der Einzelbewertung. Pauschalbewertungen sind bei Anlagen
investiver Natur im Rahmen des Rechnungswesens grundsätzlich nicht zulässig. Das Aggregieren der Daten
und die Bildung der durchschnittlichen Werte erfolgt pro Anlageklasse.
Auf Basis der Datenzusammenführung und dem daraus ermittelten Zustand bestehender Infrastrukturen lassen
sich dann nicht nur bereits bestehende Nachhol- und Ersatzbedarfe, sondern auch zukünftige Infrastrukturbe-
darfe (Erweiterungsbedarfe) kostenmäßig ermitteln und verschiedene Investitionsoptionen als Alternativen
berechnen. Mithilfe einer Tragfähigkeitsanalyse können zudem verschiedene Szenarien entwickelt werden, die
die Auswirkungen von Infrastrukturmaßnahmen auf die langfristige Finanzsituation der jeweiligen Kommunen
erfassbar machen. Szenarien dieser Art können somit eine zusätzliche Entscheidungshilfe für die (politischen)
Akteure, die ausführenden Verwaltungen und Beteiligungen von Kommunen bilden. Zukünftige strategische
Schwerpunktsetzungen lassen sich mithin auf Grundlage der ermittelten Investitionsbedarfe bewerten und
hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit überprüfen. Dabei dürfen ermittelte Bedarfe nicht mit Investitionen gleichge-
setzt werden: Welche Infrastrukturinvestitionen in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt tatsächlich
getätigt werden und damit haushalterisch sowie im Sinne der mittelfristigen Finanzplanung kassenwirksam
werden (sollen), bleibt ausschließlich eine politische Entscheidung. Natürlich eröffnet auch die Setzung von
Annahmen, die einer solchen Bedarfsermittlung zugrunde gelegt werden, (politische) Spielräume – insbesonde-
re mit Blick auf die am Ende tatsächlich ermittelte Höhe der Bedarfe. Dies gilt bspw. für die Verwendung der
mit Durchschnittswerten anzusetzenden Abschreibungsfristen von Anlagegütern, da die realen Abschreibungs-
fristen oft deutlich kürzer sind als die gesetzlich normierte Lebensdauer.
Fazit und Ausblick
Das Bemühen um Etablierung einer integrierten Infrastruktur- und Finanzplanung in Kommunen will ein Zei-
chen gegen den haushalts- und investitionspolitischen Pessimismus setzen, der vielen Orts aufgrund der deut-
lich gestiegenen Konsolidierungsanforderungen Einzug gehalten hat. Natürlich lassen sich auch gegen ein
solches Vorhaben Vorbehalte vorbringen: die Erfahrungen, die in den 1960/70er Jahren mit den Bemühungen
zur Institutionalisierung einer (gesamtstaatlichen) Steuerung und Planung gesammelt wurden, waren eher
ernüchternd. Die Koordinierung staatlichen Handelns – insbesondere, wenn sich die Zuständigkeiten für Pla-
nung, Implementierung und Finanzierung entsprechender Vorhaben über verschiedene Ebenen oder Verwaltun-
gen verteilen – scheint immer wieder an natürliche Komplexitätsgrenzen zu stoßen. Zudem erschließt eine
fach- und periodenübergreifende Planung allein noch keine zusätzlichen Ressourcen und neuen Geldquellen
für die Kommunen.

Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
| 101
Allerdings kann ein ressortübergreifender Dialog unter Einbindung aller relevanten Infrastrukturbetreiber – im
Idealfall – die Möglichkeit zu einem reflexiven, zukunftsgerichteten und stadtübergreifenden Verständigungs-
prozess über strategische Ziele und entsprechende Infrastrukturbedarfe eröffnen. Auf diese Weise lassen sich
kommunale Aufgaben heute und in Zukunft effizient und effektiv erfüllen und gleichzeitig ein Beitrag zu einer
langfristig orientierten Haushaltspolitik leisten. Selbst Kommunen, die derzeit noch eine stabile Haushaltslage
aufweisen, können in naher Zukunft mit finanziellen Problemen konfrontiert werden, wenn sie – gerade mit
Blick auf die oft veralteten Infrastrukturbestände – nicht ihre politischen, administrativen und haushalterischen
Planungsgrundlagen und Entscheidungsabläufe an die sich verändernden Rahmenbedingungen anpassen.
Insofern scheint es sinnvoll, das Steuerungsinstrumentarium der doppelten Buchführung – nach dem nun die
z. T. steinige Einführungsphase in vielen Kommunen überstanden ist – gezielt auch für die Infrastrukturpolitik
nutzbar zu machen. Mit Blick auf die erfassten Infrastrukturen ist dazu in vielen Kommunen eine weitere Ver-
knüpfung und Synchronisierung mit anderen Datenbeständen aus den entsprechenden Fachverwaltungen
erforderlich. Dies darf und soll nicht dazu führen, dass die Kämmereien zu neuen „Superverwaltungen“ ausge-
baut werden. Vielmehr geht es darum, in Städten und Gemeinden einen zu verstetigenden Dialogprozess zwi-
schen den Fachverwaltungen und den mittelbewirtschaftenden Dezernaten anzustoßen.

102 |
Panel 3: Ansätze für eine generationengerechte Stadt-, Infrastruktur- und Finanzierungsplanung
der Kommunen
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greifender Vergleich der Finanzausstattung der Kommunen, in: Statistische Analyse No. 5/2007.

Panel 3: Lebenszykluskosten bei Infrastrukturinvestitionen
| 103
Lebenszykluskosten bei Infrastrukturinvestitionen am Beispiel der zentralen Kälte-
versorgung der TU Bergakademie Freiberg
Oliver Gaber, Kaufmännischer Geschäftsführer beim Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien-
und Baumanagement
Oliver Gaber studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Trier. Nach unterschiedlichen Stationen in
der freien Wirtschaft (u. a. als er kaufmännischer Leiter bei der Gerhard K. Dirks GmbH, als Niederlassungs-
leiter der J. Wolfferts GmbH in Leipzig und als Geschäftsführer der Bilfinger HSG FM Ost GmbH) ist er seit
2014 Kaufmännischer Geschäftsführer beim Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement.
Vor dem Hintergrund stetig steigender Kosten für die Immobilienbewirtschaftung einerseits und dem Streben
nach einer nachhaltigen Ressourcennutzung anderseits, gewinnt die Berücksichtigung von Lebenszyklusaspek-
ten bei Bau- und Infrastrukturmaßnahmen zunehmend an Bedeutung. Die Vorteile dieser Lebenszyklusbetrach-
tung sollen am vorliegenden Beispiel der zentralen Kälteversorgung für die TU Bergakademie Freiberg aufge-
zeigt werden. Dazu erfolgt nach einer kurzen Einleitung zunächst die Darstellung der theoretischen Grundla-
gen. Aufbauend darauf werden diese dann anhand des o. g. Praxisbeispiels veranschaulicht. Abschließend
erfolgt im Rahmen des Fazits eine Zusammenfassung der theoretischen und praktischen Inhalte und es wird
darüber hinaus ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen gegeben.
Bekannt geworden ist die Lebenszyklusbetrachtung bei Bau- und Infrastrukturmaßnahmen insbesondere durch
ÖPP-Projekte (Öffentlich Private Partnerschaften). Diese Projekte heißen oftmals auch Lebenszyklusprojekte, da
sie den Grundgedanken haben, dass zu jedem Zeitpunkt im Projekt nachfolgende Lebenszyklusphasen der Im-
mobilie betrachtet werden. Wie das vorliegende Beispiel zeigt, muss zur Realisierung der Lebenszyklusbetrach-
tung jedoch nicht zwingend ein ÖPP-Projekt initialisiert werden, sondern diese ist grundsätzlich bei jeder
Baumaßnahme möglich.
Veranschaulicht man sich die kumulierten Kosten über den Lebenszyklus einer Immobilie grafisch, so wird
deutlich, dass die Kosten während der Planung und Errichtung noch relativ gering sind. Mit fortlaufender Nut-
zung steigen diese dann über die Jahre stark an. Die Beeinflussbarkeit der Kosten hingegen ist zu Beginn der
Planung noch sehr hoch, nimmt jedoch im späteren Verlauf rapide ab. In der Nutzungsphase sind die Kosten
dann kaum noch beeinflussbar. Bei einer lebenszyklusorientierten Planung sind die anfänglichen Kosten im
Vergleich zur konventionellen Planung höher. Während der Nutzungsphase zeigen sich jedoch deutliche Einsparpo-
tenziale. Eine Glasfassade hat z. B. i. d. R. einen geringeren Anschaffungswert als eine gemauerte Fassade. Sie ver-
ursacht aber deutlich höhere Bewirtschaftungskosten, da sie zyklisch gereinigt werden muss und für die Reini-
gung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Spezialtechnik erforderlich ist. Demzufolge bietet die Planungsphase
ein enormes Potenzial für die Optimierung der Folgekosten bei gleichzeitig angemessener Qualität der Immobi-
liennutzung.
Die
theoretische Darstellung der Lebenszyklusbetrachtung soll im Folgenden anhand des Praxisbeispiels der
Kälteversorgung für die TU Bergakademie Freiberg veranschaulicht werden. Dazu erfolgt zunächst eine kurze
Darstellung der Ausgangssituation.
Bislang
wurde der Kältebedarf der TU Bergakademie Freiberg ausschließlich über dezentrale Kälteerzeugungs-
anlagen abgedeckt. Das heißt, dass jedes Gebäude mit einem entsprechenden Kältebedarf über eine eigene
Kälteerzeugung verfügt. Diese ist auf den maximal erforderlichen Kältebedarf des jeweiligen Gebäudes ausge-
legt, der i. d. R. aber nur für einen kurzen Zeitraum benötigt wird. Dies hat zur Folge, dass die dezentralen An-
lagen oftmals überdimensioniert sind und im energetisch schlechten Teillastbetrieb arbeiten. Durch die nicht
vorhandene Vernetzung der Kälteversorgung und fehlende Speicher ist es nicht möglich, auf Lastschwankun-
gen angemessen zu reagieren. Des Weiteren sind die dezentralen Kälteerzeuger, z. B. aufgrund der Vielzahl von
unterschiedlichen Wartungsverträgen, in der Instandhaltung sehr teuer.
Mit den 2 Neubauten „Haus Formgebung“ und „Laborflügel Nord“ des Clemens-Winkler-Baus war ein signifi-
kanter Anstieg des Kältebedarfs für den Campus der TU Bergakademie Freiberg zu verzeichnen. Weiterhin ist
absehbar, dass der grundsätzliche Kältebedarf des Campus' aufgrund von raumklimatischen Anforderungen und
technologischen Prozessen, z. B. zur Kühlung von Servertechnik oder labortechnischen Einrichtungen, in Zu-
kunft noch weiter zunimmt. Daher waren Untersuchungen erforderlich, wie der Kältebedarf für die beiden

104 |
Panel 3: Lebenszykluskosten bei Infrastrukturinvestitionen
Gebäude und die zukünftigen Anforderungen gedeckt werden kann. Grundsätzlich wäre es möglich gewesen,
weiterhin dezentrale Kälteerzeuger einzusetzen. Diese Variante hätte auch die geringsten Investitionskosten
zur Folge gehabt, wurde aber aufgrund der Erfahrungen aus der Bewirtschaftung verworfen. Vor dem Hinter-
grund, dass auf dem Campus der TU Bergakademie viele Kälteverbraucher auf engen Raum konzentriert sind,
wurden stattdessen verschiedene Möglichkeiten für eine zentrale Kälteversorgung untersucht. Dies erfolgte
sowohl unter Berücksichtigung des momentanen als auch des prognostizierten Kältebedarfs für das Jahr 2020.
Die Prognose wurde dabei in enger Zusammenarbeit mit der TU Bergakademie Freiberg erstellt. Gegenstand der
Untersuchung waren verschiedene Varianten der Kälteversorgung mithilfe von Absorptions- und Kompressions-
kältemaschinen in Kombination mit einem Speicher oder ohne Speicher. Auch der mögliche Einsatz von freier
Kühlung floss in die Überlegungen mit ein. Im Ergebnis fiel die Entscheidung auf 2 Hocheffizienz-
Kompressionskältemaschinen in Kombination mit einem Kältespeicher und einer freien Kühlung. Diese sollen in
Form einer Kälteinsel den kompletten Campus mit Kälte versorgen.
Die Kälteinsel wurde im Rahmen einer ökonomischen und ökologischen Betrachtung der dezentralen Kältever-
sorgung gegenüber gestellt. Die Inhalte dieser Gegenüberstellung sind im Folgenden kurz dargestellt. Die
Erstinvestitionskosten für die Kälteinsel betragen ca. 2,6 Mio. € und liegen somit deutlich über den ca. 400 T€ der
dezentralen Kälteversorgung. Gemäß dem Lebenszyklusansatz wurden bei der ökonomischen Betrachtung aber
auch die Nutzungs- und die Folgeinvestitionskosten für den Betrieb der jeweiligen Anlagensysteme einzogen.
Auf Grundlage einer rechnerischen Nutzungsdauer der Anlagen von 20 Jahren übersteigen die Nutzungs- und
die Folgeinvestitionskosten der dezentralen Kälteversorgung die entsprechenden Kosten der Kälteinsel um ein
Vielfaches. Für den kompletten Betrachtungszeitraum ergibt sich ein Einsparpotenzial von ca. 13 Mio. €, das
sich insbesondere aus den geringeren Kosten für die Stromversorgung und die Instandhaltung der zentralen
Anlagen zusammensetzt.
Neben dem rein monetären Nutzen sinkt auch der Verwaltungsaufwand beim SIB, da sich die Anzahl der zu
bearbeitenden Wartungsverträge verringert. Für den Nutzer hat die zentrale Kälteversorgung den Effekt, dass
er eine geringere Anzahl verschiedener Anlagen bedienen muss. Darüber hinaus kann bei dieser Art der Kälte-
versorgung flexibler auf die zukünftige Bedarfssteigerung reagiert werden.
Aus ökologischer Sicht bietet die zentrale Kälteversorgung ebenfalls klare Vorteile gegenüber der dezentralen
Variante. Diese ergeben sich allein schon durch den geringeren Stromverbrauch und die dadurch erzielte Redu-
zierung von CO
2
-Emissionen. Es wird prognostiziert, dass die Kälteversorgung ab dem Jahr 2020 voll genutzt
wird, sodass sich ab diesem Zeitpunkt ein jährlicher CO
2
-Ausstoß von ca. 1.200 Tonnen ergibt. Für die dezent-
rale Kälteversorgung würde dieser ca. 3.300 Tonnen pro Jahr betragen. Somit lassen sich die CO
2
-Emissionen
um ca. zwei Drittel reduzieren.
Der Bau der Kälteinsel erfolgte von Mai 2013 bis November 2014, sodass die Insel den Campus seit dem Jahr
2014 zentral mit Kälte versorgt. Momentan ist sie zu einem Drittel ausgelastet. Bis zum Jahr 2020 soll dann
die Vollauslastung erfolgen. Die bedarfsgebundenen Kosten (im Wesentlichen Stromkosten) betrugen im letz-
ten Jahr knapp 100 T€ und lagen damit unter dem prognostizierten Wert. Die betriebsgebundenen Kosten für
Biozide und Wartung beliefen sich auf ca. 30 T€, was in etwa den geplanten Kosten entspricht. Für den End-
ausbau im Jahr 2020 wurden in der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung bedarfsgebundene Kosten in Höhe von
430 T€ und betriebsgebundene Kosten in Höhe von 70 € prognostiziert. Eine Hochrechnung der tatsächlichen
Kosten zeigt, dass diese nach derzeitigem Kenntnisstand sogar unter den geplanten Kosten liegen werden. Dies
ist darauf zurückzuführen, dass die komplette Kälteversorgung einen noch höheren Effizienzgrad hat, als in der
Planung angenommen. Momentan werden mit 1 kWh Strom 10 kWh Kälte hergestellt, ursprünglich geplant
waren nur 7 kWh. Eine Ursache dafür ist die ausgeklügelte Regelung, die eine optimale Fahrweise der Anlage
ermöglicht.
Das Kernstück der Kälteversorgung bilden 2 Hocheffizienzkältemaschinen in Verbindung mit einem Speicher
sowie einer freien Kühlung. Die drehzahlgeregelten Kältemaschinen haben aufgrund ihrer gleichförmigen Lauf-
leistung einen sehr hohen Wirkungsgrad im Volllastbetrieb. Durch die Drehzahlregelung ist jedoch auch ein
sehr effizienter Teillastbetrieb möglich und somit eine sehr gute kombinierte Nutzung mit der freien Kühlung
und dem Kältespeicher. Die Kältemaschinen können jeweils bis zu 400 kW Kälte produzieren und der Speicher
verfügt über ein Volumen von 1.000 m³. Durch die kombinierte Nutzung der Kältemaschinen und des Speichers
ist es möglich, mit den zur Verfügung stehenden 800 kW Kälteleistung den insgesamt benötigten Kältebedarf
von 2.300 kW abzudecken. Da der maximale Kältebedarf nicht permanent benötigt wird, decken die Kältema-
schinen die Grundlast ab. Sofern mehr als 800 kW Kälte erforderlich sind, erfolgt eine Einspeisung von Kalt-
wasser aus dem Speicher. Der Speicher wirkt somit bei Spitzenlast als „zusätzliche Kältemaschine“ und deckt
Lastspitzen und Netzschwankungen problemlos ab. Sinkt der Kältebedarf wieder, werden die Kältemaschinen
dazu genutzt, um Kaltwasser in den Speicher einzuspeisen. Sofern entsprechende Witterungsbedingungen

Panel 3: Lebenszykluskosten bei Infrastrukturinvestitionen
| 105
vorliegen, kann die freie Kühlung unterstützend für die Kälteversorgung bzw. für das Laden des Speichers ge-
nutzt werden. Bei Temperaturen unter einem Grad Celsius ist es sogar möglich, auf den Betrieb der Kältema-
schinen komplett zu verzichten.
Die
Anlage bzw. deren Betrieb soll in Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz noch weiter optimiert und der
Effizienzgrad entsprechend erhöht werden. Ein Ansatz ist die Implementierung einer prädiktiven Regelstrategie.
Auf Basis der Wettervorhersage ist es dadurch möglich, verschiedene Speicherladekonzepte einzusetzen. Bei-
spielsweise wird der Speicher zur Kälteversorgung genutzt und entladen, wenn kalte Temperaturen vorherge-
sagt sind. Der Einsatz der Kältemaschine ist in diesem Fall nicht erforderlich. Anschließend wird der Speicher
mithilfe der freien Kühlung erneut beladen und steht wieder für die Kälteversorgung zur Verfügung. Neben den
Wetterdaten sollen auch Nutzungszeiten bzw. –intensitäten für die Gebäude als Grundlage für die prädiktive
Regelstrategie dienen. Dazu erfolgt eine Abschätzung durch den Nutzer, wieviel Kälte in den kommenden Tagen für
technologische Prozesse benötigt wird. Im Ergebnis ist es möglich, die Vorlauftemperatur der Kälteversorgung
gleitend bzw. flexibel auf die klimatischen Bedingungen sowie die technologischen Prozesse abzustimmen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die steigenden Bedarfe an Wärme und Kälte nach wie vor eine
Herausforderung für die Errichtung und Betreibung von Immobilien darstellen. Der SIB hat bereits einige Pro-
jekte mit ähnlichem Energiebedarf realisiert. Dazu gehören z. B. die zentrale Wärmeversorgung von Justizvoll-
zugsanstalten und Krankenhäusern. Die zentrale Kälteversorgung mittels Kälteinseln wurde u. a. schon bei der
TU Dresden oder beim Dresdner Schloss realisiert. Sofern räumlich möglich, stellt die zentrale Energieversor-
gung aus ökonomischer und ökologischer Sicht eine gute Möglichkeit dar, um den wachsenden Herausforde-
rungen für die Energieversorgung gerecht zu werden. Dies gilt nicht nur für Campusgelände von Universitäten
und Krankenhäusern, sondern u. a. auch für Wohnkomplexe.
Wie
im theoretischen Teil erläutert und anhand des Praxisbeispiels veranschaulicht, muss es das Ziel sein, die
Gesamtkosten für die Nutzung einer Immobilie zu minimieren. Die Lebenszyklusbetrachtung veranschaulicht all
diese Kosten über die komplette Nutzungsdauer der Gebäude und Liegenschaften. Sie gewährleistet daher die
entsprechende Kostentransparenz, um bereits bei der Planung die wirtschaftlichste Lösung für die komplette
Lebensdauer einer Immobilie zu wählen. Entscheidungen für die auf den ersten Blick preiswerteste Lösung aber
ohne Berücksichtigung der Folgekosten können somit verhindert werden.

Panel 3: Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
| 107
Investitionsfähigkeit der Gemeinden.
Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
Prof. Dr. Isabelle Jänchen, Lehrstuhl für Öffentliche Finanzen und Volkswirtschaftslehre an
der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege Meißen
Prof. Dr. Jänchen studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg, promovierte 2008 an der
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dresden und hatte von 2008 bis 2010 die
Gastprofessur für Finanzwissenschaften und Wirtschaftspolitik an der Brandenburgischen Technischen Uni-
versität. Seit 2010 ist sie Professorin für Öffentliche Finanzen und Volkswirtschaftslehre an der Fachhoch-
schule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Meißen.
Ich leite jetzt über zum Haushaltsbereich. Durch die Umstellung auf die kommunale Doppik erhalten wir deut-
lich bessere und detailliertere Daten über öffentliche Finanzen, die Frage wird aber sein, wie wir diese zukünf-
tig auswerten und verwenden wollen. Im wissenschaftlichen Bereich zeigt sich ein Bruch zum Zeitpunkt der
Umstellung auf die kommunale Doppik darin, dass es bisher keine belastbaren empirischen Studien für die
Auswertung doppischer Daten gibt. Bundesweit hört die theoretische Literatur mit der Umstellung auf und
empirische Erhebungen werden nicht durchgeführt. Aus wissenschaftlicher Sicht wird hier ein breites For-
schungsfeld sichtbar.
Wir an der Hochschule Meißen arbeiten daran, Datenbanken zur Erhebung von Haushalts- und Jahresab-
schlussdaten aufzubauen. Angefangen haben wir damit in Hessen, mit Unterstützung des Hessischen Rech-
nungshofes, in der Hoffnung, dass es in Hessen aufgrund des früheren Umstellungstermins mehr kommunale
Jahresabschlüsse gibt als in Sachsen. Wir mussten leider feststellen, dass zwar mehr Jahresabschlüsse vorhan-
den sind als bei uns, allerdings sind auch in Hessen noch nicht flächendeckend kommunale Jahresabschlüsse
verfügbar. Daher verwenden wir für die derzeitigen Untersuchungen in Sachsen die Daten aus den Haushalts-
satzungen, so auch für die folgende Untersuchung über die Investitionsfähigkeit sächsischer Städte und
Gemeinden.
Da
ich erst sehr kurzfristig erfahren habe, dass ich hier vortrage, stelle ich hier die Ergebnisse aus meiner Ver-
öffentlichung im Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2015
1
vor, die sich mit der Auswertung von Haushaltssat-
zungen sächsischer Städte und Gemeinden und deren Investitionsfähigkeit beschäftigt. Die Daten basieren auf
den Planzahlen von 2014.
Von
Herrn Dr. Scheller haben wir bereits gehört, dass der kommunale Investitionsstau nach der Berechnung aus
dem Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau im Jahr 2016 136 Mrd. € betrug. Im Kommunalpa-
nel
2
werden vor allem Bedarfe abgefragt, z. B. wie viel Geld in Schulen oder Straßen investiert werden soll. Für
uns ergab sich daraus die Frage, welche Investitionen sich eine Stadt oder Gemeinde tatsächlich leisten kann
bzw. welche Reinvestitionen tatsächlich für die Erhaltung des Kapitalstocks notwendig sind. Diese Daten zei-
gen sich in den kommunalen Jahresabschlüssen, d. h. durch flächendeckende Datenerhebung könnten Aussa-
gen sowohl über die notwendige Investitionshöhe getroffen werden, ohne die subjektive Einschätzung einer
Befragung einfließen zu lassen. Es gibt einiges zu tun, was auch die Berechnung vom Bundeswirtschaftsminis-
terium 2015 zeigt: hier wurde mit einem kommunalen Investitionsstau in Höhe von 156 Mrd. € gerechnet.
3
Für
das weitere Verständnis notwendig ist dabei der Gesamtzusammenhang aus Investition und Abschreibung.
Ich beziehe mich dabei auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die die Gesamtinvestition (Bruttoinvesti-
tion) in Ersatzinvestition (Reinvestition) und Neuinvestition (Nettoinvestition) unterteilt.
4
Diese Daten werden
bereits für die unternehmerische Statistik erhoben, es dürfte also auch mit relativ wenig Aufwand für die öffentli-
chen Haushaltsdaten möglich sein. Die Unterteilung zeigt damit anhand der Abschreibung, d. h. Reinvestition,
wie viel Geld für Investitionen benötigt wird, um den Kapitalstock konstant zu halten.
5
Konstanter Kapitalstock
heißt dabei nicht zwingend, dass die Zusammensetzung immer gleich bleibt, also bspw. immer gleichwertige
Schulen oder Kindertagesstätten. Es geht um die Höhe des Kapitalstocks, die konstant bleiben soll, nicht um
1
vgl. Jänchen (2015).
2
Kreditanstalt für Wiederaufbau (2016): S. 1.
3
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2015).
4
Blum (2016): S. 87.
5
Frenkel und John (2010): S. 36.

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108 |
Panel 3: Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
die Struktur. Wir haben das heute bereits auch bei Prof. Thum gehört, dass das, was heute eine Schule ist, ggf.
übermorgen ein Seniorenwohnstift werden muss, damit es den demografischen Begebenheiten genügt.
Die Abschreibung ist in der öffentlichen Finanzwirtschaft damit das Maß für die Erhaltung des Kapitalstocks.
Das gilt sowohl für die öffentlichen Haushalte als auch für privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen. Bei
den Unternehmen kommt noch etwas anderes hinzu. Hier mindern die Abschreibungen den Gewinn, was wie-
derum zu einer Steuerersparnis für die Unternehmen führt. Hohe Abschreibungen sind damit aus unternehme-
rischer Sicht anreizkompatibel. Das wiederum liegt aber an der Steuergesetzgebung. Der Zusammenhang aus
Reinvestition und Abschreibung gilt aber trotzdem. Es lässt sich also schlussfolgern, dass sowohl im privaten
als auch öffentlichen Bereich die Erwirtschaftung der Abschreibungen notwendig ist, wenn kein Kapitalverzehr
stattfinden soll. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht wegdiskutieren.
Das heißt also, wir müssen mindestens die Abschreibung investieren, um den Kapitalstock zu erhalten.
Quelle: Eigene Darstellung.
Im ordentlichen Ergebnis wird deutlich, ob die Abschreibungen erwirtschaftet werden. Beträgt das ordentliche
Ergebnis mindestens Null, dann werden im Kalenderjahr die ordentlichen Aufwendungen durch die ordentli-
chen Erträge gedeckt. Betrachten wir jetzt nur die Abschreibungen, dann erhält man durch die Verrechnung
von nicht-zahlungs- und nicht-ergebniswirksamen Größen aus dem ordentlichen Ergebnis den Zahlungsmittel-
saldo aus laufender Verwaltungstätigkeit.
6
Dieser enthält die Liquidität, die benötigt wird, um die Reinvestition
zu tätigen, wenn die Abschreibungen im ordentlichen Ergebnis erwirtschaftet werden. Man muss hier natürlich
beachten, dass man ggfs. mehrere Jahre benötigt, bis eine Investition getätigt wird und man hier die jährliche
Abschreibung über den notwendigen Zeitraum aufsummieren muss. Hier liegt eindeutig eine Grenze der
Betrachtungsweise, die sich aber auflöst, sobald in den Städten und Gemeinden über mehrere Jahre doppisch
gebucht wird.
Wir haben gezeigt, dass die Abschreibung die notwendige Investitionstätigkeit für die Erhaltung des Kapital-
stocks abbildet. Wie sieht es nun mit der Investitionsfähigkeit der Städte und Gemeinden aus?
Abbildung 2: Investitionsfähigkeit einer Gemeinde
Quelle: Eigene Darstellung.
6
vgl. Jänchen (2013): Kap. 2.3.
Abbildung 1: Zusammenhang aus Ergebnis- und Finanzhaushalt

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Panel 3: Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
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Das Maß für die Liquidität ist der Zahlungsmittelsaldo aus laufender Verwaltungstätigkeit. Geht man davon
aus, dass die Abschreibungen erwirtschaftet werden, enthält dieser Saldo ja die notwendige Liquidität. Diese
Mittel stehen jährlich zur Verfügung. Dazu kommen im doppischen System die Einzahlungen aus Investitions-
tätigkeit, im Wesentlichen Fördermittel sowie Einzahlungen aus dem Verkauf von Sachanlagevermögen. Diese
Einzahlungen sind dagegen einmalig. Um die Investitionsfähigkeit im nächsten Schritt der tatsächlichen Inves-
titionstätigkeit gegenüberzustellen, nimmt man diese Einzahlungen wieder raus. Das liegt daran, dass die Ein-
zahlungen aus dem Verkauf von Sachanlagevermögen nur ein vorübergehender Mittelzufluss sind, d. h. es wird
bspw. ein Gebäude verkauft, um eine Straße zu sanieren. Dann bleibt der Kapitalstock konstant, er verändert
sich nur in seiner Struktur. Die Investitionsfähigkeit einer Gemeinde verändert sich nicht.
Auch die Fördermittel sollen an dieser Stelle nicht herangezogen werden, da diese die Ergebnisse verfälschen.
Das liegt an der gesetzlichen Regelung, dass für die Investitionszuwendungen passive Sonderposten gebildet
werden müssen, die dann wiederum analog der anteiligen Abschreibung ertragswirksam aufgelöst werden. Sie
mindern daher die Abschreibungslast, d. h. es muss nicht mehr der gesamte Vermögensverbrauch, sondern nur
der um die Fördermittel verminderte Vermögensverbrauch erwirtschaftet werden. Diese Herangehensweise
führt kurzfristig zu Liquidität für den öffentlichen Haushalt, langfristig aber zu einer drastischen Reduzierung
des kommunalen Vermögensbestandes, da nicht zwingend davon ausgegangen werden kann, dass zum Zeit-
punkt der Sanierung oder der Wiederbeschaffung der abgeschriebenen Vermögenswerte wieder Fördermittel im
gleichen Umfang zur Verfügung stehen. Diese gesetzliche Regelung steht eindeutig im Widerspruch zu einer
nachhaltigen Finanzpolitik.
Wir haben nun auf der Basis der bisher vorhandenen Daten, das sind aufgrund der fehlenden bestätigten Eröff-
nungsbilanzen nur Haushalts- und keine Jahresabschlussdaten, Auswertungen vorgenommen. Für alle Kreis-
freien Städte sowie anteilig nach Kreisen zugehörig, haben wir die Haushaltssatzungen für das Jahr 2014 aus-
gewertet. Wir müssen alle Daten selbst recherchieren, da die öffentlichen Daten, wie wir gemerkt haben, sehr
geheim sein können. Die amtliche Statistik hilft uns hier leider auch nicht weiter, da aufgrund des Statistikge-
setzes die öffentlichen Haushalts- und Jahresabschlussdaten auf eine kamerale Struktur zurückgeführt werden.
Die Auswertung erfolgte damit tatsächlich über die Recherche in den jeweiligen Amtsblättern nach den aktu-
ellsten Haushaltssatzungen der jeweiligen Stadt oder Gemeinde. Die Erhebung ist repräsentativ, aus jedem
Kreis wurden mindestens 30 % der Städte- und Gemeindedaten erhoben. Insgesamt wurden 172 Haushaltssat-
zungen der kreisangehörigen Städte und Gemeinden sowie die 3 der Kreisfreien Städte, Dresden, Leipzig,
Chemnitz herangezogen. Die Verteilung zeigt sich hier.
Abbildung 3: Auswertung der sächsischen Städte und Gemeinden
Quelle: Jänchen (2015): S. 411.

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Panel 3: Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
Bei der Auswertung haben wir zunächst die Ergebnis- und Finanzhaushalte getrennt ausgewertet.
Abbildung 4: Auswertung der Ergebnis- und Finanzhaushalte
Quelle: vgl. Jänchen (2015): S. 412 und 414.
Für das Hj. 2014 ließ sich zeigen, dass die Befürchtung tatsächlich eingetreten ist, nämlich, dass der überwie-
gende Teil der sächsischen Städte und Gemeinden keinen ausgeglichenen Ergebnishaushalt aufweisen konnte.
Überraschend waren allerdings die Finanzhaushalte. Hier wurde erwartet, dass der Großteil ausgeglichen sein
sollte, da man auch durch die Übergangsregelung
7
davon ausging, dass der Ausgleich der Zahlungsmittelsalden
erreicht werden kann. Hier lag bereits bei der Einführung der Übergangsregelung in das Gesetz aber der große
Irrtum vor, dass die Zahlungsmittelseite nicht unabhängig von der Ergebnisseite ist. Man hatte versucht, in
einem doppischen System eine kamerale Ausgleichsmöglichkeit zu schaffen. Bei 67 % der Städte und Gemein-
den war jeweils die Summe aus den 3 Zahlungsmittelsalden des Finanzhaushaltes negativ. Die Zahlungsmittel-
bestände im Umlaufvermögen sind nicht Gegenstand der Haushaltssatzungen, weshalb wir diese nicht mit in
die Analyse einbezogen haben. Die Einhaltung der Übergangsregelung hat also im Wesentlichen deshalb funk-
tioniert, weil noch finanzielle Reserven aus den Vorjahren bestanden, die zum Ausgleich der negativen Finan-
zierungsmittelsalden herangezogen werden konnten.
Verknüpft man nun Ergebnis- und Finanzhaushalte, zeigt sich folgendes Bild:
Quelle: Jänchen (2015): S. 414.
Wir konnten 4 Gruppen bilden, je nachdem, ob Ergebnis- und Finanzhaushalt ein positives oder negatives Er-
gebnis aufwiesen. Die Grafik zeigt, dass in der Gruppe mit negativem Ergebnis- und negativem Finanzhaushalt
die meisten Städte und Gemeinden einzusortieren sind. Interessant ist, dass sich bspw. im Erzgebirgskreis eine
relative Gleichverteilung zeigt, wohingegen im Landkreis Nordsachsen alle untersuchten Städte und Gemein-
den einen negativen Ergebnishaushalt auswiesen. Auch überraschend war die Tatsache, dass alle 3 Kreisfreien
7
Nach der Übergangsregelung in § 131 Abs. 6 SächsGemO genügt ein Ausgleich der Zahlungsmittelsalden im Finanzhaushalt zusammen mit verfügbaren
liquiden Mitteln, um einen Haushaltsausgleich zu erreichen. Diese Regelung gilt bis 31.12.2017.
Abbildung 5: Verknüpfte Auswertung der Ergebnis- und Finanzhaushalte

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Panel 3: Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Analyse doppisch buchender Gemeinden in Sachsen
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Städte für 2014 einen negativen Ergebnishaushalt planten und nur eine davon mit einem positiven Finanz-
haushalt rechnete.
Schlussfolgerung 1: Es lässt sich also zeigen, dass positive Ergebnishaushalte nicht zwingend zu positiven
Finanzhaushalten führen und auch die Übertragung der kameralen Sichtweise auf die doppische Darstel-
lung funktioniert nicht!
Für den zweiten Teil der Analyse untersuchten wir im Finanzhaushalt, inwieweit der Zahlungsmittelsaldo aus
laufender Verwaltungstätigkeit (ZMS VT) ausreicht, um den Zahlungsmittelsaldo für Investitionstätigkeit zu
decken. Um aus eigener Leistungsfähigkeit, ohne Fördermittel oder Fremdfinanzierung investieren zu können,
muss der Zahlungsmittelsaldo aus laufender Verwaltungstätigkeit größer gleich Null sein. Es wurden also die
Städte und Gemeinden herausgefiltert, die diese Anforderung erfüllten. Dann wurde die Investitionstätigkeit in
die Betrachtung mit einbezogen und es ergab sich ein Finanzierungsmittelüberschuss (FMÜ), wenn der Zah-
lungsmittelsaldo aus laufender Verwaltungstätigkeit größer war als der Zahlungsmittelsaldo aus Investitions-
tätigkeit und ein Finanzierungmitteldefizit (FMD), wenn es umgekehrt der Fall war.
Hier erkennt man folgende Zusammenhänge:
Quelle: Jänchen (2015): S. 414.
Im überwiegenden Fall ist der Zahlungsmittelsaldo aus laufender Verwaltungstätigkeit positiv, d. h. es besteht
Liquidität für Investitionstätigkeit. Nur für die Städte und Gemeinden in den Landkreisen Leipzig und Bautzen
zeigt sich der Anteil an Städten und Gemeinden mit negativem Zahlungsmittelsaldo aus laufender Verwal-
tungstätigkeit für 2014 als relativ hoch. Interessant sind die Balken ganz hinten, es gibt Städte und Gemein-
den, die investieren weniger als sie aus der laufenden Verwaltungstätigkeit an Überschüssen erwirtschaftet
haben (ZMS VT+/FMÜ). Hier kann bspw. die Rückzahlung von Krediten im Zahlungsmittelsaldo aus Finanzie-
rungstätigkeit, der hier nicht mit betrachtet wurde, vorgenommen werden. Die Balken davor (ZMS VT+/FMD)
zeigen die Städte und Gemeinden, die mehr investieren als aus ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit für das
Jahr 2014 eigentlich möglich ist.