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Abschlussbericht
Kommission
„Wachstum, Strukturwandel
und
Beschäftigung“
Beschluss vom 26.01.2019
2
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung ....................................................................................................................... 4
2.
Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung .................................. 9
2.1.
Einsetzungsbeschluss und Auftrag ................................................................................ 9
2.2.
Zusammensetzung ......................................................................................................... 9
2.3.
Beratungsverlauf und Sachverständige ....................................................................... 10
2.4.
Bewertungsmaßstäbe .................................................................................................. 11
3.
Ausgangslage ............................................................................................................... 17
3.1.
Klimapolitische Ausgangslage ...................................................................................... 18
3.2.
Energiewirtschaftliche Ausgangslage .......................................................................... 24
3.2.1.
Europäische Rahmenbedingungen .............................................................................. 24
3.2.2.
Energiemärkte ............................................................................................................. 26
3.2.3.
Strompreise und Stromkosten ..................................................................................... 34
3.2.4.
Versorgungssicherheit ................................................................................................. 42
3.2.5.
Revierpläne .................................................................................................................. 48
3.3.
Ausgangslage Wachstum, Beschäftigung und Innovationspotenziale ........................ 57
3.4.
Strukturpolitische Ausgangslage ................................................................................. 60
3.5.
Rechtliche Rahmenbedingungen Strukturpolitik......................................................... 67
4.
Maßnahmen im Energiesektor .................................................................................... 70
4.1.
Klimaschutz .................................................................................................................. 72
4.2.
Energiemarkt und Strompreise für Industrie, gewerbliche Nutzer und private
Endverbraucher ........................................................................................................... 76
4.3.
Versorgungssicherheit ................................................................................................. 77
4.4.
Netze, Speicher, Sektorkopplung und Innovationspotenziale .................................... 80
4.5.
Wertschöpfung und Beschäftigung ............................................................................. 81
4.6.
Berücksichtigung des Tagebaubetriebs und sichere Nachsorge der Tagebaue .......... 82
5.
Perspektiven für bestehende, neue und zukunftssichere Arbeitsplätze ..................... 84
5.1.
Auswirkungen, strukturpolitische Effekte und Zukunftsvisionen für die Reviere ....... 84
5.1.1.
Helmstedter Revier ...................................................................................................... 84
5.1.2.
Lausitzer Revier ............................................................................................................ 85
5.1.3.
Rheinisches Revier ....................................................................................................... 88
5.1.4.
Mitteldeutsches Revier ................................................................................................ 91
5.1.5.
Im gesamten Bundesgebiet ......................................................................................... 94
5.2.
Grundsätze für eine Strukturentwicklungsstrategie ................................................... 95
3
5.3.
Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels ...................................................... 99
5.4.
Institutionelle Verankerung ....................................................................................... 120
6.
Monitoring, Evaluierung und Revisionsklauseln ........................................................ 124
Anhang 1 Einsetzungsbeschluss ................................................................................................. 127
Anhang 2 Sitzungsplan der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ .... 130
Anhang 3 Angehörte Sachverständige ....................................................................................... 131
Anhang 4 Programm der Revierfahrten der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung“ ........................................................................................................... 135
Anhang 5 Projektlisten der Braunkohleländer........................................................................... 137
Anhang 6 Projektliste des Saarlandes ........................................................................................ 333
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1.
Einleitung
Mit Einsetzungsbeschluss vom 6. Juni 2018 hat die Bundesregierung die Kommission „Wachstum,
Strukturwandel und Beschäftigung“ einberufen, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens über
die Gestaltung des energie- und klimapolitisch begründeten Strukturwandels in Deutschland
herzustellen. Dabei steht die Schaffung konkreter Perspektiven für neue, zukunftssichere
Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen im Vordergrund. Die Mitglieder der Kommission stellen
einen breiten Querschnitt der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Akteure dar. Das
schafft die Grundlage für einen tragfähigen gesellschaftlichen Konsens, auf den sich alle Beteiligten in
den kommenden Jahren verlassen können.
Die schrittweise Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung ist eine historische Aufgabe.
Seit Jahrzehnten ist die Kohle wesentlicher Bestandteil der sicheren Energieversorgung in
Deutschland. Sie hatte so entscheidenden Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu
einer weltweit führenden Industrienation. Erbracht haben diese Leistung in erster Linie die
Beschäftigten in der Braun- und Steinkohlewirtschaft. Diese haben die Kohleregionen über
Generationen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell entscheidend geprägt. Diese
Entwicklung hat den Regionen wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand gebracht und zugleich auch
den dort lebenden Menschen große Opfer abverlangt. Der hohe Anteil industrieller Produktion an
der Wertschöpfung in Deutschland basiert auf einer zuverlässigen, bezahlbaren Energieversorgung,
aber auch auf integrierten Wertschöpfungsketten, Unternehmergeist sowie einem hohen
technischen Know-How der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infolge einer guten Ausbildung.
Die für einen erfolgreichen Klimaschutz notwendige Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung kann nur dann erfolgreich und mit Vorbildfunktion gelingen, wenn eine Reihe von
Anforderungen in Einklang gebracht werden. Dazu zählen der Erhalt und die Schaffung neuer guter,
tarifvertraglich abgesicherter Arbeitsplätze in den betroffenen Regionen, die sichere und bezahlbare
Versorgung mit Strom und Wärme zu jedem Zeitpunkt sowie der Erhalt und die Weiterentwicklung
der Kohlereviere zu weiterhin lebenswerten und attraktiven Regionen. Es müssen den
tagebaubetroffenen Gemeinden neue Perspektiven eröffnet und eine ausgewogene Verteilung der
Vorteile und Lasten sichergestellt werden. Es muss dabei gelingen, allen Akteuren langfristige
Planungssicherheit zu geben und den Aufbau neuer Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Die
Wettbewerbsfähigkeit von Gewerbe, Handwerk, Handel und Dienstleistung sowie der Industrie
müssen dabei gewahrt bleiben. Zudem muss die Bewältigung der erheblichen Folgekosten der
Braunkohleverstromung auch langfristig auf dem vorhandenen hohen Niveau abgesichert werden.
Deutschland braucht einen gesellschaftlich breit verankerten Konsens, der einen sozial
ausgewogenen und gerecht gestalteten Übergang in ein neues Energiesystem ebnet und für die
kommenden Dekaden sicherstellt. Nur ein solcher Konsens, der von allen Akteuren mitgetragen wird,
kann die nötige Planungssicherheit und Verlässlichkeit schaffen und so zum Motor der langfristigen
Umstellung des deutschen Energiesystems werden. Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung“ betont, dass eine erfolgreiche Strukturentwicklung in den Braunkohlerevieren
unerlässliche Voraussetzung für diesen gesellschaftlichen Konsens ist. Der Strukturwandel im
Zusammenhang mit der Reduzierung der Braunkohleverstromung hat zum Teil bereits begonnen,
während in den ostdeutschen Bundesländern der flächendeckende Strukturwandel nach der
deutschen Wiedervereinigung noch immer nicht abgeschlossen ist. Die Braunkohlereviere und
Standorte von Steinkohlekraftwerken stehen einerseits vor der Herausforderung, bestehende
Wertschöpfungsketten zu sichern und neue Wertschöpfungsketten aufzubauen, und andererseits vor
der Chance, den anstehenden Strukturwandel durch Innovationen zukunftsfähig zu gestalten.
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Deutschland steht mit dieser Herausforderung nicht allein. Eine Reihe von Ländern hat bereits die
Beendigung der Kohleverstromung beschlossen und eingeleitet. Andere Länder haben diesen Schritt
noch vor sich, denn für einen wirksamen Klimaschutz ist das weltweite Auslaufen der
Kohleverstromung unabdingbar. Als hochindustrialisierte Exportnation mit einem vergleichsweisen
großen Anteil der Kohle an der Stromerzeugung stellt die Beendigung der Kohleverstromung für
Deutschland jedoch eine besondere Herausforderung dar. Wenn es hier gelingt,
Strukturwandelprozesse erfolgreich durchzuführen und Klimaschutz, Schaffung guter Arbeitsplätze,
Stärkung des Wirtschaftsstandortes und erfolgreiche Weiterentwicklung der betroffenen Regionen in
Einklang zu bringen, kann die Energiewende und die damit verbundene Beendigung der
Kohleverstromung beispielgebend für andere Länder sein. Der Erfolg der Energiewende im Kontext
der globalen Herausforderungen wird sich nicht nur an der Frage entscheiden, ob und wie die großen
Chancen durch neue Technologien, und Geschäftsmodelle genutzt werden, sondern auch an der
Frage, ob Entwicklungen wie die beschleunigte Beendigung der Kohleverstromung ohne
unbeherrschbare Strukturbrüche vollzogen werden können.
Mit der Energiewende hat sich Deutschland bereits erfolgreich auf den Weg gemacht, den Wandel
des Energiesektors zu gestalten. Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist weit vorangeschritten.
Werden die Weichen richtig gestellt, entsteht Raum für Innovationen und zukunftsfeste Industrien.
Der Klimaschutz bietet die Möglichkeit, den Wandel erfolgreich zu gestalten und ist zugleich Treiber
für neue Geschäftsfelder und die Weiterentwicklung bestehender Industrien. Erfolgreiche
Klimaschutzbemühungen sind mit einer umfangreichen Modernisierung aller Sektoren der deutschen
Volkswirtschaft verbunden und können deutschen Unternehmen weitere Chancen auf potenziellen
Wachstumsmärkten, insbesondere für klimaverträgliche Technologien, eröffnen. Gleichzeitig wird
der anstehende Transformationsprozess Deutschland vor erhebliche Umsetzungsherausforderungen
stellen. Die Energiewende beschreibt einen Pfad einer politisch getriebenen, strukturellen
Veränderung des Energiesystems. Diese durch klimapolitische Weichenstellungen im nationalen,
europäischen und internationalen Rahmen, aber auch im Rahmen eines rapiden technologischen
Wandels entstehenden Veränderungen betreffen Technologien jeglicher Art. Darüber hinaus sind
ökonomische, Unternehmens- und Beschäftigungsstrukturen sowie die grundlegende räumliche
Entwicklung tangiert.
Die Vorschläge der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ stellen das Ergebnis
einer ausgewogenen Abwägung der verschiedenen Interessen dar. Es stellt sicher, dass Deutschland
unter den gegebenen Zielen aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Sicherung von
Beschäftigung und Wertschöpfung die Lücke zum 40 %-Klimaziel so weit wie möglich schließt, und
dass die Energiewirtschaft ihr Sektorziel für 2030 zuverlässig erreicht. Die Vorschläge enthalten
zudem ein Enddatum für die Kohleverstromung in Deutschland. Bei der Erarbeitung der
Empfehlungen hat die Kommission deshalb sowohl zahlreiche Wissenschaftler und
Interessengruppen angehört als auch den Erkenntnis- und Sachstand umfassend diskutiert und die
verschiedenen Positionen miteinander abgewogen.
Wirksame und effiziente Maßnahmen für ambitionierten Klimaschutz: Der Klimawandel hat
bereits begonnen. So hat sich die mittlere Oberflächentemperatur der Erde gegenüber dem
vorindustriellen Niveau um ca. 1°C erhöht. Dies zeigt sich immer deutlicher in extremen
Wetterereignissen. Bei der UN-Klimakonferenz in Paris im Dezember 2015 haben sich 197
Staaten der Klimarahmenkonvention auf ein globales Klimaschutzabkommen geeinigt,
dessen Umsetzung auf der Klimakonferenz in Katowice im Dezember 2018 konkretisiert
wurde. Darin haben sie sich verpflichtet, die Erderwärmung im Vergleich zum
vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2°C, möglichst auf 1,5°C zu beschränken. Für den
Anstieg der Temperatur sind die kumulierten CO
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-Emissionen maßgeblich, die sich über die
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Zeit in der Atmosphäre ansammeln.
In Umsetzung der UN-Klimaziele hat Deutschland sich ambitionierte Klimaschutzziele gesetzt,
um bis 2050 eine weitgehend treibhausgasneutrale Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen.
Für einen derart tiefgreifenden Umbau müssen alle Sektoren einen Beitrag leisten.
Gleichzeitig weisen alle Zukunftsszenarien, mit denen sich die Kommission befasst hat, auf
die Schlüsselrolle der Energiewirtschaft und die Beendigung der Kohleverstromung in diesem
Prozess hin. Zahlreiche Berechnungen zeigen darüber hinaus, dass eine möglichst schnelle
und weltweite Beendigung der Kohleverstromung einen besonders wirksamen Weg darstellt,
um die weitere Erwärmung des Klimas zu bremsen. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht wären
bei einem abrupten Kohleausstieg jedoch massive Folgewirkungen zu erwarten, die mit Blick
auf die heute noch in der Kohlewirtschaft Beschäftigten, die betroffenen Regionen, die
Kosten einer sicheren Strom- und Wärmeversorgung sowie den Erhalt der
Wettbewerbsfähigkeit der Industrie unverhältnismäßig wären.
Sicherung von Perspektiven für die Beschäftigten in den Kohleregionen: Die Beendigung der
Kohleverstromung bedeutet auch, dass der Strukturwandel in den betroffenen
Kohleregionen schneller voranschreitet. Die politische Entscheidung, die Beendigung der
Kohleverstromung zu beschleunigen, bedingt eine besondere Verantwortung des Bundes, die
Strukturentwicklung in diesen Regionen kurz-, mittel- und langfristig zu unterstützen, um die
wegfallenden Arbeitsplätze sowie die Wertschöpfung durch neue, zukunftsfähige
Einrichtungen und Unternehmen auszugleichen und neue Perspektiven für ein gutes Leben
und erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in den betroffenen Regionen zu schaffen. Die
Braun- und Steinkohleunternehmen haben die Beschäftigungsstruktur der Regionen über
Jahrzehnte entscheidend geprägt. Hier bestehen Arbeitsplätze, die qualitativ hochwertig,
tariflich abgesichert und durch die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit durch
Arbeitgeber und Arbeitnehmer geprägt sind. Der Zusammenbruch großer Teile der
ostdeutschen Industrie nach der Deutschen Einheit hat auch und in hohem Maße in der
Braunkohlewirtschaft Wunden hinterlassen. Betriebliche Umstrukturierungen in der
Energiewirtschaft in den folgenden Jahren haben zudem einen weiteren starken Abbau der
Beschäftigung jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit zur Folge gehabt. Dieser wirtschaftliche
Einbruch hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Treibhausgasemissionen in Deutschland
vor allem in den 1990er Jahren deutlich gesunken sind. Die Regionen und die dort lebenden
Menschen erwarten völlig zu Recht die Solidarität von Gesellschaft und Politik.
Strukturpolitische Maßnahmen müssen deshalb in besonderer Weise die Erfahrungen der
Menschen in den ostdeutschen Bundesländern aufgreifen. Der Kommission ist bewusst, dass
eine erfolgreiche Strukturentwicklung in allen Revieren ein andauernder Prozess ist und eine
reaktive Strukturpolitik nicht ausreichend ist. Gemeinsames Ziel muss deshalb eine proaktive
Strukturentwicklung sein, so dass die Regionen, die derzeit noch einen wirtschaftlichen
Schwerpunkt auf der Kohleverstromung legen, mit Unterstützung der Politik andere
zukunftsfähige Modelle industrieller Wertschöpfung entwickeln können, die an den
bestehenden Stärken ansetzen.
Sichere Rahmenbedingungen für langfristige Investitionen und Schaffung neuer Arbeitsplätze
und Perspektiven für die Unternehmen: Der Strukturwandel ist unabhängig von kurzfristigen
Entscheidungsprozessen dauerhaft und verlässlich abzusichern. Dies ist unerlässlich, um die
Akzeptanz der Menschen in den Revieren für den Strukturwandelprozess zu stärken. Zudem
ist angesichts der langen Investitionszyklen und hohen Investitionsvolumina
Planungssicherheit von überragender Bedeutung. Um die zukünftige Entwicklung selbst zu
gestalten, brauchen Einwohner, Beschäftigte, Kommunen und Unternehmen einerseits eine
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gesamtgesellschaftliche und staatliche Unterstützung von EU, Bund und Ländern mit
verlässlichen, langfristig wirksamen Rahmenbedingungen sowie andererseits möglichst breit
verankerte regionale Perspektiven für die zukünftigen Entwicklungen. Deshalb kommt es nun
darauf an, auf Grundlage der Empfehlungen der Kommission im Dialog mit den Beteiligten
und Betroffenen die notwendigen rechtlichen und institutionellen Grundlagen für den
sofortigen Start der Strukturentwicklungshilfen zu schaffen.
Verbindliche, überjährige Finanzierung von Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels:
Strukturentwicklung benötigt Planungssicherheit und eine auskömmliche Finanzierung. Dies
ist durch ein umfassendes Gesetzespaket zur Stärkung von Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung in Braunkohlerevieren und an betroffenen Steinkohlekraftwerksstandorten
sicherzustellen.
Berücksichtigung der Interessen der von Umsiedlungen Betroffenen: Bisher mussten bereits
120.000 Menschen für die Braunkohle ihre Dörfer und Heimat verlassen. Noch immer sind
Dörfer von der Umsiedlung betroffen. Im Interesse der betroffenen Menschen und
Unternehmen ist schnellstmöglich Sicherheit für ihre Lebens- und Unternehmensplanung
nötig. Dies betrifft insbesondere die Anwohner von Orten, die sich bereits im
Umsiedlungsprozess befinden.
Versorgungssicherheit, Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sowie Erhalt und
Weiterentwicklung industrieller Wertschöpfungsketten: Eine international
wettbewerbsfähige, verlässliche und unterbrechungsfreie Versorgung mit Strom und Wärme
ist ein entscheidender Standortfaktor für Industrien, die im internationalen Wettbewerb
stehen. Deutschland setzt auch in Zukunft auf diese Industrien und muss daher sichere
Rahmenbedingungen weiterhin erhalten. Wo durch die Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung zusätzliche Belastungen für die Wertschöpfung entstehen, müssen diese
durch effektive Maßnahmen ausgeglichen werden. Zum Erfolg gehört zugleich, dass die
großen Chancen durch neue Technologien und Geschäftsmodelle erkannt und genutzt
werden. Es geht darum, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Energieversorgung
klimaschonend, sicher und zu sozial- und wirtschaftsverträglichen Kosten gelingt. Dies schafft
Planungssicherheit und Verlässlichkeit und kann zu einem Motor der Modernisierung des
Wirtschaftsstandorts Deutschland werden, die über den Energiesektor hinausweist.
Deutschland kann so seine Rolle als Vorreiter und Innovationsmotor der Energiewende
bewahren, die inzwischen in immer mehr Weltregionen auch ökonomisch getrieben ist. Auf
diese Weise kann Deutschland seine Chancen auf diesem Feld entscheidender
Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert sichern.
Sozial ausgewogene und gerechte Verteilung der Vorteile und Belastungen: Damit die
Beendigung der Kohleverstromung und die Energiewende auch in Zukunft von der
Gesellschaft mitgetragen werden, muss dieser tiefgreifende Umbau in einem übergreifenden
Sinn gerecht gestaltet werden. Dies bedeutet, dass Vorteile und Belastungen in der
Gesellschaft möglichst ausgewogen verteilt werden.
Die Energiewende und die damit verbundene Reduktion und Beendigung der Kohleverstromung
findet inmitten eines dynamischen Umfeldes statt. Diese bedeutet auch einen Eingriff in gewachsene
wirtschaftliche Strukturen und Wertschöpfungsketten, die für den Standort Deutschland als
hochentwickelte Industrienation von großer Bedeutung sind. Dabei gibt es wirtschaftliche,
technische, politische und rechtliche Unsicherheiten in diesem Prozess, die die Prognosefähigkeit der
betroffenen Akteure erschweren. Die Mitglieder der Kommission sind sich der damit einhergehenden
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Verantwortung bewusst. Der Fortschritt bei der Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen muss
deshalb regelmäßig und aufmerksam überprüft und gegebenenfalls nachgesteuert werden.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ geht davon aus, dass die
Bundesregierung die von ihr vorgelegten Empfehlungen zeitnah und vollumfassend umsetzen wird.
Zur nötigen Planungssicherheit gehört auch die Schaffung von Rechtssicherheit für alle Bestandteile
des Maßnahmenpaketes. Die Kommission erwartet daher, dass die Bundesregierung sicherstellt, dass
spätere Rechtsänderungen beispielsweise des Umwelt- und Planungsrechts das erzielte Ergebnis der
Kommission nicht gefährden oder unterlaufen.
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2.
Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung
2.1. Einsetzungsbeschluss und Auftrag
Die Bundesregierung hat die Kommission „Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung“ (WSB) am
6. Juni 2018 eingesetzt (vgl. Einsetzungsbeschluss, Anhang 1). Der Einsetzungsbeschluss legt den
Auftrag der Kommission fest. Zum diesem Auftrag gehört die Erarbeitung eines Aktionsprogramms
mit folgenden Schwerpunkten:
1. Schaffung einer konkreten Perspektive für neue, zukunftssichere Arbeitsplätze in den betroffenen
Regionen im Zusammenwirken zwischen Bund, Ländern, Kommunen und wirtschaftlichen Akteuren
(z. B. im Bereich Verkehrsinfrastrukturen, Fachkräfteentwicklung, unternehmerische Entwicklung,
Ansiedlung von Forschungseinrichtungen, langfristige Strukturentwicklung).
2. Entwicklung eines Instrumentenmixes, der wirtschaftliche Entwicklung, Strukturwandel,
Sozialverträglichkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Klimaschutz zusammenbringt und
zugleich Perspektiven für zukunftsfähige Energieregionen im Rahmen der Energiewende eröffnet.
3. Dazu gehören auch notwendige Investitionen in den vom Strukturwandel betroffenen Regionen
und Wirtschaftsbereichen, für die bestehende Förderinstrumente von Bund und EU effektiv,
zielgerichtet und prioritär in den betroffenen Regionen eingesetzt werden und für die ergänzend
ein Fonds für Strukturwandel, insbesondere aus Mitteln des Bundes, eingesetzt wird.
4. Maßnahmen, die das 2030-er Ziel für den Energiesektor zuverlässig erreichen, einschließlich einer
umfassenden Folgenabschätzung. Aus dem Klimaschutzplan ergibt sich hierfür die Vorgabe zur
Verringerung der Emissionen aus der Energiewirtschaft um 61 bis 62 Prozent im Jahr 2030
gegenüber dem Jahr 1990. Für den Beitrag der Kohleverstromung soll die Kommission geeignete
Maßnahmen zur Erreichung des Sektorziels 2030 der Energiewirtschaft, die in das
Maßnahmenprogramm 2030 zur Umsetzung des Klimaschutzplans einfließen sollen, vorschlagen.
5. Darüber hinaus ein Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung,
einschließlich eines Abschlussdatums und der notwendigen rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen,
renaturierungs- und strukturpolitischen Begleitmaßnahmen.
6. Ebenso Maßnahmen zum Beitrag der Energiewirtschaft, um die Lücke zur Erreichung des 40 %-
Reduktionsziels so weit wie möglich zu reduzieren. Hierzu wird die Bundesregierung eine aktuelle
Schätzung zur Größe der zu erwartenden Lücke im Rahmen des Klimaschutzberichtes 2017
veröffentlichen.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat ihre Arbeitsergebnisse zum
Strukturwandel in einem schriftlichen Zwischenbericht vom 31. Oktober 2018 niedergelegt und erste
Empfehlungen für Maßnahmen zur sozialen und strukturpolitischen Entwicklung der
Braunkohleregionen abgegeben. Hiermit legt die Kommission ihren Abschlussbericht vor.
2.2. Zusammensetzung
In die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ wurden folgende Personen
berufen:
Vorsitzende
Matthias Platzeck
Ronald Pofalla
Prof. Dr. Barbara Praetorius
Stanislaw Tillich
10
Mitglieder
Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger (bis 21. August 2018)
Antje Grothus
Gerda Hasselfeldt
Christine Herntier
Martin Kaiser
Steffen Kampeter
Stefan Kapferer
Prof. Dieter Kempf
Stefan Körzell
Michael Kreuzberg
Dr. Felix Matthes
Claudia Nemat
Prof. Dr. Kai Niebert
Prof. Dr. Annekatrin Niebuhr
Reiner Priggen
Katherina Reiche
Gunda Röstel
Andreas Scheidt
Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber
Christiane Schönefeld (ab 22. August 2018)
Dr. Eric Schweitzer
Michael Vassiliadis
Prof. Dr. Ralf Wehrspohn
Prof. Dr. Hubert Weiger
Hannelore Wodtke
Zudem wurden drei Mitglieder des Deutschen Bundestages als Personen mit Rede- aber ohne
Stimmrecht benannt:
Andreas G. Lämmel, MdB
Dr. Andreas Lenz, MdB
Dr. Matthias Miersch, MdB
Ebenfalls als Personen mit Rede- aber ohne Stimmrecht nahmen Vertreterinnen und Vertreter der
Bundesländer Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen und Sachsen-
Anhalt an den Kommissionssitzungen teil.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung die Arbeit der Kommission umfassend unterstützt. Die
Kommission wurde von einem Staatssekretärsausschuss begleitet, der sich aus Vertreterinnen und
Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi), des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit (BMU), des Bundesministeriums des Innern, für Bau
und Heimat (BMI) und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zusammensetzte. Das
Bundeskanzleramt hatte Gaststatus.
2.3. Beratungsverlauf und Sachverständige
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat sich am 26. Juni 2018 in einer
ersten Sitzung konstituiert. Es folgten 9 Sitzungen etwa im monatlichen Rhythmus bis zur
Abschlusssitzung am 25.01.2019 (vgl. Sitzungsplan, Anhang 2). In den ersten Sitzungen hat die
Kommission Sachverständige aus Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft angehört. Eine Liste der angehörten Sachverständigen findet sich im Anhang 3.
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Zusätzlich zu den Sitzungen in Berlin hat die Kommission drei Fahrten in die Braunkohlereviere
unternommen. Am 24. September 2018 hat die Kommission das Mitteldeutsche Revier, am
11. Oktober 2018 das Lausitzer Revier und am 24. Oktober 2018 das Rheinische Revier besucht. Dort
haben die Kommissionsmitglieder mit Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen
Landesregierungen und aus Kommunen, regionalen Unternehmen, Hochschulen, Kirchen und
Bürgerinitiativen diskutiert (vgl. Programm der drei Revierfahrten, Anhang 4).
2.4. Bewertungsmaßstäbe
Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit (Bezahlbarkeit,
Wettbewerbsfähigkeit), Energieinfrastruktur, Planungs- und Rechtssicherheit
Aus Sicht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ sind folgende
Bewertungsmaßstäbe wesentlich, um die sukzessive Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung im Einklang mit dem energiepolitischen Zieldreieck zu gestalten. Das
ausgewogene energiepolitische Zieldreieck aus Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und
Wirtschaftlichkeit ist der zentrale Orientierungspunkt der Kommission. Dabei stellt die Reihenfolge
der Nennung keine Priorisierung dar. Aus Sicht der Kommission sind alle Punkte gleichrangig:
Die Energieversorgung ist klima- und umweltverträglich. Mit der schrittweisen
Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung leistet Deutschland einen Beitrag
zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens. Die Energiewirtschaft erreicht ihr
Sektorziel aus dem Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung für das Jahr 2030 und
leistet einen Beitrag dazu, die Lücke zum 40 Prozent-Reduktionsziel so weit wie möglich
zu schließen. Für die Klimawirkung ist der Umfang der kumulierten
Treibhausgasemissionen maßgeblich.
Alle Sektoren leisten einen angemessenen Beitrag. Der Umbau zu einer
treibhausgasneutralen Gesellschaft ist ein Gemeinschaftswerk, zu dem alle Sektoren
gemäß Klimaschutzplan 2050 einen angemessenen Beitrag leisten müssen. Dies ist nicht
nur ein Gebot der Ausgewogenheit, sondern auch der Kosteneffizienz, um die Klimaziele
zu vertretbaren volkswirtschaftlichen Kosten zu erreichen.
Die Energieversorgung ist und bleibt sicher. Eine sichere Energieversorgung ist Grundlage
unseres Wirtschaftsstandorts. Versorgungssicherheit bedeutet, dass die Versorgung zu
jedem Zeitpunkt verlässlich, bedarfsgerecht und in der notwendigen Qualität erfolgt.
Neben einer sicheren Stromversorgung ist auch die zuverlässige Versorgung mit Wärme
und Kraftstoffen essenziell für Industrie, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger.
Die Energieversorgung ist bezahlbar und preiswürdig, die Energiepreise sind angemessen
und verlässlich. International wettbewerbsfähige Strompreise sichern den Wirtschafts-
und Industriestandort Deutschland. Auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass ihre
Stromrechnung bezahlbar bleibt. Gleiches gilt schließlich für die Belastung durch
Entgelte, Abgaben und Umlagen.
Deutschland bleibt ein hochattraktiver Standort. Industrie und Wirtschaft sind das
Fundament für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze. In Zeiten von Finanz- und
Wirtschaftskrisen hat sich dieses Fundament bewehrt. Zugleich müssen sich zahlreiche
energieintensive Branchen international behaupten. Deren Wertschöpfung ist oft eng mit
der Energiewirtschaft und den Wertschöpfungsketten weiterer Branchen verflochten. Bei
Entscheidungen über die Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung und der
Gestaltung flankierender Maßnahmen werden diese Abhängigkeiten bedacht.
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Die Energieinfrastruktur ist für zukünftige Anforderungen gewappnet. Dazu gehören
ausreichende Kraftwerkskapazitäten sowie ausreichende, auch regionale
Netzkapazitäten, um Versorgungszuverlässigkeit und Systemsicherheit zu gewährleisten.
Wesentliche Elemente sind die Modernisierung und Digitalisierung sowie der weitere
bedarfsgerechte Ausbau der Stromnetze, der Gasinfrastruktur, der Speicherkapazitäten
und der Nachfrageflexibilität. Auch die Fern- und Nahwärmenetzinfrastruktur wird
bedarfsgerecht ausgebaut.
Deutsche Unternehmen nutzen die Chancen, die sich bieten. Der weltweite Umbau der
Energiesysteme zu dezentraleren, digitalisierten und flexibleren Lösungen bietet für ein
exportorientiertes Hochtechnologieland wie Deutschland mannigfaltige Möglichkeiten –
nicht nur bei erneuerbaren Energien, sondern auch bei Speicher- und
Effizienztechnologien oder beim Netzbetrieb. Wo nötig und volkswirtschaftlich sinnvoll,
werden die regulatorischen Rahmenbedingungen angepasst, um neue innovative
Geschäftsmodelle zu ermöglichen.
Neue Wertschöpfung im Energiesektor: Technologiekompetenz und Innovationsfähigkeit
werden aufgebaut sowie der Einsatz von erneuerbaren Energien, Speichern und grünem
Wasserstoff (Power-to-Gas) als Zukunftstechnologien in den betroffenen Regionen
gestärkt.
Rechtssicherheit schafft Planbarkeit für die Unternehmen der Energiewirtschaft.
Eigentumsrechte werden gewahrt. Rechtssicherheit führt insbesondere für die
energiewirtschaftlichen Akteure zu langfristiger Planbarkeit. Daher sind die empfohlenen
Maßnahmen verfassungs-, europa- und EU-beihilferechtskonform, also rechtssicher,
umzusetzen.
Die Maßnahmen schaffen Planungs- und Rechtssicherheit für alle Betroffenen. Vom
weiteren Verlauf des Braunkohlenbergbaus und der Kohleverstromung ist eine Vielzahl
von Menschen betroffen. Dies reicht von den Beschäftigten in den unterschiedlichen
Unternehmen bis zu den Anwohnerinnen und Anwohnern von Tagebauen, die vom
Tagebaubetrieb sowie gegebenenfalls von Umsiedlungen betroffen wären oder sind. Ein
transparenter, verlässlicher und rechtssicher ausgestalteter Pfad für die schrittweise
Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung kann helfen, die Unsicherheiten und
Verunsicherungen in den verschiedenen Bereichen der Lebensplanungen für diese
Betroffenen weitgehend abzubauen.
Regelmäßige Überprüfung vereint Flexibilität und Planbarkeit. Einerseits verlangen
Investoren, Arbeitskräfte und andere Betroffene Planbarkeit. Andererseits ist der Prozess
der schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung mit erheblichen
wirtschaftlichen, technischen, politischen, sozialen und rechtlichen Unsicherheiten
behaftet. Um allen Belangen ausgewogen Rechnung zu tragen, werden die Auswirkungen
der Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung fortlaufend überwacht und in
regelmäßigen Abständen überprüft, um gegebenenfalls konsequent nachzusteuern.
Die Beendigung der Kohleverstromung in Deutschland ist eng verzahnt mit
Entwicklungen auf europäischer und internationaler Ebene. Die Ausgestaltung
berücksichtigt Wechselwirkungen, die sich etwa im Rahmen des EU-Emissionshandels
und im Energiebinnenmarkt ergeben, und berücksichtigt Entwicklungen in der
europäischen und internationalen Klimapolitik. Die Umsetzung erfolgt zudem in enger
Abstimmung mit den europäischen Nachbarländern.
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Strukturentwicklung, Vermeidung von Strukturbrüchen, Sicherung der Wertschöpfung, neue
Perspektiven für Innovation, neue Geschäftsmodelle und sozialer Zusammenhalt
Der Einsetzungsbeschluss gibt der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
folgenden Auftrag: „Mit der Umsetzung des Klimaschutzplanes wird sich der Strukturwandel in vielen
Regionen und Wirtschaftsbereichen beschleunigen, insbesondere im Sektor der Energieerzeugung.
Die damit einhergehenden Veränderungen dürfen nicht einseitig zu Lasten der
kohlestromerzeugenden Regionen gehen, sie müssen vielmehr Chancen für eine nachhaltige
wirtschaftliche Dynamik mit qualitativ hochwertiger Beschäftigung eröffnen. Diese wollen wir aktiv
nutzen und so Strukturbrüche sowie Einschränkungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
vermeiden.“
In diesem Sinne formuliert die Kommission folgende Kriterien für die erfolgreiche Gestaltung von
Strukturentwicklung und für die Vermeidung von Strukturbrüchen in den betroffenen Regionen. Ihr
Ziel ist die Entwicklung der Braunkohleregionen zu europäischen Modellregionen für die erfolgreiche
Transformation im politisch begründeten Strukturwandel. Dabei stellt die Reihenfolge der Nennung
auch hier keine Priorisierung dar. Aus Sicht der Kommission sind alle Punkte gleichrangig:
Eine gelungene Strukturentwicklung leistet einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der
freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Strukturentwicklung ist vorausschauend und richtet sich gleichermaßen an den Zielen der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, sozialem Zusammenhalt,
kultureller Identität und der Lebensqualität in den Regionen für alle Menschen aus.
Die Menschen und Akteure in den betroffenen Regionen gestalten den Strukturwandel in
ihrer Heimat durch ihr Engagement und ihre Ideen. Die Politik unterstützt diese
Entwicklung und belässt die notwendigen Freiräume.
Strukturentwicklung ist eine langfristige gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie liegt in der
gemeinsamen Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen sowie den Sozialpart-
nern, Unternehmen und Menschen vor Ort und wird von diesen gemeinsam gestaltet
und getragen.
Strukturentwicklung erfolgt sozialverträglich. Sie sichert bestehende, hochwertige,
mitbestimmte Arbeitsplätze oder schafft neue, hochwertige und zukunftssichere
Arbeitsplätze. Langfristig gebraucht werden Arbeitsplätze aller Qualifikationsstufen.
Damit wird eine positive Beschäftigungsbilanz sichergestellt.
Strukturentwicklung macht die Regionen zukunftsfähig und eröffnet ihnen neue
Perspektiven. Sie unterstützt die Regionen dabei, sich für die Zukunft neu aufzustellen
und sich bietende Chancen zu nutzen. Die Regionen werden damit zu Vorreitern für
einen gelungenen Strukturwandel und beispielgebend für den Transformationsprozess in
Europa hin zu einer weitgehend klimaneutralen Industriegesellschaft.
Betriebsbedingte Kündigungen werden verhindert und den Beschäftigten entstehen
keine unbilligen sozialen und ökonomischen Nachteile.
Die mit einer Beendigung der Kohleverstromung verbundenen Effekte auf den
Wirtschaftsstandort Deutschland, beispielsweise mit Blick auf die Verbundindustrien und
vor Ort bestehende Wertschöpfungsketten, sollen so weit wie möglich vermieden und
ansonsten kompensiert werden. Die wirtschaftliche Weiterentwicklung soll auf den
bestehenden Industriekernen aufbauen.
14
Parallel zur Weiterentwicklung bestehender Wertschöpfungsketten werden neue und
innovative Wertschöpfungsketten geknüpft, wobei auf in den Revieren bestehende
Stärken aufgebaut und die Entwicklung neuer Wertschöpfungsketten gefördert wird.
Investitionen in eine moderne Infrastruktur dürfen nicht allein bestehende Lücken zum
bundesdeutschen Durchschnitt schließen, sondern setzen auch neue Standards.
Attraktive infrastrukturelle Bedingungen sind Grundvoraussetzung für private
Investitionen.
Soziale wie kulturelle Infrastrukturen werden im Strukturwandel gesichert und
weiterentwickelt.
Strukturentwicklung muss auf die Besonderheiten der Regionen eingehen. Sie
berücksichtigt die unterschiedlichen Ausgangslagen und Perspektiven der Reviere und
folgt revierspezifischen Strategien. Strukturentwicklung unterstützt und stärkt die
kulturelle Identität der Regionen. Die kurz-, mittel- und langfristigen Dimensionen der
Strukturentwicklung sind ausgewogen zu berücksichtigen.
Der Prozess des Strukturwandels selbst schafft Vertrauen in Veränderung und neue
Identifikation.
Monitoring und professionelle Steuerung ermöglichen Anpassungen im Prozess des
Strukturwandels.
Die Gestaltung des Strukturwandels erfordert gleichermaßen Respekt vor den Motiven,
die der Energiewende zugrunde liegen, sowie auch Respekt vor den Menschen, die vom
Strukturwandel in besonderer Weise betroffen sind, und ihren Lebensleistungen.
Die bestehenden strukturpolitischen Instrumente dienen insbesondere der Angleichung
strukturschwacher Regionen an strukturstarke Regionen und leisten einen Beitrag zur
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Ein klimapolitisch forcierter
Strukturwandel erfordert deshalb nennenswerte zusätzliche strukturpolitische
Fördermaßnahmen. Diese müssen bedarfsgerecht finanziert werden. Neben öffentlichen
Investitionen etwa in die soziale, kulturelle und nachhaltige Verkehrsinfrastruktur sind
prioritär zielgerichtete Anreize für private, industrielle Investitionen in den Revieren und
an Kraftwerksstandorten notwendig.
Die finanzielle Absicherung des Strukturwandels muss die klimapolitisch veranlassten
Eingriffe in die Energieerzeugung angemessen berücksichtigen.
Ziel der strukturpolitischen Maßnahmen muss die nachhaltige Weiterentwicklung der
industriellen Wertschöpfungsketten in Deutschland sein. Es muss das Ziel sein, für die
sinkende bzw. wegfallende Wertschöpfung aus der Kohle adäquaten Ersatz bei
Wertschöpfung und Beschäftigung in den Revieren zu schaffen. Ziel ist die nachhaltige
Modernisierung des Industrielandes Deutschland, die Sicherung und Schaffung
tarifvertraglich abgesicherter, mitbestimmter Arbeit und eine weitgehend
treibhausgasneutrale Gesellschaft im Jahr 2050.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ legt ihrer Arbeit die geographische
Abgrenzung der vier Braunkohlereviere zugrunde, die 2017 zwischen dem
Bundeswirtschaftsministerium und den betroffenen Ländern abgestimmt wurde. Die Kommission hat
sich somit bewusst für eine breite Abgrenzung der Reviere entschieden, um auch solche Gebiete zu
erfassen, die eine enge Verflechtung zur Braunkohlewirtschaft haben. Innerhalb der Reviere kann
noch nach tatsächlicher Betroffenheit und überregionalen Auswirkungen des Strukturwandels
differenziert werden.
15
Darüber hinaus war sich die Kommission einig, dass im Ausnahmefall auch Projekte in die Förderung
aufgenommen werden oder andere Unterstützungsmaßnahmen erhalten können, die nicht im Revier
selbst liegen, aber für die Entwicklung im Revier hohe Bedeutung haben.
Region des Lausitzer Reviers
Region des Mitteldeutschen Reviers
Brandenburg:
Kreis Dahme-Spreewald
Kreis Elbe-Elster
Kreis Oberspreewald-Lausitz
Kreis Spree-Neiße
Stadt Cottbus
Sachsen:
Kreis Bautzen
Kreis Görlitz
Sachsen:
Stadt Leipzig
Kreis Leipzig
Kreis Nordsachsen
Sachsen-Anhalt:
Burgenlandkreis
Saalekreis
Stadt Halle
Kreis Mansfeld-Südharz
Kreis Anhalt-Bitterfeld
Thüringen:
Kreis Altenburger Land
Region des Helmstedter Reviers
Region des Rheinischen Reviers
Niedersachsen:
Stadt Braunschweig
Kreis Helmstedt
Kreis Wolfenbüttel
Stadt Wolfsburg
Nordrhein-Westfalen:
Rhein-Kreis Neuss
Kreis Düren
Rhein-Erft-Kreis
Städteregion Aachen
Kreis Heinsberg
Kreis Euskirchen
Stadt Mönchengladbach
Ein wesentliches Kriterium für die Entscheidung, welche Steinkohlekraftwerksstandorte
Strukturhilfen aus gesonderten Mitteln erhalten sollten, ist der Anteil der Steinkohlewirtschaft an
Beschäftigung und Wertschöpfung vor Ort.
1
Hierfür stützt sich die Kommission auf das von ihr in
1
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ benutzt den Begriff „Steinkohlewirtschaft“,
wenn es darum geht, die Beschäftigung und Wertschöpfung durch wirtschaftliche Tätigkeit im Zusammenhang
mit Steinkohle zu bestimmen. Hierzu zählt sowohl die direkte Beschäftigung und Wertschöpfung in den
Kraftwerken, als auch die davon abhängige Wertschöpfung und Beschäftigung, beispielsweise in
16
Auftrag gegebene Gutachten „Strukturdaten für die Kommission Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung“.
2
Das Gutachten zeigt, dass die Steinkohlewirtschaft in den jeweiligen Kreisen bzw. kreisfreien Städten
in der Regel eine geringere Bedeutung hat, als dies für die Braunkohle in den Revieren der Fall ist.
3
Allerdings ist das in nicht unerheblichem Ausmaß dadurch zu erklären, dass die Steinkohlewirtschaft
wesentlich weniger auf bestimmte Gebiete konzentriert ist als die Braunkohlewirtschaft. Vielmehr
verteilen sich die Steinkohlekraftwerksstandorte über das gesamte Bundesgebiet. Dessen ungeachtet
spielt die Steinkohlewirtschaft auch in einigen Kreisen eine bedeutende Rolle für Wertschöpfung und
Beschäftigung.
Um eine Vergleichbarkeit mit den Braunkohlerevieren herzustellen, empfiehlt die Kommission,
Strukturhilfen dann zur Verfügung zu stellen, wenn der Anteil der Steinkohlewirtschaft an der
regionalen Wertschöpfung
4
von erheblicher Relevanz ist.
5
Steinkohlekraftwerksstandorte sollten
nach diesem Kriterium Zugang zu den von der Kommission herausgearbeiteten strukturpolitischen
Maßnahmen und Instrumenten haben, wenn im Rahmen der in Kapitel 4 beschriebenen Maßnahmen
Kraftwerke an diesen Standorten stillgelegt werden.
Vorleistungsindustrien, beim Transport von oder beim Handel mit Steinkohle. Der Begriff
„Steinkohlekraftwerksstandorte“ bezeichnet die Kreise oder kreisfreie Städte, in denen sich
Steinkohlekraftwerke befinden. Eine solche Abgrenzung ist notwendig, um beispielsweise den Beitrag der
Steinkohlewirtschaft zur regionalen Wertschöpfung ausrechnen zu können.
2
RWI 2018b.
3
Siehe Tabelle 5.1 in RWI 2018b; vergleiche insbesondere die Darstellung der Reviere in Kapiteln 3.4 bzw. 5.1.1
bis 5.1.4
4
Als Maßstab wird hier die Wertschöpfung in den jeweiligen Kreisen bzw. kreisfreien Städten mit
Steinkohlekraftwerksstandorten herangezogen. Vergleiche auch RWI 2108b sowie die Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung der Länder (VGRdL), dort Bruttowertschöpfung auf Kreisebene.
5
Die Beurteilung der erheblichen Relevanz sollte sich an sachlichen Kriterien orientieren. Hierzu eignet sich
beispielsweise der Anteil der Steinkohlekraftwerke an der regionalen Wertschöpfung. Als Vergleichsmaßstab
kann zum Beispiel die Situation in den Braunkohlerevieren herangezogen werden: Sofern man die besondere
Situation des Helmstedter Reviers außen vor lässt, ist der Anteil der Braunkohle an der regionalen
Wertschöpfung am geringsten im Mitteldeutschen Revier. Dort beträgt er 0,9 % - siehe auch Kapitel 5.1.4.
17
3. Ausgangslage
Die Emissionen der Energiewirtschaft
6
sind seit dem Jahr 2013 stark rückläufig. Bis zum Jahr 2017 ist
eine Emissionsminderung von 29 % gegenüber 1990 zu verzeichnen. Einen großen Beitrag lieferte die
Braunkohle. 1990 betrugen die Emissionen in der Energiewirtschaft aus Braunkohle noch
237 Mio. t CO
2
. Bis 2017 sind die Emissionen in der Energiewirtschaft auf 155 Mio. t CO
2
(-35 %)
zurückgegangen. Bis 2020 sollen die Emissionen durch die Sicherheitsbereitschaft um weitere
12,5 Mio. t CO
2
zurückgehen. Auch in den Einsatzbereichen jenseits der Energiewirtschaft
(Hausbrand, Industrie, etc.) trägt die Braunkohle substantiell zu Emissionsminderungen bei. In diesen
Bereichen gingen die Emissionen aus der Braunkohlenutzung vor allem durch
Energieträgersubstitution von 102 Mio. t CO
2
im Jahr 1990 auf etwa 10 Mio. t CO
2
im Jahr 2017, das
heißt um etwa 90 %, zurück.
Die aktuell vorliegenden Studien gehen davon aus, dass bis 2030 die Emissionen der
Energiewirtschaft auch ohne zusätzliche Maßnahmen signifikant sinken werden. Dies liegt unter
anderem daran, dass ein Teil der Kohlekraftwerke, die heute am Markt sind, vom Netz gehen
werden. Sie werden ihre technische Lebensdauer erreichen und bei steigenden CO
2
-Zertifikate- und
Brennstoffpreisen, zunehmender Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien und
verschärften Umweltauflagen voraussichtlich nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können.
7
Die meisten Untersuchungen gehen jedoch davon aus, dass allein dadurch die Treibhausgas-
Emissionen der Energiewirtschaft nicht ausreichend sinken werden, um das Sektorziel 2030 (175 bis
183 Mio. t CO
2
, vgl. Kapitel 3.1.,
Nationale Ziele
, Abbildung 1) zu erreichen.
Um das Sektorziel 2030 zu erreichen, müssen die Emissionen in der Energiewirtschaft weiter sinken.
2016 betrugen die Emissionen der Kohlekraftwerke rund 256 Mio. t CO
2
. Dies macht 28 % der
Gesamtemissionen Deutschlands aus. Davon entfallen 5,7 Mio. t CO
2
auf die Industriekraftwerke und
250 Mio. t CO
2
auf die Kraftwerke Energiewirtschaft.
8
Die Kohlekraftwerke machten damit etwa 70 %
der gesamten Emissionen der Energiewirtschaft (343 Mio. t im Jahr 2016) aus. Im Jahr 2017 sanken
die Emissionen der Kohlekraftwerke deutlich. Nach Angaben der AG Energiebilanzen
9
ist die gesamte
Steinkohlenutzung im Jahr 2018 um 11,2 % gegenüber dem Vorjahr gesunken, die
Braunkohlenutzung um 1,9 %. Für das Jahr 2018 geht die AG Energiebilanzen nach vorläufigen
Berechnungen von einem Rückgang der energiebedingten CO
2
-Emissionen in einer Größenordnung
von reichlich 6 % aus.
10
Bis 2030 werden die Emissionen der Gaskraftwerke tendenziell steigen. Zur Aufrechterhaltung der
Versorgungssicherheit auf dem heutigen hohen Niveau benötigt Deutschland absehbar in adäquatem
Umfang gesicherte Kraftwerksleistung. Zugleich darf der Einsatz der Kraftwerke wegen der Klimaziele
nur geringe CO
2
-Emissionen verursachen. Nach dem aktuellen Stand der Technik können dies am
besten Gaskraftwerke leisten. Zudem nutzen Kraft-Wärme-Kopplung-Anlagen (KWK) für die
6
Die Emissionen der Energiewirtschaft in der Abgrenzung des Klimaschutzplans umfassen Emissionen aus
Kraftwerken, Heizkraftwerken und Fernheizwerken der Energiewirtschaft, Raffinerien, Anlagen für die
Braunkohleveredelung und Kokereien sowie diffuse und punktbezogene Emissionsquellen der Öl- und
Gasförderung und der Verteilung und des Transports von Erdgas.
7
Boston Consulting Group und Prognos (2018): Klimapfade für Deutschland; Löschel, Andreas (2018):
Bedeutung der Klimaziele für die Kohleverstromung in Deutschland und das übrige Stromerzeugungssystem.
Präsentation zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 23. August 2018.
8
Antwort der Bundesregierung auf Frage 2a der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
vom 21. August 2018; Öko-Institut (2018): Sektorale Abgrenzung der deutschen Treibhausgasemissionen mit
einem Schwerpunkt auf die verbrennungsbedingten CO
2
-Emissionen.
9
Pressemitteilung AG Energiebilanzen 5/2018.
10
Pressemitteilung AG Energiebilanzen 5/2018.
18
industrielle Prozesswärmeversorgung und die kommunale Wärmeversorgung zunehmend Gas.
11
Voraussetzung hierfür sind allerdings entsprechende marktliche und regulatorische
Rahmenbedingungen. In den vorliegenden Studien variiert je nach getroffenen Annahmen die daraus
resultierende installierte Kohleleistung im Jahr 2030. Letztere liegt zwischen 14 und 21 GW.
12
Dies
bedeutet, dass eine Verringerung der Emissionen aus Kohlekraftwerken zur Erreichung des 2030-Ziels
notwendig wird.
3.1. Klimapolitische Ausgangslage
Globale Entwicklung und völkerrechtliche Einordnung
Die mittlere Oberflächentemperatur der Erde hat sich gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits
um ca. 1°C erhöht.
13
Ursächlich hierfür sind Treibhausgasemissionen (insbesondere CO
2
), die
wiederum durch menschliche Aktivitäten, wie das Verbrennen der fossilen Energieträger Kohle, Erdöl
und Erdgas sowie Industrieprozesse, Landwirtschaft und Landnutzungsänderungen, entstehen. Diese
Entwicklung bezeichnet man als anthropogene Erderwärmung; sie hat sich seit den 1970er-Jahren
beschleunigt.
Der Weltklimarat (
Intergovernmental Panel on Climate Change
; IPCC) stellt in seinem fünften
Sachstandsbericht fest, dass bei ungebremsten Emissionstrends („
Business as Usual
“) die
anthropogene Erderwärmung bis Ende dieses Jahrhunderts 4°C oder mehr betragen könnte. Mit
dieser Umweltveränderung würden massive Schäden und Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft
einhergehen. Und zwar nicht nur in den besonders verwundbaren Entwicklungsländern,
14
sondern
auch in den Industrieländern mit bisher noch gemäßigtem Klima. Die Folgen des Klimawandels sind in
Deutschland bereits heute spürbar.
15
Die Zahl extremer Wetterereignisse in Deutschland hat sich in
den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass infolge der
anthropogenen Erderwärmung Wetterextreme zunehmen, sowohl mit Bezug auf Trockenheit und
Hitze, als auch auf Starkniederschläge.
16
Im Oktober 2018 legte der IPCC ein Sondergutachten vor, das die Begrenzung der anthropogenen
Erderwärmung auf 2°C bzw. 1,5°C miteinander vergleicht – sowohl hinsichtlich der Auswirkungen als
auch der für die Zielerreichung notwendigen Maßnahmen. Dieses Gutachten macht zum einen
deutlich, dass die negativen Folgen des Klimawandels beim Halten der 1,5°C-Linie signifikant milder
ausfallen würden als bei einem Temperaturanstieg um 2°C. Der IPCC stellt zum anderen klar, dass in
jedem Fall eine rasche Umstellung zu einer treibhausgasneutralen Gesellschaft erforderlich ist,
möglichst durch Halbierung der globalen Treibhausgasemissionen in jeder der nächsten Dekaden.
17
11
Boston Consulting Group und Prognos (2018): Klimapfade für Deutschland; dena (2018): dena-Leitstudie
Integrierte Energiewende. Frontier Economics (2018): Strompreiseffekte eines Kohleausstiegs.
12
Nicht alle der vorgelegten Berechnungen erreichen die Sektorziele 2030 des Klimaschutzplans. So stammen
die obere und untere Bandbreite (14 und 21 GW) aus der BCG/Prognos-Studie „Klimapfade für Deutschland“,
wobei hier zum einen eine leicht vom Klimaschutzplan abweichende Sektorenabgrenzung vorgenommen
wurde, und zum anderen die Sektorziele über- (14 GW) bzw. untererfüllt (21 GW) werden.
13
IPCC (2013): Working Group I Contribution to the IPCC Fifth Assessment Report, Climate Change 2013: The
Physical Science Basis. Summary for Policymakers.
14
Weltbank (2013): Turn down the heat: climate extremes, regional impacts, and the case for resilience.
15
Brasseur, Guy P., et al. (Hrsg.) (2017): Klimawandel in Deutschland. Entwicklung, Folgen, Risiken und
Perspektiven. Berlin, Heidelberg: Springer.
16
Michael E. Mann, Stefan Rahmstorf, Kai Kornhuber, Byron A. Steinman, Sonya K. Miller, Stefan Petri, Dim
Coumou (2018): Projected changes in persistent extreme summer weather events: The role of quasi-resonant
amplification.
Science Advances,
Vol. 4, no. 10; D. Coumou, G. Di Capua, S. Vavrus, L. Wang, S. Wang (2018):
The influence of Arctic amplification on mid-latitude summer circulation.
Nature Communications
17
J. Rockström et al. (2017).
Science
, 355(6331), 1269-1271.
19
Eine neuere Publikation unterstreicht diese Einschätzung und weist zudem darauf hin, dass ohne eine
dramatische Reduktion der Emissionen die Erde sogar in eine „Heißzeit“ gestoßen werden könnte –
mit 5-6°C höheren Mitteltemperaturen und einem Meeresspiegelanstieg von 10 bis 60 Meter.
18
Bei der UN-Klimakonferenz in Paris im Dezember 2015 haben sich 197 Staaten der
Klimarahmenkonvention auf ein neues, globales Klimaschutzabkommen geeinigt.
19
Deutschland und
die Europäische Union haben das Abkommen am 5. Oktober 2016 ratifiziert. Das Abkommen ist im
November desselben Jahres in Kraft getreten. Mit dem Abkommen von Paris haben sich die Staaten
verpflichtet, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2°C zu
begrenzen und Anstrengungen vorzunehmen, um den Anstieg der Durchschnittstemperatur auf 1,5°C
zu begrenzen.
20
Die Minderung, die sich aus den bisher vorliegenden nationalen Beiträgen
(
Nationally Determined Contributions
, NDCs) ergibt, ist jedoch nicht ausreichend, um die Ziele des
Abkommens zu erreichen, sondern läuft auf eine Erwärmung von über 3°C heraus.
21
Das Abkommen
von Paris sieht deshalb einen Mechanismus vor, nach dem alle Vertragsstaaten regelmäßig ein
aktualisiertes NDC einreichen müssen. Dieses wird einen Fortschritt gegenüber dem vorherigen NDC
darstellen und den höchstmöglichen Ambitionsgrad widerspiegeln.
22
Dieser Mechanismus greift
erstmalig auf der UN-Klimakonferenz 2018 im polnischen Katowice (
facilitative dialogue
) und dann
alle fünf Jahre (
global stocktake
). Dabei werden die NDCs bisher von den jeweiligen Vertragsparteien
in Eigenverantwortung formuliert, folgen keinem einheitlichen Standard und werden nicht im
internationalen Rahmen aufeinander abgestimmt. Auf der UN-Klimakonferenz 2018 ist die
Verabschiedung eines entsprechenden Regelwerks erfolgt.
Für die Begrenzung der globalen Temperatur sind die kumulierten CO
2
-Emissionen, das heißt die
Menge der Emissionen, die sich über die Zeit in der Atmosphäre ansammeln, maßgeblich.
23
Aus dem
Pariser Klimaziel (Begrenzung des Temperaturanstiegs auf deutlich unter 2°C, möglichst 1,5°C) kann
ein global verbleibendes Emissionsbudget abgeleitet werden. Ein Budget bedeutet: Die Emittenten
verfügen nur noch über eine begrenzte freie Menge an CO
2
-Emissionen für die kommenden
Jahrzehnte. Innerhalb dieses Rahmens können unterschiedliche Wege beschritten werden. Das
Ambitionsniveau für die Verringerung der Emissionen zu Beginn des Pfads entscheidet über das
verbleibende Emissionsbudget im weiteren Verlauf. Werden zu Beginn des Pfads vergleichsweise
viele Emissionen ausgestoßen, verbleibt im weiteren Verlauf nur noch ein geringes Emissionsbudget.
Werden umgekehrt am Anfang die CO
2
-Emissionen stark verringert, können die
Emissionsreduktionen später geringer ausfallen. Aus dem Pariser Abkommen ergibt sich jedoch keine
völkerrechtliche Verpflichtung der Vertragsparteien, eigene Budgets festzulegen.
18
Will Steffen, Johan Rockström, Katherine Richardson et al. 2018. Trajectories of the Earth System in the
Anthropocene.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America.
19
Die USA haben ihren Austritt aus dem Abkommen angekündigt. Die EU und andere große Emittenten haben
sich zu den Zielen bekannt. Auch große Bundesstaaten der USA und andere gesellschaftliche Akteure in den
USA haben abgekündigt, dass sie sich den Zielen des Abkommens weiterhin verpflichtet fühlen und
entsprechende Maßnahmen ergreifen wollen.
20
Übereinkommen von Paris (Paris Accord, PA). Abrufbar unter
21
Siehe Climate Action Tracker (2018), For the Talanoa dialogue: Input from the Climate Action Tracker. April
2018: New Climate Institute, Ecofys, Climate Analytics.
22
vgl. Art. 4.9 PA "Each party shall communicate an NDC every five years", Art. 4.3 PA "each Party's successive
NDC will represent a progression beyond the Party's then current NDC and reflect its highest possible
ambition.”
23
Edenhofer, Ottmar (2018): Internationale, europäische und nationale klimapolitische Rahmenbedingungen.
Präsentation zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 13. Juli 2018;
IPCC (2018): Global Warming of 1.5 °C, Summary for Policymakers, Abschnitt C 1.3.
20
Um ein solches Budget zu definieren, gibt es sehr unterschiedliche Ansätze. Auch müssen
weitreichende Annahmen getroffen werden. Inwieweit ein globales Budget auf die einzelnen
Regionen der Welt herunter gebrochen werden kann, ist nicht entschieden und lässt sich nicht
eindeutig beantworten. In der Literatur wird eine breite Spanne möglicher Ansätze diskutiert.
24
Dennoch zeigt sich, dass unabhängig von den Verteilungskriterien die geplanten Anstrengungen
weltweit verstärkt werden müssen, um die Klimaziele aus dem Pariser Abkommen einzuhalten.
Europäische Entwicklung und Emissionshandel
Auch die Europäische Union trägt zum internationalen Klimaschutz bei. Im Rahmen ihrer Energie-
und Klimapolitik hat sich die Europäische Union zum Ziel gesetzt, die europaweiten
Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 % gegenüber 1990 zu verringern.
25
Diese
Verpflichtung hat sie auch als Beitrag zum Abkommen von Paris eingereicht.
26
Langfristiges Ziel ist es,
bis 2050 die jährlichen europäischen Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um 80 bis 95 % zu
senken.
Der Regulierungsrahmen der EU unterscheidet zwischen den Emissionen, die vom EU-
Emissionshandel erfasst werden (Energiewirtschaft und energieintensive Industrien), und den
Emissionen aus den Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft, Abfall, Gewerbe und nicht über
den EU-ETS erfasste Industrie. Letztere fallen unter die sogenannte
Effort Sharing Regulation
.
Der europäische Emissionshandel (EU-ETS) wurde 2005 eingeführt. Er ist ein zentrales Instrument,
um die Ziele der Europäischen Union zu erreichen. Der EU-ETS setzt eine Grenze für die zulässigen
CO
2
-Emissionen der erfassten Anlagen. Um CO
2
ausstoßen zu dürfen, müssen diese Anlagen
entsprechende Zertifikate abgeben. Dadurch bildet sich ein Preis für CO
2
-Emissionen. Der Preis für
CO
2
-Zertifikate im EU ETS bewegte sich lange auf einem vergleichsweisen niedrigen Niveau. Auf dem
Tiefpunkt im Jahr 2013 wurden nur 2,46 Euro/t CO
2
gezahlt, noch vor einem Jahr im September 2017
knapp 7 Euro/t CO
2
. Seit Anfang 2018 ist der Preis im Kontext der Festlegung der Regelungen für die
vierte Handelsperiode (2021-2030) stark gestiegen und hat sich von Oktober 2017 bis Ende 2018 auf
etwa 20 Euro verdreifacht.
27
Im Rahmen des EU-ETS sind rund 12.000 Anlagen aus der Energiewirtschaft und der
energieintensiven Industrie verpflichtet, handelbare Zertifikate für ihre Treibhausgasemissionen
abzugeben. Seit 2012 ist auch der innereuropäische Luftverkehr in den EU-ETS einbezogen. Mit
Beginn der vierten Handelsperiode ab 2021 wird die bisherige jährliche Reduktionsrate für die
Ausgabe der Zertifikate von 1,74 % auf 2,2 % erhöht. Dadurch sollen die europäischen Emissionen in
diesen Sektoren bis 2030 um 43 % gegenüber 2005 sinken. In den vergangenen Jahren hatten sich
allerdings erhebliche Überschüsse an Emissionszertifikaten gebildet. Um die Anreize des EU-ETS in
Klimaschutzinvestitionen zu stärken, wurde eine so genannte Marktstabilitätsreserve eingeführt. Mit
der Marktstabilitätsreserve soll das Angebot an Zertifikaten in Überschusssituationen verringert und
24
Zum Beispiel leitet der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) das Budget für Deutschland aus dem
deutschen Anteil an der Weltbevölkerung (1,1 %) ab. Damit kommt er auf ein verbleibendes Budget von
9,3 Mrd. t CO
2.
Daraus ergibt sich nach Ableitung des SRU eine maximale Menge für Kohleemissionen von
insgesamt 1,5 Mrd. t CO
2
ab 2017. Vgl. Lucht, Wolfang (2018): CO
2
-Budget und Kohleausstieg. Präsentation zur
Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 18. September 2018. Siehe auch
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), „Kohleausstieg jetzt einleiten“ Stellungnahme des SRU vom 17.
Oktober 2017.
25
Europäische Kommission (2018): Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis 2030. Abrufbar unter
26
Dröge, Susanne und Geden, Oliver (2015). Die EU und das Pariser Klimaabkommen. Ambitionen, strategische
Ziele und taktisches Vorgehen.SWP-Aktuell, 42/2015.
27
European Energy Exchange (EEX): Marktdaten, Spotmarkt European Emission Allowances (EUA).
21
in Knappheitssituationen erhöht werden. Konkret werden ab 2019 bis 2023 jährlich 24 % – nach 2023
12 % – der im Markt vorhandenen Überschüsse in die Marktstabilitätsreserve eingestellt, wenn diese
Überschüsse einen Schwellenwert von 833 Mio. Zertifikaten überschreiten. Aus der
Marktstabilitätsreserve werden ab 2023 große Teile der Überschussmengen im Emissionshandel
gelöscht. Außerdem kann jeder Mitgliedstaat mit Beginn der vierten Handelsperiode ab 2021 bei
einer Reduktion fossiler Stromerzeugung die entsprechend freiwerdenden CO
2
-Zertifikate löschen,
um zu verhindern, dass eine solche Reduktion ins Leere liefe.
28
Hinsichtlich der Einschätzungen zur kurz- und mittelfristigen CO
2
-Preisentwicklung gehen die
Meinungen weit auseinander: Einige Experten erwarten weitere Preissteigerungen in Folge einer
zunehmenden Verknappung der Zertifikate. Andere gehen davon aus, dass die aktuelle
Preisentwicklung fundamental nicht gerechtfertigt ist. Markteilnehmer würden sich in Hinblick auf
die ab 2019 zu erwartende Verknappung in Folge der einsetzenden Marktstabilitätsreserve im Voraus
mit CO
2
-Zertifikaten eindecken und zumindest teilweise auch auf Preisanstiege spekulieren.
Für die Emittenten, die nicht vom EU-ETS betroffen sind (so genanntes
Effort Sharing
), gibt es ein
separates Klimaschutzziel. Hierzu zählen die Sektoren Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft,
Abfallwirtschaft sowie einzelne Unternehmen aus der Energiewirtschaft und der Industrie. Die
europäischen Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Treibhausgasemissionen in diesen Sektoren
gegenüber 2005 um insgesamt 10 % bis 2020 und um insgesamt 30 % bis 2030 zu verringern. Diese
europäischen Ziele wurden auf die einzelnen Mitgliedstaaten herunter gebrochen.
29
Für Deutschland
ist gegenüber 2005 eine Reduktion um 14 % bis 2020 und um 38 % bis 2030 vorgesehen.
30
Seine
Effort-Sharing
-Ziele 2020 wird Deutschland voraussichtlich nicht erfüllen. In den non-ETS-Sektoren
sind die Emissionen zwischen 2014 und 2017 in Deutschland gestiegen, voraussichtlich wird maximal
eine Verringerung in Höhe von 11 % bis 2020 erreicht.
31
Das bedeutet, dass Deutschland
Emissionsrechte wird zukaufen müssen, und damit eventuell bundeshaushaltsrelevante Kosten in
Milliardenhöhe entstehen. Emissionsminderungen aus der Stilllegung von Kohlekraftwerken oder
anderen Anlagen aus dem ETS-Bereich sind für dieses verpflichtende Ziel nicht anrechenbar.
Nationale Ziele
Deutschland hat sich ambitionierte nationale Klimaschutzziele gesetzt, um bis 2050 weitgehende
Treibhausgasneutralität zu erreichen. Das Energiekonzept der Bundesregierung von 2010 und der
Klimaschutzplan 2050 von 2016 stellen die Grundlage für die deutsche Energie- und
Klimaschutzpolitik dar. Demnach sollen die gesamten deutschen Treibhausgasemissionen bis 2020
um mindestens 40 %, bis 2030 um mindestens 55 % und bis 2050 um 80 bis 95 % gegenüber 1990
zurückgehen. Für 2030 legt der Klimaschutzplan 2050 so genannte Sektorziele fest. Es sind Ziele für
die CO
2
-Emissionen der Sektoren Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft.
28
Der mit der Revision vom 14. März 2018 neu eingefügte Artikel 12 (4) der EU-Emissionshandelsrichtlinie sieht
die Möglichkeit vor, dass jeder Mitgliedstaat „im Fall der Stilllegung von Stromerzeugungskapazitäten in ihrem
Hoheitsgebiet aufgrund zusätzlicher nationaler Maßnahmen […] Zertifikate aus der Gesamtmenge der
Zertifikate, die von ihnen gemäß Artikel 10 Absatz 2 zu versteigern sind, maximal in Höhe der
Durchschnittsmenge der geprüften Emissionen der betreffenden Anlage während eines Zeitraums von fünf
Jahren vor der Stilllegung löschen [kann].“ Vgl. Agora Energiewende und Öko-Institut (2018): Vom Wasserbett
zur Badewanne. Die Auswirkungen der EU-Emissionshandelsreform 2018 auf CO₂-Preis, Kohleausstieg und den
Ausbau der Erneuerbaren.
29
Europäische Kommission (2018): Effort sharing 2021-2030: targets and flexibilities. Abrufbar unter
30
Entscheidung Nr. 406/2009/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009; Verordnung
(EU) 2018/842 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai.
31
BMU (2017): Projektionsbericht 2017 für Deutschland gemäß Verordnung (EU) Nr. 525/2013. Die
Verringerung von 11 % bezieht sich auf das MWMS.
22
Laut Klimaschutzplan 2050 sollen die CO
2
-Emissionen der Energiewirtschaft bis 2030 auf 175 bis 183
Mio. t CO
2
-Äq. zurückgehen (vgl. Abbildung 1). Dies entspricht einer Verringerung um 61 bis 62 %
gegenüber 1990.
32
Um diese Ziele zu erreichen, verfolgt die Bundesregierung eine langfristige Energiestrategie – die
Energiewende. Ziel der Energiewende ist die nahezu vollständige Treibhausgasneutralität bis zur
Mitte des Jahrhunderts sowie der Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022. Dazu soll die
Energieerzeugung schrittweise auf erneuerbare Energien umgestellt und die Energie effizienter
genutzt werden.
Abbildung 1, Emissionen der verschiedenen Sektoren laut Klimaschutzplan 2050 (Quelle: BMUB
33
)
Im Zeitraum 1990-2010 sind die deutschen CO
2
-Emissionen kontinuierlich gesunken. Seit 2010 jedoch
stagnieren sie im Wesentlichen mit kleineren Ausschlägen nach oben und unten. Im Jahr 2016
betrugen die gesamten deutschen Emissionen 909 Mio. t CO
2
-Äq. Dies entspricht einer Minderung
um rund 27 % gegenüber dem Jahr 1990. Laut aktuellen Schätzungen des Umweltbundesamtes
(UBA) sind die Emissionen im Jahr 2017 auf 905 Mio. t CO
2
-Äq. zurückgegangen (vgl. Abbildung 2).
Für das Jahr 2018 geht die AG Energiebilanzen nach vorläufigen Berechnungen von einem Rückgang
der energiebedingten CO
2
-Emissionen in einer Größenordnung von reichlich 6 % aus.
34
Aus dem
gesamten Rückgang des Einsatzes fossiler Primärenergieträger (Mineralöl, Braun- und Steinkohle,
Erdgas) lässt sich für das Jahr 2018 eine Minderung der CO
2
-Emissionen von über 40 Mio. t
gegenüber dem Vorjahr ableiten.
32
Klimaschutzplan 2050. Kabinettsbeschluss vom 14. November 2016.
33
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
(
BMUB) (2016): Klimaschutzplan
2050. Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung.
34
Pressemitteilung AG Energiebilanzen 5/2018.
23
Abbildung 2, Treibhausgasemission nach Sektoren in der Abgrenzung des Klimaschutzplans (Quelle:
Umweltbundesamt
35
)
Die Treibhausgasemissionen haben sich in den einzelnen Verbrauchssektoren recht unterschiedlich
entwickelt:
36
Die Treibhausgasemissionen der Energiewirtschaft sind seit 1990 um rund 29 %
gesunken. Maßgeblich waren hierfür insbesondere die Stilllegung alter Kohlekraftwerke, der Ausbau
der erneuerbaren Energien im Stromsektor, der Europäische Emissionshandel sowie die verstärkte
Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung.
37
Die Industrie hat einen Rückgang um 32 % zu verzeichnen.
Verantwortlich hierfür waren Strukturveränderungen und Stilllegungen von Industriebetrieben im
Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung, die stärkere Vermeidung von Prozessemissionen
im Zuge einer verbesserten Prozesstechnik und Effizienz sowie die stärkere Nutzung von Erdgas-KWK
anstelle von Kohle zur Erzeugung von Strom und Wärme. Im Sektor Gebäude gingen die Emissionen
um 38 % zurück. Haupttreiber war hier die Umrüstung alter Kohleöfen und Ölheizungen auf moderne
Erdgasanlagen oder stärkere Fernwärmenutzung. Auch die hohen Gebäudeeffizienzstandards für
Neubauten sowie die energetische Sanierung eines Teils des Gebäudebestands trugen zur
35
Umweltbundesamt (2018): Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und
dem Kyoto-Protokoll 2018. Nationaler Inventarbericht zum Deutschen Treibhausgasinventar 1990 – 2016;
Umweltbundesamt (2018): Klimabilanz 2017: Emissionen gehen leicht zurück, Gemeinsame Pressemitteilung
von Umweltbundesamt und Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit; BMUB
(2016): Klimaschutzplan 2050. Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung. Dabei handelt
es sich für 2017 um vorläufige Zahlen. Die tatsächlichen Emissionen für das Jahr 2017 werden voraussichtlich
niedriger ausfallen.
36
Umweltbundesamt (2018): Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und
dem Kyoto-Protokoll 2018. Nationaler Inventarbericht zum Deutschen Treibhausgasinventar 1990 – 2016; DIW
Berlin, Wuppertal Institut, Ecologic Institut, „Die Beendigung der energetischen Nutzung von Kohle in
Deutschland – Ein Überblick über Zusammenhänge, Herausforderungen und Lösungsoptionen“, September
2018; Agora Energiewende (2017): Das Klimaschutzziel von -40 Prozent bis 2020: Wo landen wir ohne weitere
Maßnahmen?
37
Die Emissionseinsparungen durch KWK beliefen sich im Jahr 2016 auf 26 – 59 Mio. t CO
2
. Vgl. Prognos et al.
(2018): „Evaluierung der Kraft-Wärme-Kopplung. Analysen zur Entwicklung der Kraft-Wärme-Kopplung in
einem Energiesystem mit hohem Anteil Erneuerbarer Energien“. Studie im Auftrag des BMWi, in
Veröffentlichung.
237
161
156
162
171
169
164
163
157
155
120
125
108
104
107
115
107
102
95
80
284
208
189
186
180
181
180
188
188
193
210
167
149
128
130
140
119
125
130
131
163
181
153
155
154
158
159
162
166
169
90
74
69
70
70
71
72
73
72
72
466
386
369
367
377
380
360
349
343
330
0
200
400
600
800
1.000
1.200
1.400
1990 2000 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Ziele
2020
Ziele
2030
Ziele
2040
Ziele
2050
Mio. t CO
2
-Äqu.
Ziele
Sonstige
Landwirtschaft
Verkehr
Gebäude
Industrie
Energiewirtschaft
davon CO₂ Steinkohle
davon CO₂ Braunkohle
weitgehende
Treibhausgas
-neutralität
909
905
1252
24
Emissionsminderung bei. Der Verkehr ist der einzige Sektor, der im Jahr 2016 mehr Treibhausgase
ausstieß als 1990. Die Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft sind seit 1990 um 20 %
zurückgegangen.
In den kommenden Jahren werden die gesamten Treibhausgasemissionen Deutschlands laut
Projektionsbericht der Bundesregierung weiter sinken, das 2020-Ziel wird aber voraussichtlich
verfehlt. Der aktuelle Projektionsbericht 2017
38
kommt zu dem Ergebnis, dass die deutschen
Emissionen im Jahr 2020 im MMS-Szenario auf rund 816 Mio. t CO
2
-Äq und im MWMS-Szenario auf
rund 806 Mio. t sinken werden.
39
Damit lägen die Emissionen rund 35 % unter denen des Basisjahrs,
womit Deutschland sein Klimaschutzziel für 2020 um rund 5 Prozentpunkte verfehlen würde. Im
Klimaschutzbericht 2018 hat die Bundesregierung die Analysen des Projektionsberichts anhand
aktualisierter Daten überprüft und kommt zu einer geringeren Emissionsreduktion.
40
Damit würde
Deutschland das nationale Klimaschutzziel um rund 8 Prozentpunkte bzw. rund 100 Mio. t CO
2
verfehlen.
Die Emissionsentwicklung der Energiewirtschaft, der derzeit beobachtete Ausbau der Kapazitäten aus
erneuerbaren Energien und der marktgetriebene Rückbau von Kohlekapazitäten entsprechen im
Wesentlichen den Annahmen des Projektionsberichtes 2017. Trotz höherem Stromverbrauch als
Folge robuster Konjunktur und höherem Bevölkerungswachstum als in den Projektionen
angenommen, wird die Energiewirtschaft die im Klimaschutzaktionsprogramm 2020 und im
Projektionsbericht 2017 veranschlagte Emissionsminderung von ca. 38 % bis zum Jahr 2020 absehbar
erreichen. Allein die Überführung von Kraftwerken in die Sicherheitsbereitschaft soll bis zu 12,5
Mio. t CO
2
bis zum Jahr 2020 einsparen. Unter bestimmten Annahmen (CO
2
- und
Brennstoffpreisentwicklung, aktuelle Entwicklung im Tagebau Hambach etc.) könnte die Minderung
der Energiewirtschaft auch höher ausfallen. Bei zügiger Umsetzung der Sonderausschreibungen für
Windkraft und PV und andauernd hohen CO
2
-Preisen wäre sogar eine Emissionsminderung um 40 %
für den Sektor Energiewirtschaft in Reichweite.
Ob die Lücke zur Erreichung des 2020-Klimaschutzziels durch zusätzliche kurzfristige Maßnahmen
vollständig geschlossen werden kann, ist fraglich. Das 2020-Ziel betrifft alle Sektoren. Es ist unstreitig,
dass auch die anderen Sektoren zeitnah substanzielle Beiträge zur Emissionsminderung leisten
müssen. Auch ohne zusätzliche Maßnahmen wird die Energiewirtschaft bereits einen großen Beitrag
zur Verringerung der deutschen Emissionen bis 2020 leisten. Gutachter schätzen, dass die
Energiewirtschaft – und innerhalb der Energiewirtschaft insbesondere die Kraftwerke der
Stromerzeugung – im Zeitraum 2014 bis 2020 mit fast 75 % den größten Anteil der gesamten
Emissionsminderung erbringen wird.
41
Wesentliche Gründe für diese Emissionsreduktion sind der EU-
ETS (vgl. 3.1.,
Europäische Entwicklung und Emissionshandel
), der weitere Ausbau der erneuerbaren
Energien, die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und die Sicherheitsbereitschaft.
3.2. Energiewirtschaftliche Ausgangslage
3.2.1. Europäische Rahmenbedingungen
Gesetzespaket „Saubere Energie für alle Europäer“
Mit dem Gesetzespaket "Saubere Energie für alle Europäer" (auch als „Winterpaket“ bekannt)
gestaltet die Europäische Union ihren Rechtsrahmen für Energie bis zum Jahr 2030 neu. Zum ersten
38
BMU, Projektionsbericht 2017 für Deutschland gemäß Verordnung (EU) Nr. 525/2013.
39
MMS bezeichnet das „Mit-Maßnahmen-Szenario“, d.h. mit bereits beschlossenen Maßnahmen, das MWMS
das „Mit-weiteren-Maßnahmen-Szenario“ mit bereits beschlossenen und zusätzlichen Maßnahmen.
40
BMU (2018): Klimaschutzbericht 2018. Zum Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 der Bundesregierung.
41
Öko-Institut, IREES (2017), „Überprüfung der Emissionsminderung 2020 im Projektionsbericht 2017“, 2017.
25
Teil des
Clean-Energy
-Pakets (Erneuerbare-Energien-Richtlinie, Governance-Verordnung,
Energieeffizienz-Richtlinie) haben das Europäische Parlament, der Europäische Rat und die
Europäische Kommission im Juni 2018 einen Kompromiss erzielt. Der zweite Teil wurde Mitte
Dezember 2018 beschlossen. Dieser Teil umfasst eine Strommarkt-Verordnung und Strommarkt-
Richtlinie, eine Verordnung über eine Agentur für die Zusammenarbeit der
Energieregulierungsbehörden (ACER) und eine Risikovorsorge-Verordnung. Damit enthält er zentrale
Vorgaben für das Strommarktdesign in Europa. Die Strommarkt-Verordnung sieht insbesondere
verschiedene Regelungen für Kapazitätsmechanismen vor. Demnach sollen sich Erzeugungsanlagen
nur dann an einem Kapazitätsmechanismus (Kapazitätsmarkt oder strategische Reserve) beteiligen
dürfen, wenn diese einen Emissionswert (
Emissions Performance Standard
) von maximal 550 Gramm
CO
2
/kWh einhalten. Die Regelung gilt für Neuanlagen ab 2020 und für Bestandsanlagen ab 2025.
Bestandsanlagen, die mehr CO
2
/kWh emittieren, dürfen nur dann an einem Kapazitätsmechanismus
teilnehmen, wenn sie nur wenige Stunden laufen. Dafür ist ein Emissionsbudget von 350
kg/installierter kW Leistung pro Jahr vorgesehen. Kraftwerke, die einen höheren Emissionswert
haben und nicht für die Teilnahme an einem Kapazitätsmechanismus bezuschlagt wurden, dürfen am
Markt agieren, aber keine Förderung erhalten. Die Strommarktverordnung sieht vor, dass bei der
Bewertung jeglicher Kapazitätsmechanismen neben nationalen Berichten auch der europäische
Bericht zur Versorgungssicherheit durch den europäischen Verband der Übertragungsnetzbetreiber
ENTSO-E zugrunde gelegt wird.
Bis 2030 wurde das Effizienzziel auf 32,5 % festgelegt und danach mit einer Aufwärtsrevisionsklausel
2023 versehen. Das 2030-Ziel für den Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtverbrauch beträgt
jetzt 32 % für alle Sektoren.
Europäische Emissionsgrenzwerte für Kraftwerke (Large Combustion Plants – Best Available
Techniques, LCP BREF)
Im Juli 2017 hat die Europäische Kommission neue europaweite Bandbreiten für
Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen erlassen.
42
Davon erfasst sind insbesondere
Emissionen von Staub, Schwefel, Stickstoffoxiden und Quecksilber. Die Bundesregierung hat den
BREF im Rat abgelehnt, da die Emissionsbandbreiten für Stickstoffoxidemissionen und die für
Quecksilber aus ihrer Sicht fehlerhaft abgeleitet wurden. Zurzeit sind mehrere Klagen von
Mitgliedstaaten, Landesregierungen und Unternehmen anhängig. Die neuen Emissionsbandbreiten
sind in nationales Recht umzusetzen, wobei dem nationalen Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum
zugemessen wird, und spätestens ab August 2021 einzuhalten. Gemäß Bundes-
Immissionsschutzgesetz hätten die neuen Anforderungen bis August 2018 durch eine Novelle der
einschlägigen Bundes-Immissionsschutzverordnungen umgesetzt werden müssen. Bislang liegen
allerdings noch keine Vorschläge der Bundesregierung zur Umsetzung vor. Für Stickoxide hält die
Bundesregierung eine obere Emissionsbandbreite für Stickoxide von 190 mg/m³ (Milligramm pro
Kubikmeter) für sachgerecht.
43
Auch die fehlerhafte Ableitung der Grenzwerte für Quecksilber führen
nach Auffassung der Bundesregierung zu keinem höheren Schutz der menschlichen Gesundheit.
44
Betroffen sind in Deutschland circa 600 Großfeuerungsanlagen, darunter insbesondere Stein- und
Braunkohlekraftwerke sowie Gasturbinen- und Gas-und-Dampfturbinen-Kraftwerke. Insbesondere
42
Durchführungsbeschluss (EU) 2017/1442 der Kommission vom 31. Juli 2017 über Schlussfolgerungen zu den
besten verfügbaren Technischen (BVT) gemäß der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 24. November 2010 für Großfeuerungsanlagen.
43
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drs.
18/8540; Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage Nr. 48, Drs. 18/12021.
44
Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drs.
18/8292.
26
werden für bestehende Kohlekraftwerke ab 300 MW
th
Jahresemissionsgrenzwerte für Stickstoffoxide
von maximal 175 mg/m
3
festgelegt. Die Jahresmittelwerte für Stickstoffoxide der bestehenden
Braunkohlekraftwerke liegen mit 160 bis 190 mg/m
3
derzeit meist über den neuen Grenzwerten.
45
Nach Einschätzung des UBA würden selbst bei einer Festlegung des nationalen Jahresmittelwerts am
oberen Rand der Brandbreite (175 mg/m
3
) bisher nur vier Braunkohlekraftwerksblöcke in
Deutschland diesen Grenzwert sicher einhalten.
46
Für Steinkohlestaubfeuerungen gilt ab 300 MW
th
Feuerungswärmeleistung eine Obergrenze von 150 mg/m³. Steinkohlekraftwerke verfügen
üblicherweise über SCR-Katalysatoren, das heißt Katalysatoren mit selektiver katalytischer
Reduktion. Diese müssen allerdings teilweise für die Einhaltung der neuen Emissionsbandbreite
nachgerüstet werden müssen, was die Wirtschaftlichkeit negativ beeinflussen kann.
Für Quecksilber sieht der LCP BREF für bestehende Braunkohlekraftwerke ab 300 MW
th
Feuerungswärmeleistung eine Emissionsbandbreite für den Jahresmittelwert zwischen <0,001 und
0,007 mg/m³ vor. Für bestehende Steinkohlekraftwerke ab 300 MW
th
Feuerungswärmeleistung liegt
diese Bandbreite zwischen <0,001 und 0,004 mg/m³. Nach geltendem Recht ist ab 2019 für diese
Anlagen ein Jahresmittelgrenzwert von 0,010 mg/m³ anzuwenden.
Die neu einzuführenden Stickstoffoxidanforderungen für Gasturbinen, die mehr als 1.500 Stunden
pro Jahr betrieben werden sollen, sind deutlich strenger als die derzeitigen Anforderungen der
13. BImSchV und sind nicht mehr auf den Bereich oberhalb von 70 % Last beschränkt. Es ist davon
auszugehen, dass Gasturbinen künftig vermehrt im emissionsintensiven Teillastbereich unter 70 %
betrieben werden. Eine Nachrüstung von bestehenden Gasturbinen mit Katalysatortechnik ist im
Regelfall wirtschaftlich nicht darstellbar. In vielen Fällen wird deswegen eine Beschränkung der
jährlichen Betriebsstunden, eine Stilllegung oder ein Ersatzbau erfolgen müssen.
Für neue Gaskraftwerksprojekte kann die Verzögerung ein erhebliches Investitionshemmnis
darstellen und damit Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit haben.
3.2.2. Energiemärkte
Aktuelle Erzeugungskapazitäten für Strom und Wärme in Deutschland
Ende 2017 waren in Deutschland insgesamt Stromerzeugungsanlagen mit einer installierten Leistung
von 216 GW am Netz. Erstmals waren davon mehr als die Hälfte Stromerzeugungsanlagen auf der
Basis von erneuerbaren Energien (112 GW) mit einem Anteil von gut 36 % am Brutto-Inlands-
Stromverbrauch.
47
Die Leistung der erneuerbaren Energien hat sich damit gegenüber 2007 (35 GW)
mehr als verdreifacht. Zu Beginn des Jahres 2018 waren noch sieben Kernkraftwerksblöcke mit einer
Leistung von zusammen 9,5 GW am Netz, die bis Ende 2022 sukzessive abgeschaltet werden.
Stein- und Braunkohlekraftwerke werden sowohl von privaten als auch von kommunalen
Unternehmen („Stadtwerke“)
48
betrieben. Ende des Jahres 2017 waren Kohlekraftwerke mit einer
Leistung (netto) von insgesamt 42,6 GW am Markt aktiv (davon 19,9 GW Braunkohle und 22,7 GW
Steinkohle).
49
Zusätzlich gibt es noch weitere Kohlekraftwerke, die nicht am Markt aktiv sind. Dies
45
Sachverständigenrat für Umweltfragen, „Kohleausstieg jetzt einleiten“, Oktober 2017.
46
Schriftliche Mitteilung des Umweltbundesamtes an den Sachverständigenrat für Umweltfragen vom 13. Juli
2017, vgl. hierzu Sachverständigenrat für Umweltfragen, „Kohleausstieg jetzt einleiten“, Oktober 2017.
47
AG Energiebilanzen, Stromerzeugung nach Energieträgern 1990 - 2018 (Stand Dezember 2018).
48
Kommunale Unternehmen betreiben derzeit 9 GW Steinkohle und 0,5 GW Braunkohle. Hinzu kommt eine
thermische Leistung aus Kohlekraftwerken von etwa 6,4 GW (basierend auf Erhebungen des VKU).
49
Kraftwerksliste Bundesnetzagentur (bundesweit; alle Netz- und Umspannebenen) Stand 19.11.2018; Anlagen
„in Betrieb zzgl. endgültig stillgelegt 2018“.
27
umfasst Steinkohlekraftwerke in der Netzreserve (2,3 GW am Ende des Jahres)
50
und
Braunkohlekraftwerke in der Sicherheitsbereitschaft (2,0 GW am Ende 2018).
51
Im Jahr 2017 deckten
Kohlekraftwerke insgesamt 37 % der Stromerzeugung in Deutschland.
Entwicklung erneuerbarer Energien
Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist mit einem Anteil von inzwischen gut 38 % am Brutto-
Inlands-Stromverbrauch bereits stark vorangeschritten.
52
Der aktuelle Koalitionsvertrag formuliert
das Ziel, dass der Anteil erneuerbarer Energien im Jahr 2030 auf 65 % steigt. Der Ausbau der
erneuerbaren Energien soll netzsynchron erfolgen. Die erneuerbaren Energien sind das zentrale
Element des neuen Stromerzeugungssystems, um das vorhandene, auf fossilen Energieträgern
basierende, zu ersetzen.
Der Zubau installierter Leistung von erneuerbaren Energien allein reicht allerdings nicht aus, um die
Nachfrage jederzeit zu decken. Daher ist eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen:
Erneuerbare Energien werden stärker Aufgaben konventioneller Kraftwerke übernehmen
im Bereich netzdienlicher Systemdienstleistungen, beispielsweise Blindleistung.
Es werden ein rascher Netzausbau und optimierter Netzbetrieb sowie Fortschritte bei der
Integration von Speichern und Sektorkopplung benötigt (vgl. Kapitel 4.4).
Gleichzeitig muss die Flexibilisierung der Nachfrage durch bessere Rahmenbedingungen
vorangetrieben werden.
Bei einem Anteil der erneuerbaren Energien von 65 % im Jahr 2030 werden die in Kapitel 4
formulierten Maßnahmen im Sektor Energiewirtschaft für Klimaschutz ohne weitere
Kostensteigerungen durch Ineffizienzen möglich sein, ohne dass die Versorgungssicherheit
beeinträchtigt wird.
Für den Ausbau der erneuerbaren Energien auf 65 % ist eine ausreichende Flächenausweisung
notwendig. Insbesondere müssen für Windenergieanlagen und Freiflächen-PV-Anlagen Flächen in
relevanter Größe ausgewiesen, akzeptiert und genehmigt werden.
Implikationen für den Netzausbau
Der erzeugte Strom kann aber nur verbraucht werden, wenn er zum Verbraucher transportiert
werden kann. Im letzten genehmigten Netzentwicklungsplan (NEP 2017) war der Netzausbau auf
einen Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch von bis zu 52,5 % (Szenario B)
ausgelegt. Der Ausbau der bisher geplanten Übertragungsnetze mit einer Gesamtlänge von 7.700 km
kommt jedoch nur langsam voran. Realisiert waren im 3. Quartal 2018 erst 950 km, davon 30 km im
Jahr 2017, genehmigt sind 1.800 km, noch zu genehmigen 5.900 km (77 %), noch umzusetzen
6.750 km (88 %). Deshalb sind der weitere Ausbau und die Optimierung der Stromnetze sowie die
weitere Flexibilisierung des Energiesystems Voraussetzung dafür, dass die Systemsicherheit auch
künftig gewährleistet bleibt.
Ein beträchtlicher Anteil des Netzausbaus wird auf zusätzliche Höchstspannungs-Gleichstrom-
Übertragungsleitungen (HGÜ) entfallen. Gleichzeitig entstehen auch neue Optionen durch die
50
Insgesamt befinden sich in der Netzreserve 6,9 GW, davon 3 GW Erdgas und 1,6 GW Mineralöl. Quelle:
Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur (Stand: 19.11.2018).
51
Ab Oktober 2019 befinden sich weitere 0,8 GW Braunkohle in der Sicherheitsbereitschaft. Sie umfasst dann
insgesamt 2,7 GW. Quelle: Bundesnetzagentur (2018): Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur.
52
Angabe für das Jahr 2018 basierend auf AG Energiebilanzen, Stromerzeugung nach Energieträgern 1990 -
2018 (Stand Dezember 2018).
28
Modernisierung und Digitalisierung, um die vorhandenen Netze besser zu nutzen. Die Chancen durch
die Einführung innovativer Netzbetriebsmittel und einen flexiblen Betrieb fossiler Kraftwerke sollten
genutzt werden, um möglichst viel Strom aus erneuerbaren Energien in die Netze zu integrieren.
Die Erzeugung ist dabei zumeist dargebotsabhängig, d. h. abhängig von der Verfügbarkeit von Wind
und Sonne. Mit dem Ziel die erneuerbaren Energien auf 65 % auszubauen, wachsen die
Verantwortung und die Herausforderungen für die Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber, die
Systemstabilität jederzeit aufrechtzuerhalten.
Auf der Verteilnetzebene sind 97 % der erneuerbaren Energien (Wind, Photovoltaik, Biomasse)
angeschlossen. Fast 40 % der deutschen Stromproduktion wird heute über die Verteilnetze in das
Gesamtstromnetz eingespeist, Tendenz steigend. Das geschieht auf 1,7 Mio. km Länge. Nahezu alle
Privathaushalte, Gewerbe und Industrieunternehmen werden über die rund 50,5 Mio. Anschlüsse in
den Verteilnetzen versorgt. Auf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) gibt es rund 550
Anschlüsse.
Der Erhalt der Großspeicher (z. B. Pumpspeicherwerke) und der Ausbau dezentraler Speicher dienen
einem Ausgleich volatiler Einspeisung erneuerbarer Energien ohne die Verursachung zusätzlicher
CO
2
-Emissionen. Von einem zunehmenden Preis-Spread profitieren alle Speicher. Sie werden daher
zunehmend einen wichtigen Beitrag für eine sichere Energieversorgung leisten.
Wenn Wasserstoff- und weitere Power-to-X-Technologien jetzt im Rahmen von beispielsweise
Reallaboren erprobt und weiter erforscht werden und die regulatorischen Rahmenbedingungen auf
diese angepasst werden, können sie sukzessive und im Einklang mit den Zielen des Pariser
Abkommens einen Beitrag zum treibhausgasneutralen Umbau des Energiesystems leisten.
Vorläufige und endgültige Stilllegungen
Gemäß § 13b EnWG sind geplante Stilllegungen von Anlagen zur Erzeugung oder Speicherung
elektrischer Energie ab 10 MW Nennleistung 12 Monate vor der geplanten Stilllegung anzuzeigen.
Die Bundesnetzagentur prüft sodann die Systemrelevanz des Kraftwerks. Soweit das Kraftwerk als
nicht systemrelevant eingestuft wird, darf es stillgelegt werden. Wenn ein Kraftwerk mit einer
Nennleistung von mehr als 50 MW als systemrelevant eingestuft wird, wird es in die Netzreserve
überführt.
Netzreserve
In der Netzreserve befinden sich derzeit 2,3 GW Steinkohlekraftwerke und keine
Braunkohlekraftwerke. Davon haben 1,4 GW eine vorläufige Stilllegung und 0,9 GW eine endgültige
Stilllegung angezeigt. Die Kraftwerke, die nur zur vorläufigen Stilllegung angezeigt sind, können in
den Markt zurückkehren. Kraftwerke in der Netzreserve mit einer endgültigen Stilllegungsanzeige
(dies gilt künftig auch für die Kapazitätsreserve) können in der Reserve noch für einen längeren
Zeitraum weiterbetrieben werden, können jedoch nicht zurück in den Markt.
29
Erwartete Entwicklung
Im Zeitraum 2017 bis 2022 zeichnet sich folgende Entwicklung ab:
Abbildung 3 (Quelle: Kraftwerksliste der Bundesnetzagentur (19.11.2018); Kraftwerksliste
Bundesnetzagentur zum erwarteten Zu- und Rückbau 2018 bis 2021 (19.11.2018); Eigene
Berechnungen)
Erwartete Entwicklung Ende 2017 - 2020
Bis 2020 wird sich die Leistung der Kohlekraftwerke verringern. Im Verlauf des Jahres 2018 wurden
bereits fünf Steinkohleblöcke mit einer Leistung von zusammen 0,9 GW
53
endgültig stillgelegt.
Außerdem wurden zusätzlich bei der Bundesnetzagentur bereits endgültige Stilllegungen von
Steinkohlekraftwerken in einem Umfang von 1,6 GW bis 2020 angemeldet.
54
Insgesamt reduziert sich
die installierte Leistung der Steinkohlekraftwerke im Markt zwischen Ende des Jahres 2017 und 2020
um 3,2 GW.
55
Außerdem wurden bzw. werden weitere Braunkohlekraftwerke in die
Sicherheitsbereitschaft überführt (1,8 GW in 2018 und 2019). Dadurch sinkt die installierte Leistung
(Kraftwerke im Markt) der Steinkohlekraftwerke auf 19,5 GW und die der Braunkohlekraftwerke auf
18,1 GW im Jahr 2020. Durch die Inbetriebnahme des Kraftwerksblocks Datteln 4 würde die Leistung
der Steinkohle-Kraftwerke im Markt im Jahr 2020 wieder auf 20,5 GW steigen.
Entwicklung 2020 – 2022 beim Ersatz von Kohle – durch Gaskapazitäten
Nach 2020 ist es wahrscheinlich, dass insbesondere aufgrund der Anreize im Rahmen des KWKG
weitere Kohlekraftwerke stillgelegt werden. Weit fortgeschrittene Ersatzprojekte werden eine
Stilllegung von 0,2 bis 1,2 GW Steinkohle und 0,18 GW Braunkohle zur Folge haben. Die Leistung der
Kraftwerke im Markt beträgt dann im Jahr 2022 noch 19,3 bis 20,3 GW Steinkohle und 18 GW
Braunkohle.
Die Referenzentwicklung für die Steinkohlekraftwerke ist nicht sicher vorhersehbar. Dies hängt von
der Umsetzung der einzelnen Projekte ab. Aus den folgenden Gründen könnte die installierte
Leistung der Steinkohlekraftwerke im Jahr 2022 auch höher ausfallen:
Vorläufig stillgelegte Kraftwerke in der Netzreserve können wieder in den Markt
zurückkommen (1,4 GW),
Betreiber könnten angekündigte endgültige Stilllegungen im Umfang von 2 GW
zurückziehen und die Kraftwerke gegebenenfalls weiter im Markt betreiben,
53
Die Steinkohleblöcke Lünen 6 und 7 (470 MW) wurden hier nicht eingerechnet, da diese zwar im Dezember
2018 vom Netz gegangen sind, aber erst im März 2019 endgültig stillgelegt werden können.
54
Hinzu kommen 760 MW aus einem Kraftwerk ohne Anzeige der Stilllegung bei der BNetzA, Quelle
Kraftwerksliste Bundesnetzagentur zum erwarteten Zu- und Rückbau 2018 bis 2021, Stand 19.11.2018.
55
879 MW + 1.557 MW + 760 MW = 3.196 MW.
Steinkohle
Braunkohle
endgültig
vorläufig
2017
22,7
19,9
0,9
2020
20,5
18,1
2,4
2022
19,3
18,0
0,8
Anmerkungen: *Angaben jeweils Ende des Jahres; **aktueller Stand 12/2018,
weitere Entwicklung nicht genau vorhersehbar
Kraftwerke im Markt*
Netzreserve Steinkohle**
Sicherheits-
bereitschaft*
Braunkohle
GW
el
0,9
1,4
30
es ist nicht sicher, ob die weit fortgeschrittenen KWK-Projekte im Zeitraum von 2020 bis
2022 wirklich innerhalb des unterstellten Zeitplanes umgesetzt werden und die
Kohleblöcke stillgelegt werden (bis zu 1,2 GW).
In Summe könnte die Leistung der Steinkohlekraftwerke im Markt im Jahr 2022 im Maximalfall um
bis zu 4,6 GW höher liegen.
Entwicklung bis 2030
In der Referenzentwicklung reduziert sich die installierte Leistung der Braunkohlekraftwerke
aufgrund der bestehenden Planungen voraussichtlich auf etwa 16 GW im Jahr 2030.
56
Auch im Bereich der Steinkohlekraftwerke wird sich die installierte Leistung bis 2030 reduzieren.
Aktuelle Studien haben für die Referenzentwicklung der Steinkohlekraftwerke eine installierte
Leistung von 11 GW (r2b), 12 GW (ENavi), 15 GW (BCG/Prognos) und 17 GW (Aurora) ermittelt.
Für die Erreichung der Klimaschutzziele 2030 gemäß Klimaschutzplan 2050 ist laut aktuellen Studien
eine Absenkung der installierten Leistung der Kohlekraftwerke auf 16 GW (7 GW Braunkohle/9 GW
Steinkohle, Aurora), 17 GW (9 GW Braunkohle /8 GW Steinkohle, r2b), 18 GW (7 GW Braunkohle /11
GW Steinkohle, ENavi) und 20 GW (9 GW Braunkohle /11 GW Steinkohle, BCG/Prognos) erforderlich.
Die genaue Referenzentwicklung sowie die Ergebnisse für die Zielpfade der Studien hängen von den
Rahmenbedingungen ab (zum Beispiel Brennstoffpreise, CO
2
-Preise, regulatorischer Rahmen,
Erneuerbaren-Zubau) und den sich daraus ergebenden Volllaststunden.
Diese Rahmenbedingungen sind jeweils mit Unsicherheiten behaftet, die dabei in verschiedene
Richtungen wirken. Signifikant höhere CO
2
-Preise verschieben die Erzeugungsstrukturen vor allem
von Steinkohle- zu Erdgaskraftwerken und gegebenenfalls von alten Braunkohle- zu neuen
Steinkohlekraftwerken und bewirken Emissionsminderungen. Zunehmende Preisdifferenzen
zwischen Erdgas und Steinkohle verschieben die Erzeugungsmuster von Erdgas- zu
Steinkohlekraftwerken und erhöhen so tendenziell die CO
2
-Emissionen. Niedrige Steinkohlepreise
erhöhen den Druck zur Stilllegung älterer Braunkohlekraftwerke und senken so in der Tendenz die
CO
2
-Emissionen der Energiewirtschaft. Eine geringere Stromerzeugung auf Basis erneuerbarer
Energiequellen führt im gesamten fossilen Kraftwerkspark zu höheren Auslastungen lässt die CO
2
-
Emissionen steigen. Kohle-Ausstiegs-Politiken in den Nachbarländern Deutschlands führen
tendenziell zu steigenden Produktionsniveaus deutscher Kohlekraftwerke, steigenden
Nettostromexporten und zu höheren Treibhausgasemissionen im deutschen Bilanzraum.
Kraft-Wärme-Kopplung
Gut zwei Drittel der Kohlekraftwerke liefern nicht nur Strom, sondern koppeln als Kraft-Wärme-
Kopplungsanlagen auch Wärme aus. Damit sind sie Bestandteil der Wärmeversorgung in Fern- und
Nahwärmenetzen. Dabei entfällt 80 % der KWK-Wärmeproduktion auf kleinere Anlagen (kleiner als
400 MW bei Steinkohle, kleiner als 200 MW bei Braunkohle).
57
2016 hatten Steinkohlekraftwerke
einen Anteil von rund 10 % an der gesamten KWK-Nettostromerzeugung. Der Anteil der
Braunkohlekraftwerke lag bei 4,5 % (vgl. Abbildung 4). 68 % der Fernwärme in deutschen Netzen
stammt aus KWK. Seit 2016 ist eine Förderung von neuen, modernisierten oder nachgerüsteten
KWK-Anlagen, die mit Stein- oder Braunkohle betrieben werden, nicht mehr möglich. Dafür wird Gas-
56
Siehe auch Kapitel 3.2.5., Revierpläne.
57
Öko-Institut (2018): Aktueller Stand der Steinkohle-KWK-Erzeugung in Deutschland; Öko-Institut (2017): Die
deutsche Braunkohlenwirtschaft. Historische Entwicklungen, Ressourcen, Technik, wirtschaftliche Strukturen
und Umweltauswirkungen.
31
KWK und der Ersatz von Kohle- durch Gas-KWK gefördert. Die Förderung von KWK-Anlagen ist aktuell
bis 2025 begrenzt.
Der Anteil der KWK am kommunalen Kraftwerkspark betrug 2017 44 % an der
Gesamterzeugungsleistung der Stadtwerke.
58
Gut 80 % der im Bau oder im Genehmigungsverfahren
befindlichen Projekte sind KWK-Anlagen, 19 % sind Erneuerbare-Energien-Projekte. Nur noch 0,3 %
betreffen konventionelle Kohle- oder Gaskraftwerke, in denen die Wärme nicht mitgenutzt wird.
59
Abbildung 4, KWK-Nettostromerzeugung (Quelle: AG Energiebilanzen
60
)
Sicherheitsbereitschaft
Die Sicherheitsbereitschaft wurde im Rahmen des Strommarktgesetzes im Sommer 2016
beschlossen. Das Strommarktgesetz sieht vor, dass insgesamt 2,7 GW Braunkohlekraftwerkskapazität
für vier Jahre in die Sicherheitsbereitschaft überführt und anschließend endgültig stillgelegt werden
(§ 13g EnWG). Ziel ist es, bis zu 12,5 Mio. t CO
2
bis zum Jahr 2020 einzusparen. Als erstes Kraftwerk
würde das Kraftwerk Buschhaus (Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH, MIBRAG) zum 1.
Oktober 2016 in die Sicherheitsbereitschaft überführt. Alle Termine zur Überführung von
Kraftwerksblöcken in die Sicherheitsbereitschaft werden in der Abbildung 5 dargestellt. Die Anlagen,
die sich in der Sicherheitsbereitschaft befinden, werden nur als allerletztes Mittel, zum Beispiel im
Fall von länger andauernden, extremen Wetterphänomenen durch die Übertragungsnetzbetreiber
eingesetzt. Für die Sicherheitsbereitschaft und für die Stilllegung einer Anlage werden entgangene
Strommarkterlöse sowie gegebenenfalls Mehrkosten (zum Beispiel für Umrüstmaßnahmen) in den
vier Jahren der befristeten Sicherheitsbereitschaft vergütet (für die Sicherheitsbereitschaft bedeutet
dies 600 Mio. Euro pro GW für vier Jahre, das entspricht in Summe 1,61 Mrd. Euro). Das
58
29 % der kommunalen KWK-Anlagen werden mit Steinkohle betrieben (basierend auf Erhebungen des VKU).
59
basierend auf Erhebungen des VKU.
60
Umweltbundesamt (2018): KWK-Stromerzeugung. Abrufbar unter
.
32
Strommarktgesetz enthält eine Formel zur Berechnung dieser Vergütung, die genaue Vergütung legt
die Bundesnetzagentur jährlich fest. Die Kosten werden über die Netznutzungsentgelte von der
Wirtschaft und den privaten Haushalten getragen.
Abbildung 5, Überführung von Braunkohle-Kraftwerksblöcken in die Sicherheitsbereitschaft nach
§ 13g EnWG (Quelle: EnWG, eigene Darstellung)
Kraftwerksblock
Betreiber
Installierte
Leistung
gerundet
(in MW)
Datum der
Überführung
Stilllegungsdatum
Buschhaus
MIBRAG
400
01.10.2016
30.09.2020
Frimmersdorf P
RWE
300
01.10.2017
30.09.2021
Frimmersdorf Q
RWE
300
01.10.2017
30.09.2021
Niederaußem E
RWE
300
01.10.2018
30.09.2022
Niederaußem F
RWE
300
01.10.2018
30.09.2022
Neurath C
RWE
300
01.10.2019
30.09.2023
Jänschwalde F
LEAG
500
01.10.2018
30.09.2022
Jänschwalde E
LEAG
500
01.10.2019
30.09.2023
Funktionsweise des deutschen Strommarkts
Strom wird an der Börse und außerhalb der Börse gehandelt. An der Strombörse – für Deutschland
der European Energy Exchange EEX in Leipzig und der European Energy Exchange EPEX SPOT in Paris
– werden standardisierte Produkte ge- und verkauft. Überwiegend schließen Unternehmen aber
weiterhin direkte Lieferverträge mit Stromerzeugern ab. Der Handel mit diesen außerbörslichen
Lieferverträgen wird „
Over the Counter
“ genannt. Obwohl der Handel an den Strombörsen nur rund
20 % des gesamten Handelsvolumens ausmacht, gelten die Börsenstrompreise als Indikator für die
allgemeinen
61
Die Preise am Terminmarkt werden vor allem durch die
Steinkohleimportpreise und den CO
2
-Preis bestimmt.
Der Strommarkt besteht aus verschiedenen Teilmärkten. Dort werden Produkte mit
unterschiedlicher Vorlaufzeit vom Kauf bis zur tatsächlichen Stromlieferung gehandelt. Am
Terminmarkt können Stromanbieter und Stromkunden Kontrakte bis zu sechs Jahre im Voraus
vereinbaren. Auf dem
Day-Ahead
-Markt werden die Stromlieferungen für den kommenden Tag
auktioniert. Auf dem
Intraday
-Markt können die Marktteilnehmer Strommengen sehr kurzfristig
kaufen und verkaufen. Die
Day-Ahead
-Preise, die für jede Stunde des Folgetags ermittelt werden,
sind ein wichtiger Referenzwert für den Strommarkt.
Am Strommarkt können sowohl konventionelle als auch Erneuerbare-Energien-Anlagen Strom
anbieten. Dabei müssen Stromangebot und -nachfrage zu jeder Zeit im Gleichgewicht sein. Die
Netzbetreiber organisieren den Netzbetrieb, damit der gehandelte Strom bei den Verbrauchern
sicher ankommt (vgl. 3.2.3.,
Versorgungssicherheit
). Der Strompreis am Großhandelsmarkt bildet sich
61
BMWi (2014): Ein Strommarkt für die Energiewende. Diskussionspapier des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Energie (Grünbuch).
33
anhand der so genannten
Merit Order
:
62
Die Anlagen mit den niedrigsten Brennstoff- und CO
2
-Kosten
(kurzfristige variable Kosten, auch Grenzkosten genannt) bieten ihren Strom an, bis die
Stromnachfrage vollständig gedeckt ist. Das letzte Gebot, das noch einen Zuschlag erhält, bestimmt
den Preis. Demnach erhalten Erneuerbare-Energien-Anlagen, die weder CO
2
ausstoßen noch
Brennstoffe benötigen, also Grenzkosten nah Null haben, zuerst den Zuschlag.
63
Am anderen Ende
der
Merit Order
befinden sich ältere Steinkohle- und Gaskraftwerke, die höhere Grenzkosten haben
(vgl. Abbildung 6). Je höher die Preise für CO
2
-Zertifikate sind, desto größer ist die Konkurrenz
zwischen neueren, effizienteren Gaskraftwerken mit niedrigen spezifischen CO
2
-Emissionen und
Kohlekraftwerken.
Abbildung 6, Merit Order (Quelle: smard
64
)
Der deutsche Strommarkt ist im europäischen Strommarkt integriert. Konkret geben die
Stromanbieter und -nachfrager ihre Gebote in ihren nationalen Märkten ab. In einem iterativen
Prozess wird dann die Stromnachfrage in jedem Markt durch die günstigsten Stromangebote aus
allen Marktgebieten bedient, bis die Verbindungen zwischen den Märkten (Grenzkuppelstellen)
ausgelastet sind.
Eine zukünftig wichtige Option zur Bereitstellung von Stromerzeugungsleistung wird zum Beispiel der
Bau neuer Gaskraftwerke sein. Neben den bereits im Bau befindlichen konventionellen
Kraftwerksprojekten in diesem Segment sind derzeit weitere Projekte in Planung oder im
Genehmigungsverfahren. Ob diese bis zum Ausstieg aus der Kernenergienutzung Ende 2022 und bis
zum Auslaufen der Sicherheitsbereitschaft 2023 realisiert werden können, ist angesichts des
Realisierungszeitraums zwischen vier und sieben Jahren unwahrscheinlich, aber auch darüber hinaus
nicht sicher. So wird bei vielen Projekten die Investitionsentscheidung von der Entwicklung der
weiteren marktlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen abhängig gemacht.
62
Sensfuß, Frank (2018): Strommarkt: Einführung. Präsentation zur Sitzung der Kommission „Wachstum,
Strukturwandel und Beschäftigung“ am 13. Juli 2018.
63
Die Grenzkosten bilden dabei nicht die vollständigen Kosten der erneuerbaren Energien ab; zur Deckung der
übrigen Kosten (Kapitalkosten) profitieren die erneuerbaren Energieanlagen von Förderung durch das EEG.
64
Bundesnetzagentur (2018): So funktioniert der Strommarkt. Abrufbar unter
34
Grundsätzlich kann der Strommarkt dafür geeignete Investitionsanreize setzen. Unabhängig davon,
ob zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage Kraftwerke, Speicher oder verbrauchsseitige
Flexibilitäten zum Einsatz kommen, wird ein Investor bei seiner Investitionsentscheidung
Zuverlässigkeit und Flexibilität der Anlage sowie den Zeitraum, über den die Anlage maximal zur
Verfügung steht, mitberücksichtigen.
Zudem muss ein Investor aber auch berücksichtigen, ob er neben den variablen Betriebskosten
(insbesondere Brennstoff- und CO
2
-Kosten) kurzfristig auch die Fixkosten des Betriebs (Personal-,
Wartungs- und Instandhaltungskosten) und langfristig die Kapitalkosten der Investition im Markt
erlösen kann. Da sich Gaskraftwerke aufgrund ihrer Kostensituation eher am oberen Ende der
Merit
Order
befinden, sind diese, wenn sie eingesetzt werden, dann auch die preissetzenden Kraftwerke.
Sie erlösen zwar ihre kurzfristigen variablen Kosten, erzielen aber keine hinreichende Deckung ihrer
Fix- und Kapitalkosten. Dies kann nur bei hinreichend hohen und hinreichend häufig vorkommenden
Preisspitzen erfolgen. Da diese aus heutiger Perspektive schwer abschätzbar sind, ist die
Amortisation der Investition mit zudem langer Kapitalbindung stark risikobehaftet. Ein weiteres
Problem sind die Vorlaufzeiten für die Inbetriebnahme eines Gaskraftwerks. Derzeit betragen die
Realisierungszeiträume für Planung, Genehmigungsverfahren und Bau ca. vier bis sieben Jahre, das
heißt: Selbst, wenn der Strommarkt hinreichende Preissignale für die Investitionsentscheidung
sendet, stehen diese Anlagen erst mit starkem zeitlichen Verzug dem Markt zur Verfügung.
3.2.3. Strompreise und Stromkosten
Strompreise allgemein
Die Strompreise für Endverbraucher setzen sich aus den Kosten der Stromerzeugung (marktlich
bestimmt, wie Strombeschaffung und Vertrieb), staatlich induzierten Elementen wie Steuern,
Abgaben und Umlagen sowie staatlich regulierten Netzentgelten zusammen. Welchen Anteil diese
Preiskomponenten am gesamten Strompreis haben, ist je nach Kundenkategorie und von Bundesland
zu Bundesland zum Teil sehr unterschiedlich. Auch aus diesen Unterschieden zwischen einzelnen
Regionen und Bundesländern ergeben sich Vor- und Nachteile für die Attraktivität des Standorts.
Großhandelsstrompreis
Die Volatilität der Großhandelspreise für Strom in der letzten Dekade war erheblich. Seit 2016 wird
eine kontinuierliche Steigerung der Großhandelsstrompreise beobachtet (vgl. Abbildung 7). Im
September 2018 lag der Strompreis bei durchschnittlich rund 56 Euro/MWh (Jahresfuture). Im
September 2017 hatte er noch bei durchschnittlich 36 Euro/MWh gelegen
65
- ein Anstieg von rund 20
Euro/MWh. Maßgebliche Treiber dieser Entwicklung sind der gestiegene Preis für CO
2
-
Emissionszertifikate und gestiegene Brennstoffpreise.
65
Fraunhofer ISE:
.
35
Abbildung 7, Preisentwicklung am EEX-Terminmarkt für Strom – 2007 - 2018 (Quelle: EEX
66
)
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern lagen die Strompreise an der Börse im ersten
Halbjahr 2018 mit durchschnittlich rund 36 Euro/MWh vergleichsweise niedrig.
Abbildung 8, Börsenstrompreise im europäischen Vergleich, 1. Halbjahr 2018 (Quelle: Platts
67
)
Stromkosten für Letztverbraucher
2016 lagen die Letztverbraucherausgaben für Strom bei rund 74 Mrd. Euro. Dabei entfielen rund
13 Mrd. Euro auf Erzeugung und Vertrieb (inklusive des Marktwerts der erneuerbaren Energien),
rund 38 Mrd. Euro auf staatlich induzierte und 22 Mrd. Euro auf regulierte Elemente wie
Netzentgelte oder Stromsteuer.
68
Insgesamt waren die Letztverbraucherausgaben für Strom
zwischen 2013 und 2016 weitgehend stabil. Der Anstieg bei den staatlich regulierten Preiselementen
66
EEX (2018): Marktdaten Strom, abrufbar unter:
67
Quelle
68
BMWi (2018): Sechster Monitoring-Bericht zur Energiewende. Die Energie der Zukunft. Berichtsjahr 2016.
16. Feb. 2016
20,02 Euro/MWh
36
konnte zeitweise durch sinkende Beschaffungskosten aufgefangen werden. Im Jahr 2017 und 2018
sind die Beschaffungskosten und damit auch die Letztverbraucherausgaben jedoch gestiegen.
Abbildung 9: Letztverbraucherausgaben für Strom in Milliarden Euro (Quelle: BMWi
69
)
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sank der Anteil der Ausgaben für Strom im Jahr 2016 auf den
niedrigsten Stand seit 2010. Im Jahr 2016 lag der Anteil der Letztverbraucherausgaben für Strom
bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt bei 2,4 %, gegenüber 2,5 % im Jahr 2015.
Strompreise für private Haushalte und Gewerbe
Der durchschnittliche Strompreis für private Haushalte ist zum Jahresbeginn 2018 gegenüber dem
Jahr 1998 um rund 72 % und gegenüber dem Jahr 2000 um 110 % gestiegen. Der preisbereinigte
Anstieg gegenüber dem Jahr 1998 beträgt 32 %. Seit 2013 hat sich der Haushaltsstrompreis auf
einem Niveau von rund 29 Cent/kWh stabilisiert. Der aktuelle durchschnittliche Strompreis setzt sich
zu rund 54 % aus Steuern, Abgaben und Umlagen und zu rund 25 % aus Netzentgelten zusammen.
Der marktlich bestimmte Anteil (Strombeschaffung und Vertrieb) am Endverbraucherpreis beträgt
21 %.
Die Struktur der Stromkosten für Unternehmen in Gewerbe, Handwerk, Handel und Dienstleistungen
ähnelt überwiegend der für private Haushalte. Zudem liegt für eine Vielzahl der Betriebe der
Stromverbrauch in einer Größenordnung, in der sie nicht oder nur begrenzt von den
unterschiedlichen Entlastungen bei Steuern, Abgaben und Umlagen profitieren. Insofern treffen die
Ausführungen zu Haushaltsstrompreisen auch auf Gewerbe, Handwerk, Handel und Dienstleistungen
zu.
69
BMWi (2018): Sechster Monitoring-Bericht zur Energiewende. Die Energie der Zukunft. Berichtsjahr 2016,
S. 115.
37
Abbildung 10, Strompreise für private Haushalte (Jahresstromverbrauch 3.500 kWh, Quelle:
BDEW
70
)
Die Strompreise für private Haushalte inklusive Steuern und Abgaben liegen in der Europäischen
Union bei durchschnittlich 0,20 Euro/kWh. Am höchsten sind die Strompreise in Dänemark und
Deutschland, wobei Deutschland seit Ende 2017 erstmals vor Dänemark liegt (rd. 0,30 Euro/kWh).
Abbildung 11, EU-Ländervergleich Haushaltsstrompreise 2. Halbjahr 2017 inkl. Steuern und
Abgaben bei einem Jahresverbrauch von 2.500 bis 5.000 kWh (Quelle: Eurostat
71
)
70
BDEW (2018): BDEW-Strompreisanalyse Mai 2018. Haushalte und Industrie.
71
Eurostat: Preise Elektrizität für Haushaltskunde, ab 2007 - halbjährliche Daten (Online-Datencode
nrg_pc_204).
38
Industrie
Strompreise und Stromkosten sind für die Industrie ein wichtiger Kostenfaktor und haben somit
Einfluss auf deren Wettbewerbsfähigkeit. Die Gesamtausgaben der deutschen Industrie für Strom
sind zwischen 2010 und 2014 von rund 22 Mrd. Euro auf rund 27 Mrd. Euro angestiegen und dann bis
2016 wieder auf rund 25 Mrd. Euro pro Jahr gesunken. Aufgrund des gestiegenen Strompreises
dürften die Stromkosten im Jahr 2017 und 2018 jedoch wieder angestiegen sein.
Abbildung 12, Stromkosten der Industrie (Quelle: BMWi
72
)
Deutsche Unternehmen sind global aktiv. Ihre Produkte stehen im Wettbewerb mit anderen
Industrienationen außerhalb der EU und aufstrebenden Schwellenländern. Wie Abbildung 13 zeigt,
liegt der durchschnittliche Industriestrompreis in Deutschland weit über dem OECD-Durchschnitt. Im
Vergleich zu den USA ist er in Deutschland mehr als doppelt so hoch.
72
Eigene Berechnungen auf Basis BMWi (2018): 6. Monitoringbericht der Energiewende
ustauschundMonitoring/MonitoringEnergiederZukunft/monitoringenergiederzukunft-node.html).
39
Abbildung 13, Durchschnittliche Industriestrompreise im OECD-Vergleich (Quelle: IEA
73
).
Abbildung 14, Strompreise für die mittelständische Industrie (Jahresverbrauch 160.000 bis 20 Mio.
kWh, Quelle: BDEW
74
)
Der durchschnittliche Strompreis für industrielle Verbraucher, die ihren Strombedarf nicht über
Eigenerzeugungsanlagen decken, ist zum Jahresbeginn 2018 gegenüber dem Jahr 1998 um rund 84 %
und gegenüber dem Jahr 2000 um 184 % gestiegen (Werte jeweils nominal). Der aktuelle
durchschnittliche Strompreis setzt sich zu rund 52 % aus Steuern, Abgaben und Umlagen und zu rund
73
Originalangaben in USD, durchschnittliche Wechselrate von der EZB 1 USD = 0.8435 EUR angewendet,
Quelle: eigene Darstellung auf Basis von IEA/OECD Energy Prices & Taxes 2018.
74
BDEW (2018): BDEW-Strompreisanalyse Mai 2018. Haushalte und Industrie.
0
20
40
60
80
100
120
140
160
Durchschnittliche Industriestrompreise im OECD-Vergleich
in EUR/MWh (2016)
40
48 % aus Strombeschaffung, Netzentgelten und Vertrieb zusammen. Für kleinere, in der Regel
weniger entlastete, Unternehmen ergeben sich hingegen deutlich höhere Belastungen.
Abbildung 15, EU-Ländervergleich Industriestrompreise 2. Halbjahr 2017 inkl. Steuern und Abgaben
bei einem Jahresverbrauch von 500.000 bis 2 Mio. kWh (Quelle: Eurostat
75
, eigene Darstellung)
Abbildung 16, EU-Ländervergleich Industriestrompreise 2. Halbjahr 2017 inkl. Steuern und Abgaben
bei einem Jahresverbrauch von 70 bis 150 Mio. kWh (Quelle: Eurostat
76
, eigene Darstellung)
Die deutschen Industriestrompreise für Unternehmen, die ihren Strombedarf nicht über
Eigenerzeugungsanlagen decken, befinden sich im EU-Vergleich in der Spitzengruppe. Ohne Steuern
75
Eurostat: Preise Elektrizität für Nichthaushaltskunde, ab 2007 - halbjährliche Daten (Online-Datencode
nrg_pc_205).
76
Eurostat: Preise Elektrizität für Nicht-Haushaltskunde, ab 2007 - halbjährliche Daten (Online-Datencode
nrg_pc_205).
0
0,02
0,04
0,06
0,08
0,1
0,12
0,14
0,16
DE
IT
GB
IE
GR
LV
PT
SK
BE
ES
AT
FR
PL
DK
EE
LT
LU
RO
SI
HU
NL
BG
CZ
NO
EUR/kWh
Beschaffungs- und
Netzkosten etc.
Nicht erstattbare Steuern,
Abgaben und Umlagen
0
0,02
0,04
0,06
0,08
0,1
0,12
0,14
GB
SK
DE
IT
PT
LV
IE
HU
ES
EE
DK
LT
AT
CZ
RO
PL
SI
BG
BE
FI
NL
FR
SE
NO
EUR/kWh
Beschaffungs- und
Netzkosten etc.
Nicht erstattbare Steuern,
Abgaben und Umlagen
41
und Abgaben lägen diese in etwa im Mittelfeld der EU-Länder. Allerdings profitieren laut BDEW nur
rund 4 % der Industriebetriebe von der Besonderen Ausgleichsregelung des Erneuerbaren-Energie-
Gesetzes (EEG) zur Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die jedoch mehr als die
Hälfte des industriellen Stromverbrauchs ausmachen.
77
96 % der Industriebetriebe zahlen die volle
EEG-Umlage.
Die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der energieintensiven Unternehmen ist in hohem Maße von
den Strompreisen abhängig. Als besonders stromintensiv im Sinne der besonderen
Ausgleichsregelung gemäß EEG gelten vorrangig die Sektoren Stahl, Chemie und die Nichteisen-
Metalle Glas, Zement, Kalk und Papier. Unternehmen mit einer hohen Wärmeintensität sind das
Ernährungsgewerbe sowie die Holz- und Papierproduktion. Außerhalb der Industrie gibt es weitere
stromintensive Branchen, wie zum Beispiel Rechenzentren.
Durch Entgelte, Umlagen und Abgaben gehört der Strompreis für nicht entlastete (energieintensive)
Industrieunternehmen (ohne erstattungsfähige Steuern) in Deutschland mit zu den höchsten in
Europa (s.o.). Um Verzerrungen für im internationalen Wettbewerb stehende Industrien zu
vermeiden, werden in Deutschland (aber auch in anderen EU-Staaten) Entlastungen gewährt, wie
zum Beispiel die Besondere Ausgleichsregelung.
78
Die Höhe der Entlastungen hängt dabei stark von
der Höhe des Strombezugs sowie dem Verhältnis von Stromkosten zu Umsatz und Wertschöpfung
ab. Außerdem werden die durch den Emissionshandel entstehenden Strompreiseffekte in der
stromintensiven Industrie durch die Strompreiskompensation im Jahr 2019 zu 75 % ausgeglichen,
wobei die Kompensation im Zeitverlauf abnimmt. Auch ergeben sich regionale Unterschiede
zwischen den Bundesländern aufgrund unterschiedlich hoher Netzentgelte. Insbesondere in
ländlichen Räumen in Nord- und in Ostdeutschland, ergeben sich höhere Strompreise gegenüber
dem Bundesdurchschnitt, die für die dort angesiedelten Unternehmen einen Standortnachteil
darstellen.
79
Für im internationalen Wettbewerb stehende energieintensive Unternehmen besteht außerdem die
Möglichkeit einer kostenlosen Zuteilung von CO
2
-Zertifikaten für die Sektoren, in denen das Risiko
einer Produktionsverlagerung in Länder außerhalb der EU am höchsten ist (sogenanntes
carbon
leakage
). In Deutschland nehmen zurzeit (in der dritten Handelsperiode des EU-ETS von 2013 bis
2020) rund 1.900 Energie- und Industrieanlagen am Emissionshandel teil (europaweit 12.000).
Allerdings verfügt Deutschland über Standortvorteile wie zum Beispiel Kundennähe /
Kundenbindung, ein hohes Maß an Integration innerhalb der Wertschöpfungsketten, enge
Vernetzung mit Forschung und Entwicklung sowie Branchenclustern, gut qualifizierte Fachkräften
und Stromversorgungssicherheit. All diese Rahmenbedingungen können jedoch zunehmend auch
andere Länder bieten, allerdings zu derzeit niedrigeren Stromkosten (zum Beispiel die USA
einhergehend mit dem Schiefergas- und Schieferölboom). Wie langfristig diese niedrigen
Stromkosten sind, ist ungewiss. Langfristige Planungssicherheit ist daher für Unternehmen von
77
Der Nettostrombedarf der Industrie lag im Jahr 2017 bei 249 TWh. Darin enthalten ist der Eigenverbrauch
ohne EEG-Umlage in Höhe von 69 TWh. Bezogen auf den Nettostrombedarf ohne Eigenverbrauch macht die
BesAR-Begünstigung in Höhe von 102 TWh rund 57 % aus. Quelle: Fraunhofer ISI (2018): Mittelfristprognose
zur deutschlandweiten Stromabgabe an Letztverbraucher für die Kalenderjahre 2019 bis 2023, Tabelle 2, S. 30.
78
Der Gesetzgeber orientiert sich bei seinen Entlastungsregelungen insb. bei der Besonderen
Ausgleichsregelung §§ 63ff. EEG 2014 an Schwellenwerten die überschritten werden müssen. Dazu werden die
Branchenzugehörigkeit (gem. Anhang 4 EEG 2014) sowie jährliche Stromverbräuche und Stromintensitäten
berücksichtigt.
79
Durch das am 18.7.2017 in Kraft getreten NEMoG erfolgt ab 2018 eine stufenweise bundesweite
Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte sowie die Abschmelzung des Privilegs der vermiedenen
Netzentgelte.
42
herausragender Bedeutung, um die Amortisation von Investitionen zu garantieren und damit
Investitionen zu ermöglichen. Europäisches Beihilferecht spielt eine entscheidende Rolle, um
Wettbewerbsverzerrungen auf dem Weg zur Vorreiterrolle Deutschlands bei der Energie- und
Klimapolitik zu vermeiden.
Nicht nur die Höhe der Stromkosten ist eine Belastung industrieller Wertschöpfung in Deutschland.
Für den Wirtschaftsstandort Deutschland stellt zudem die Unsicherheit über die zukünftige
regulatorische Behandlung, beispielsweise bei der Besonderen Ausgleichsregelung, eine
Herausforderung dar.
80
Die Unsicherheit schlägt sich bereits heute in einer trotz hohen
Wirtschaftswachstums schwachen Investitionstätigkeit der stromintensiven Industrie in Deutschland
nieder.
81
3.2.4. Versorgungssicherheit
Energieversorgungssicherheit ist ein hohes Gut. Die ständige Verfügbarkeit von Energie und Wärme
ist die Grundlage der deutschen Volkswirtschaft. Dies umfasst auch die sichere Versorgung mit
Energierohstoffen. In diesen Kontext gehört auch, dass Deutschland über eine gut ausgebaute
Gasinfrastruktur verfügt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1994 in seiner Entscheidung zum
„Kohlepfennig“ nachvollziehbar festgestellt, dass „Das Interesse an einer Stromversorgung heute so
allgemein [ist] wie das Interesse am täglichen Brot.“ Im Einsetzungsbeschluss der Kommission
„Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ist die Versorgungssicherheit als wesentliches Ziel
verankert.
Im Gegensatz zu den Zielen zum Ausbau der erneuerbaren Energien und der Reduktion von
Treibhausgasen, ist das Ziel der Versorgungssicherheit jedoch nicht weiter qualifiziert oder gar
quantifiziert worden.
82
Zur Überwachung der Versorgungssicherheit führt das Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie ein Monitoring der Versorgungssicherheit nach § 51 EnWG und eine
Berichterstattung nach § 63 EnWG auf Grundlage wahrscheinlichkeitsbasierter Analysen
80
Die Gebr. Grünewald GmbH & Co. KG ist ein mittelständisches stromintensives Unternehmen der
Papierindustrie. Das Unternehmen stellt Spezialpapiere für den europäischen Markt her. Die direkten
Wettbewerber produzieren in Tschechien, Österreich und Schweden. In diesem Wettbewerbsumfeld benötigt
die Gebr. Grünewald GmbH & Co. KG international konkurrenzfähige Strompreise. 10 Euro/MWh Mehrkosten
bedeuten für die Gebr. Grünewald GmbH & Co. KG Mehrkosten von 275,000 Euro pro Jahr und damit die
Größenordnung des Jahresüberschusses des Familienunternehmens.
Die TRIMET Aluminium SE ist ein konzernunabhängiger deutscher Aluminiumhersteller: 1990 gab es noch 36
Aluminiumhütten in Europa. 2018 sind es lediglich noch 15. Mit einer Grundlastversorgung, die sich bei einem
abrupten Ausstieg aus der Kohleverstromung überwiegend auf teurere Gaskraftwerke stützt, wäre eine
stromintensive Industrieproduktion in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig möglich. Bei der
Aluminiumproduktion ist Strom der größte Kostenblock. Die Stromkosten betragen ca. 40 % der Gesamtkosten.
Ein Anstieg von 1ct/kWh bedeutet daher einen Gesamt-Produktionskostenanstieg von rund 10 % im Vergleich
zu den Kosten in 2018, und dies gegen einen weltweit einheitlichen Börsenpreis für das erzeugte Aluminium.
Zur Einordnung: Allein TRIMET benötigt mit 6 TWh/a mehr als ein Prozent der deutschen Stromproduktion -
1ct/kWh sind somit gleichbedeutend mit jährlichen Mehrkosten von 60 Mio. Euro.
81
IW 2017: Energiepolitische Unsicherheit verzögert Investitionen in Deutschland. IW policy paper 13/2017;
Statistisches Bundesamt 2017; Energieintensive Branchen: Papier, Chemie, Glas/Keramik, sowie
Metallerzeugung und -bearbeitung.
82
Der Bundesrechnungshof hat das 2016 deutlich kritisiert: „Das Monitoring der Energiewende muss im
Hinblick auf die Zielarchitektur optimiert werden. Die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit müssen
genauso konkretisiert, bewertet und quantifiziert werden wie das bereits ausreichend quantifizierte Ziel
Umweltverträglichkeit“ (Bundesrechnungshof (2016): Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen
Bundestages nach § 88 Abs. 2 BHO über Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende durch das
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie).
43
länderübergreifend und entsprechend der europarechtlichen Vorgaben (gemeinsame Methodologie)
durch.
Unter dem Begriff Versorgungssicherheit wird im Monitoringbericht des BMWi die dauerhafte und
nachhaltige Bedarfsdeckung verstanden. Dies umfasst im Grundsatz sämtliche Stufen der
Elektrizitätsversorgung: die Stromerzeugung, die Verfügbarkeit von Primärenergieträgern für die
Stromerzeugung, den Transport des Stroms sowie den Handel und Vertrieb.
83
Versorgungssicherheit
kann an den Kriterien Versorgungszuverlässigkeit, Systemsicherheit und bedarfsgerechte
Stromproduktion festgemacht werden:
84
Versorgungszuverlässigkeit
: Dabei geht es um die Frage, ob der Letztverbraucher mit
dem Netz verbunden bleibt oder die Versorgung ungeplant unterbrochen wird – zum
Beispiel durch Wetterereignisse oder Unfälle im Rahmen von Bauarbeiten. Die
Verteilnetzbetreiber müssen der Bundesnetzagentur jeweils bis zum 30. April eines
Jahres einen Bericht über die im vorhergehenden Jahr im Netz aufgetretenen
Versorgungsunterbrechungen vorlegen (§ 52 EnWG). Aus diesen Meldungen ermittelt die
Bundesnetzagentur den Durchschnittswert der Versorgungsunterbrechungen für alle
Letztverbraucher, den so genannten SAIDI-Wert (System Average Interruption Duration
Index). Dieser ist zur Messung der tatsächlichen Stromversorgungssicherheit bzw. -
qualität, die insbesondere für die Industrie von entscheidender Bedeutung ist, jedoch
ungeeignet, weil er lediglich Versorgungsunterbrechungen von mehr als drei Minuten
erfasst.
Systemsicherheit
: Neben dem Netzausbau haben die Netzbetreiber die Aufgabe, die
Stromnetze sicher zu betreiben. Damit sorgen sie dafür, dass der Strom, der am
Strommarkt beschafft wird, tatsächlich bei den Stromkunden ankommt. Langanhaltende
und allgemeine Stromausfälle – auch Blackouts genannt – sind in der Regel
Systemsicherheitsprobleme.
85
Um die Systemsicherheit zu gewährleisten, greifen die
Netzbetreiber auf so genannte Systemdienstleistungen zu. Dazu zählt insbesondere der
Einsatz von Regel- (Frequenzhaltung) und Blindleistung (Spannungshaltung) sowie der
Einsatz von Erzeugungsanlagen zum Wiederaufbau des Netzes im Fall größerer Störungen
(Schwarzstartfähigkeit). Darüber hinaus sind die Netzbetreiber verpflichtet, gewisse
Maßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit des Stromversorgungssystems
aufrechtzuerhalten (§ 13 EnWG). Dazu gehören insbesondere so genannte Redispatch-
und Einspeisemanagement-Maßnahmen: Bei erwarteten Netzengpässen weisen die
Netzbetreiber Stromerzeuger an, die Erzeugung ihrer Anlagen zu drosseln. Hinter dem
Engpass werden Reservekraftwerke hochgefahren, um die gedrosselte Stromproduktion
zu ersetzen. Jedes Jahr stellt die Bundesnetzagentur den Bedarf an Reservekraftwerken
fest (§ 3 NetzResV). So beträgt für den Winter 2018/2019 der Bedarf an
Netzreservekapazitäten 6.600 MW. Sofern ein Kraftwerksbetreiber beabsichtigt, ein
Kraftwerk stillzulegen, ist er verpflichtet, dies mindestens 12 Monate im Voraus bei der
Bundesnetzagentur anzumelden (§ 13 EnWG). Falls die Bundesnetzagentur das Kraftwerk
auf Antrag eines Übertragungsnetzbetreibers als systemrelevant einstuft, kann sie die
83
BMWi (2016): Monitoring-Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie nach § 51 EnWG zur
Versorgungssicherheit im Bereich der leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizität.
84
Maurer, Christoph (2018): Versorgungssicherheit – Grundlagen. Präsentation zur Sitzung der Kommission
„Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 13. Juli 2018.
85
Maurer, Christoph (2018): Versorgungssicherheit – Grundlagen. Präsentation zur Sitzung der Kommission
„Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 13. Juli 2018.
44
Stilllegung untersagen. Das Kraftwerk wird dann in die Netzreserve überführt (vgl. Kapitel
3.2.2).
Bedarfsgerechte Stromproduktion
: Zusätzlich zur Stabilität der Stromnetze erfordert
eine sichere Stromversorgung, dass Stromkunden ihre Nachfrage am Markt jederzeit
decken können. In einem wettbewerblichen System ist die wirtschaftliche
Versorgungssicherheit typischerweise dadurch gesichert, dass die Unternehmen aus
eigenem Profitabilitätsinteresse heraus alles tun, um die Versorgung der Bevölkerung mit
den von ihnen bereitgestellten Produkten zu sichern.
86
Daher überlässt das deutsche
Energiewirtschaftsrecht den Bau von Kraftwerken und den Ausbau der Netze öffentlichen
(meist kommunalen) und privatwirtschaftlichen Unternehmen. Es besteht die von der
Erfahrung geprägte Erwartung, dass dies der kostengünstigste Weg zu einem hohen
Versorgungssicherheitsniveau ist. Auf europäischer Ebene wird die bedarfsgerechte
Stromproduktion am Markt durch den Verband der europäischen
Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E beobachtet und bewertet und auf regionaler Ebene
durch das Pentalaterale Forum. In Deutschland führt das BMWi ein jährliches Monitoring
zur Versorgungssicherheit durch (§ 51 EnWG). Zusätzlich wird ein gemeinsamer
Versorgungssicherheitsbericht mit den Nachbarstaaten der Europäischen Union erstellt.
Den europäisch und national angewandten Verfahren liegt eine probabilistische
Methode in einer europäischen Betrachtung zugrunde, die fortlaufend überprüft wird.
Versorgungssicherheit wird dort anhand eines messbaren, quantitativen Kriteriums
bewertet, des sogenannten LoLE (Loss of Load Expectation), also der erwarteten Stunden
pro Jahr, in denen das Stromangebot am Markt die Stromnachfrage nicht vollständig
decken kann. In diesen Stunden sollen in Deutschland die Kraftwerke in der
Kapazitätsreserve einspringen und so die Nachfrage decken. Grundsätzlich muss auf die
Berechnung des LoLE-Wertes hingewiesen werden, die das statische Verfahren des
Leistungbilanzberichtes (vereinfacht: gesicherte Leistung minus Jahreshöchstlast > 0) ab
2018 abgelöst hat. Grundlage der probabilistischen Berechnung sind diverse Annahmen
und Randbedingungen. Diese beziehen sich unter anderem auf konventionelle
verfügbare Kraftwerkskapazitäten im Ausland, aber auch auf Netzausbauplanungen
beispielsweise in Bezug auf Grenzkuppelkapazitäten. Da insbesondere mit zunehmendem
Zeithorizont Modellergebnisse mit entsprechenden Unsicherheiten behaftet sind, sollten
diese um geeignete Sensitivitätsanalysen und plausible Bandbreiten für die
Modellergebnisse ergänzt werden. Zudem wären Ergebnisbeschreibungen für extreme
Situationen wie beispielsweise Dunkelflauten oder Hitzeperioden wünschenswert.
Die Versorgungssicherheit am Strommarkt ist derzeit auf sehr hohem Niveau gewährleistet. Die
Unterbrechungsdauer der Versorgung auf Verteilnetzebene ist seit Jahren auf einem konstant
niedrigen Niveau. Im internationalen Vergleich hat Deutschland eines der sichersten
Stromversorgungssysteme der Welt. Zur sicheren Versorgung mit Strom sind zudem folgende
Vorkehrungen getroffen: Neben einer Reserve für regionale Risiken im Sinne der Systemsicherheit in
den Übertragungsnetzen (Netzreserve) steht bereits heute die sogenannte Sicherheitsbereitschaft
für längerfristige Risiken am Strommarkt bereit. Die Kosten werden über die Netznutzungsentgelte
von der Wirtschaft und den privaten Haushalten getragen.
Zur Deckung der Stromnachfrage steht zudem eine Kapazitätsreserve für etwaige kurzfristige
Extremereignisse am Strommarkt bereit.
86
Säcker, Franz Jürgen und Timmermann, Andreas (2018), in: Säcker, Franz Jürgen (Hrsg.), Berliner Kommentar
zum Energierecht, 3. Aufl., § 1 Rz. 8.
45
Auch beim Fortschreiten der Energiewende mit dem Kernenergieausstieg bis Ende 2022 und dem
weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien muss die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Dies
stellt eine Herausforderung dar.
87
Hinsichtlich der Dimension der Systemsicherheit stellt sich
insbesondere die Frage, wie künftig die Bereitstellung von Systemdienstleistungen wie Blindleistung
unabhängiger von konventionellen Kraftwerken zu gestalten ist (Systemsicherheit).
88
In den letzten
Jahren haben Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Systemsicherheit wie
Redispatch
an Bedeutung
gewonnen. So ist die Menge der Drosselungen und Erhöhungen der Einspeisungen durch
Redispatchmaßnahmen im Jahr 2017 auf rund 18.000 GWh gegenüber rund 11.000 GWh im Jahr
2016 gestiegen.
89
Hierfür gibt es vielfältige Gründe, wie die Standorte von Erzeugungsanlagen und
die volatile Einspeisung sowie der verzögerte Netzausbau. Die Kosten für das gesamte
Engpassmanagement (Redispatch, Einspeisemanagement, Netzreserve) sind von 0,8 Mrd. Euro im
Jahr 2016 auf 1,4 Mrd. Euro im Jahr 2017 angestiegen.
90
Deshalb sind der weitere Ausbau und die
Optimierung der Stromnetze eine Voraussetzung dafür, dass die Systemsicherheit auch künftig
gewährleistet bleibt. Hierzu gehört insbesondere die planmäßige Inbetriebnahme der im Bau und in
Planung befindlichen Höchstspannungsleitungen.
Die Vollendung des europäischen Elektrizitätsbinnenmarktes ist erklärtes Ziel der Europäischen
Union. Versorgungssicherheit am Strommarkt („Bedarfsgerechte Stromproduktion“) ist daher
europäisch zu betrachten. Auch die Energiepolitik der Europäischen Union ist der
Energieversorgungssicherheit verpflichtet. Gemäß Art. 194 Abs. 1 lit. b AEUV ist die Gewährleistung
der Energieversorgungssicherheit ein Ziel der Energiepolitik der Europäischen Union. Die primäre
Gewährleistungsverantwortung für die Versorgungssicherheit liegt aber nach wie vor bei den
Mitgliedstaaten. Deutschland ist durch Grenzkuppelstellen mit seinen Nachbarn verbunden. Der
physikalische Stromtransport wird durch die Transportfähigkeit der Stromnetze sowie der
Grenzkuppelstellen beschränkt. Die deutsche Stromversorgung erfolgt im europäischen Verbund
bzw. ist im europäischen Binnenmarkt integriert (vgl. Kapitel 3.2.1).
Die aktuelle Marktsituation ist europaweit noch durch Überkapazitäten gekennzeichnet.
91
In der
Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ besteht Einigkeit darüber, dass die
nationalen Überkapazitäten mit dem Abschalten der letzten Kernkraftwerke ab dem Jahr 2023
weitgehend abgebaut sind. Gleichzeitig ist mit einem Rückgang der gesicherten Leistung in den
Nachbarländern zu rechnen, wie das Beispiel Belgien aktuell deutlich zeigt.
92
Eine Studie des Joint
Research Centre, des wissenschaftlichen Dienstes der Europäischen Union, untersucht die
87
Vgl. Kleinekorte, Klaus (2018): Präsentation zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung“ am 29. August 2018.
88
BTU Cottbus-Senftenberg (2018): Betrachtungen zur Mindesterzeugung von Braunkohlekraftwerken im
Kontext des Netzbetriebes. Systemmehrwert durch mehr Flexibilität.
89
Das Redispatchvolumen von 18 TWh setzt sich zur Hälfte aus Einspeisereduzierungen in Nord- und
Ostdeutschland (davon 60 % Braunkohlekraftwerke) und zur Hälfte aus Einspeiseerhöhungen insbesondere in
Süddeutschland zusammen (davon jeweils 35 % Erdgas- und Steinkohlekraftwerke). Quelle: BNetzA (2018):
Quartalsbericht zu Netz- und Systemsicherheitsmaßnahmen Gesamtjahr und Viertes Quartal 2017.
90
Davon entfielen im Jahr 2016 235 Mio. Euro Redispatch, 373 Mio. Euro auf Einspeisemanagement und 286
Mio. Euro auf die Netzreserve. Im Jahr 2017 entfielen 423 Mio. Euro auf Redispatch, 610 Mio. Euro auf
Einspeisemanagement und 415 Mio. Euro auf die Netzreserve (vgl. Bundesnetzagentur, 2019, „Netz- und
Systemsicherheit“ abrufbar unter:
91
Maurer, Christoph (2018): Monitoring der Versorgungssicherheit am Strommarkt – Analyse für 2020-2030 im
Auftrag des BMWi.
92
Schroeder, Robert (2018): Bedarfsgerechte Stromeinspeisung. Präsentation zur Sitzung der Kommission
„Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 29. August 2018.
46
Entwicklung der installierten Leistung von Kohlekraftwerken in der Europäischen Union. Es ergibt sich
ein Rückgang von 150 GW auf 105 GW im Zeitraum 2016-2025 und ein weiterer Rückgang auf 55 GW
bis 2030.
93
Auch der über das Jahr aggregierte Stromexportsaldo ist ein unzureichendes Maß für die
Versorgungssicherheit. Dies gilt umso mehr, je höher der Anteil von fluktuierenden und
dargebotsabhängigen Energieträgern am Strommix ist. Für die Bewertung der Versorgungssicherheit
sollten daher vielmehr Extremsituationen betrachtet werden. So muss die Stromversorgung auch in
Phasen gewährleistet sein, in denen über einen längeren Zeitraum außerordentlich wenig Strom aus
Wind und Sonne auf eine kältebedingt hohe Nachfrage trifft (so genannte kalte Dunkelflaute). Dabei
sollte außerdem berücksichtigt werden, dass Hochlastsituationen in den Ländern Zentral- und
Westeuropas auch gleichzeitig bestehen können. Auch wetterbedingte Effekte (zum Beispiel
Kältewelle, Trockenheit) treten in der Regel aufgrund ihrer Großflächigkeit zeitgleich in vielen
europäischen Ländern auf.
Damit Versorgungssicherheit am Strommarkt auch nach dem Kernenergieausstieg bis Ende 2022
gewährleistet bleibt, muss der Strommarkt verlässliche Investitionssignale senden. Hierfür ist
Planungssicherheit notwendig. Diese ist nur dann gegeben, wenn die Marktteilnehmer von
verlässlichen politischen Entscheidungen mit adäquaten Umsetzungszeiträumen ausgehen können.
Darüber hinaus muss im Rahmen des europäischen Marktes die Gewährleistung der
bedarfsgerechten Stromproduktion, zum Beispiel aus Vorsorgegründen, auch national sichergestellt
werden. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich zum Beispiel die nationalen Energiepolitiken
anderer europäischen Mitgliedstaaten ändern können und die Kapazitätsentwicklung in den
europäischen Nachbarländern nicht sicher einzuschätzen ist. Um die daraus resultierenden Risiken zu
minimieren, müssen zumindest übergangsweise auch nationale Maßnahmen möglich sein. Das
deutsche System der Kapazitätsreserve trägt dem Bedürfnis nach einer nationalen Absicherung
Rechnung, ohne dabei den Markt zu beeinträchtigen.
94
Neben der Kapazitätsreserve stellt die
Sicherheitsbereitschaft ein weiteres Absicherungsinstrument dar.
Versorgungssicherheit Wärme
Das klimapolitische Kernanliegen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
ist die schrittweise Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung. Ein erheblicher Teil der
Kohlekraftwerke in Deutschland erzeugt nicht nur Strom, sondern auch Wärme für die lokale
Wärmeversorgung und die industrielle Prozesswärme. Damit ist klar: Eine Reduzierung von
Kohlekraftwerkskapazitäten hat Auswirkungen sowohl auf die Strom- als auch auf die
Wärmeversorgung. Daraus ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Herausforderungen im
Hinblick auf die Reduzierung von gekoppelten und ungekoppelten Kohlekraftwerkskapazitäten, die
differenziert betrachtet werden müssen.
Industrielle Wärme
Kohle-KWK-Anlagen des Bergbaus und des Verarbeitenden Gewerbes haben im Jahr 2017 mit
15,3 TWh Prozessdampf- und Wärmelieferungen zur Energieversorgung der Industrie beigetragen.
Im Bereich der Braunkohle wird der Prozessdampf insbesondere für die Braunkohlenveredelung
genutzt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass zahlreiche KWK-Anlagen, die Industriebetriebe versorgen,
93
BDEW (2018): Verfügbarkeit ausländischer Kraftwerkskapazitäten für die Versorgung in Deutschland.
94
Die Kraftwerke in der Kapazitätsreserve befinden sich außerhalb des Strommarktes. Sie werden erst dann
eingesetzt, wenn keine Markträumung stattfinden kann. Zudem dürfen sie nicht Strom am Markt anbieten.
47
zu den Anlagen der öffentlichen Versorgung gezählt werden, da sie von Kontraktoren betrieben
werden. Eine eindeutige Unterteilung ist deshalb nicht möglich.
95
Fernwärme
Die Fernwärmenetze sind neben Gas- und Stromnetzen die dritte zentrale Energieinfrastruktur
Deutschlands. Sie versorgen vor allem im urbanen Raum über 5,8 Mio. Haushalte
96
mit Wärme. Bei
der Raumwärmeversorgung im Wohnungsbau hat sich der Anteil der Fernwärme in den vergangenen
zehn Jahren mehr als verdoppelt. Mit Fernwärme werden nicht nur private Haushalte und
Wohngebäude beheizt. Auch Industrie und Gewerbe sind zu einem erheblichen Teil Abnehmer von
Fernwärme, die zum Beispiel als Prozesswärme oder zur Beheizung von Produktionsstätten
eingesetzt wird.
Der klimapolitische Wert der Fernwärmenetze besteht darin, dass sich mit dieser Infrastruktur
Ballungsräume deutlich leichter dekarbonisieren lassen. Dies gilt umso mehr, je dichter diese Räume
besiedelt und je höher die Mietwohnungs- und die Wärmedichte sind. Hier ist erfahrungsgemäß die
Erhöhung der Endenergieeffizienz durch Dämmung nur mit erheblichem Förderaufwand (und auch
dann nur unvollständig) zu realisieren. Die leitungsgebundene Wärmeversorgung hat den Vorteil,
eine zunehmend auf Basis erneuerbarer Energien oder CO
2
-armer/-freier Energieträger erzeugte
Wärme auf einfache Weise in diesen Ballungsräumen verteilen zu können.
Gleichzeitig tragen KWK-/Wärmenetzsysteme, die flexibel betrieben werden, zur Integration von
Strom aus erneuerbaren Energien in das Energiesystem bei. Viele KWK-Anlagen werden in
Kombination mit Wärmespeichern und Power-to-Heat-Anlagen betrieben. Dadurch werden sie
hochflexibel und können Strom unabhängig von der Wärmenachfrage in Zeiten produzieren, wenn
Windkraft- und Photovoltaikanlagen nicht zur Verfügung stehen. Power-to-Heat-Anlagen nutzen den
Strom aus diesen Erneuerbaren-Energien-Anlagen zur Wärmeerzeugung, wenn die Stromnetze
diesen nicht mehr abtransportieren können. Das entlastet die Stromnetze, verhindert oder verzögert
die Abschaltung von Erneuerbare-Energien-Anlagen und erhöht den Anteil erneuerbarer Wärme in
der Fernwärmeversorgung und kommt somit den Klimaschutz zugute.
In vielen Städten werden bis 2022 bestehende KWK-Kraftwerke auf Kohlebasis durch neuere, CO
2
-
ärmere Anlagen ersetzt (zum Beispiel in Kiel, Cottbus, Chemnitz, Frankfurt (Oder), Herne, Hürth).
Kohle trägt gegenwärtig mehr als ein Viertel zur Fernwärmeerzeugung bei. Dabei entfallen im
Durchschnitt 19 % auf Stein- und 7 % auf Braunkohle. Hierbei ist zu beachten, dass der Anteil der
Kohle an der Fernwärmezeugung sich sehr stark von Fernwärmenetz zu Fernwärmenetz
unterscheidet. Während in einigen Fällen als Haupterzeuger Kohleheizkraftwerke dienen, ist in
anderen Fernwärmenetzen kein oder nur ein geringer Beitrag von Kohle vorhanden. Aufgrund dieses
lokalen Charakters der Fernwärmeversorgung und der dazugehörigen örtlichen Gebundenheit der
entsprechenden KWK-Anlage kann eine kurzfristige Stilllegung von Kohle-KWK zu ganz erheblichen
Herausforderungen für die Wärmeversorgung führen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der
stillzulegende Kohle-KWK-Block der Haupterzeuger in dem Fernwärmenetz ist. In vielen Fällen ist die
Schaffung einer CO
2
-armen Ersatzlösung für die Wärmeproduktion erforderlich. Die sichere
Wärmeversorgung (Fern- und Prozesswärme) muss dabei jederzeit und vollumfänglich gewährleistet
sein.
95
Falkenberg, Hanno et al. (2018): Evaluierung der Kraft-Wärme-Kopplung. Analysen zur Entwicklung der Kraft-
Wärme-Kopplung in einem Energiesystem mit hohem Anteil erneuerbarer Energien. Prognos AG, Fraunhofer
IFAM, Öko-Institut, BHKW-Consult und Stiftung Umweltrecht, 15. August 2018.
96
BDEW Magazin „Zweitausend50“, Nr. 2/2018.
48
Daraus ergeben sich zwei relevante Handlungsfelder, die Weiterentwicklung und Fortführung der
Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung sowie die Erschließung der Potenziale für „Grüne Fernwärme“.
3.2.5. Revierpläne
Ein Spezifikum der Braunkohlewirtschaft ist der enge räumliche und ökonomische Zusammenhang
zwischen Kraftwerk(en) und Tagebau(en): Veränderungen im Kraftwerksbetrieb haben unmittelbare
Auswirkungen auf den Tagebaubetrieb und umgekehrt. Aufgrund des hohen Fixkostenanteils im
Tagebau (rund 80 % fixe und 20 % variable Kosten) stellen geringere Kohleförder- oder
Verstromungsmengen das Verbundsystem Braunkohle vor ökonomische Herausforderungen. Es gilt
daher, diese Wechselwirkung bei allen Entscheidungen in Hinblick auf die CO
2
-Minderung in der
Braunkohleverstromung im Blick zu behalten.
Ein weiteres Spezifikum der Braunkohlewirtschaft ist die Bildung von sogenannten Rückstellungen
zur Wiedernutzbarmachung der vom Braunkohlenbergbau in Anspruch genommenen Flächen. Die
Bildung der Rückstellungen erfolgt auf gesetzlicher Basis nach dem Handelsgesetzbuch.
Rückstellungen im Braunkohlenbergbau werden in Form von Gesamtverpflichtungen,
Verteilrückstellungen und Ansammlungsrückstellungen gebildet und nach festgelegten
Abzinsungsregelungen, Annahmen zu spezifischen Teuerungsraten und Erhöhungen von
Personalkosten bilanziell ausgewiesen.
Grundsätzlich gilt im Bergbau das Verursacherprinzip. Die bilanziellen Rückstellungen weisen bei
einer vorzeitigen Betriebsstilllegung ein Defizit zwischen den zu einem nominal bestimmten
Zeitpunkt zur Rekultivierung erforderlichen Finanzmitteln und den tatsächlich zu einem früheren
Zeitpunkt verfügbarem Barwert aus. Das Finanzdefizit ist dabei unmittelbar nach der Aufschlussphase
am größten und verringert sich mit der zunehmenden Lebensdauer des Tagebaus bis zum Auslauf auf
einen Wert von Null.
Die bergbaubedingten Rückstellungen sind unter Berücksichtigung der realen Tagebauentwicklung
sukzessive aufzubauen und zu gegebener Zeit in Anspruch zu nehmen/zu verbrauchen, wobei
Rekultivierungs- und Wiedernutzbarmachungsleistungen beispielsweise bei Flächen oder
Entwässerungsanlagen und Infrastrukturverlegungen auch bereits im laufenden Gewinnungsbetrieb
durchgeführt werden.
Die mit der Rückstellungsbildung und dem rollierenden System der (Teil)-Wiedernutzbarmachung
schon während der eigentlichen Gewinnungsphase im Tagebau verbundene Philosophie setzt derzeit
die vollständige Erfüllung und Durchführung des Bergbauvorhabens voraus. Der Aufschluss, der
Regelbetrieb und der Abschluss des Bergbauprojektes müssen im Rahmen eines geordneten
Betriebes erfolgen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei einer vorfristigen Beendigung bzw. Stilllegung
eines Tagebaus eine vollständige Erfüllung der Verpflichtungen des Bergbautreibenden zur
Wiedernutzbarmachung durch (monetäre) Bereitstellung der bis zu diesem Zeitpunkt gebildeten
Rückstellungen gewährleistet werden kann.
Die Diskrepanz zwischen dem für die Wiedernutzbarmachung tatsächlich erforderlichen Finanzbedarf
und den vorhandenen Rückstellungen ist bei einer vorzeitigen Tagebaubeendigung umso größer, je
früher der Stilllegungszeitpunkt nach der Aufschlussphase eintritt.
Um einen Braunkohletagebau zu betreiben, bedarf es zum einem der Erfüllung der raumplanerischen
Voraussetzungen (Landesentwicklungspläne, Braunkohlepläne). Zum anderen durchlaufen die
Tagebaue ein bergrechtliches Zulassungsverfahren nach Bundesberggesetz (BBergG).
Die heute betriebenen Braunkohletagebaue sind das Resultat eines komplexen
genehmigungsrechtlichen Gefüges, bestehend aus landespolitischen Leitentscheidungen,
49
Braunkohleplänen, Rahmen- sowie Hauptbetriebsplänen. Sie beruhen auf einer zeitintensiven
Abstimmung zwischen verschiedenen Interessen und der Abwägung der Auswirkungen eines
Tagebaus auf Grundlage der bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen. Vor dem Hintergrund,
dass auf Seiten der Unternehmen der Braunkohlewirtschaft keine Neuaufschlüsse von Tagebauen
geplant sind, ergeben sich folgende Revierplanungen:
Abbildung 17, Übersicht über die Genehmigungsschritte im Braunkohletagebau (Quelle:
„Erneuerbare-Energien-Vorhaben in Tagebauregionen“ nach Öko-Institut 2017
97
)
Das bergrechtliche Verfahren regelt, ob und mit gegebenenfalls welchen Einschränkungen die in den
Braunkohlenplänen erfassten Fördermengen tatsächlich erschlossen und gefördert werden können.
Zuständig sind die Bergämter der Länder:
Brandenburg: Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe
Sachsen: Sächsisches Oberbergamt
Sachsen-Anhalt: Landesamt für Geologie und Bergwesen
Nordrhein-Westfalen: Bezirksregierung Arnsberg
Niedersachsen: Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie.
Rheinisches Revier
Im Rheinischen Revier befinden sich drei Tagebaue – Inden, Garzweiler und Hambach. Die
Fördermengen in 2017 betrugen zwischen 20 Mio. t (Inden) und 39 Mio. t (Hambach). In Summe
schwankte die gesamte jährliche Fördermenge im Rheinischen Revier in den letzten Jahren zwischen
90 und 100 Mio. t.
98
Während die Tagebaue Garzweiler und Hambach die Kraftwerke Neurath,
Frimmersdorf und Niederaußem beliefern, versorgt der Tagebau Inden das Kraftwerk Weisweiler mit
Braunkohle. Durch den sukzessiven Übergang einiger Kraftwerke in die Sicherheitsbereitschaft (vgl.
oben) im rheinischen Revier kommt es bis 2020 zu einer Reduktion der jährlichen Braunkohleförder-
und -verstromungsmenge.
Hinsichtlich der (landes-)planerischen und bergrechtlichen Zulassungsverfahren für die drei Tagebaue
stellt sich die Situation wie folgt dar:
Leitentscheidungen: In der Vergangenheit hat die nordrhein-westfälische
Landesregierung 1987 (Erweiterung des Tagebaus Inden I um den Anschlusstagebau
Inden II) und 1991 (Erweiterung des Tagebaus Garzweiler I um den Anschlusstagebau
Garzweiler II) Leitentscheidungen erarbeitet. 2016 erging die letzte Leitentscheidung. Als
97
Öko-Institut (2017): Die deutsche Braunkohlenwirtschaft. Historische Entwicklungen, Ressourcen, Technik,
wirtschaftliche Strukturen und Umweltauswirkungen.
98
Statistik der Kohlenwirtschaft (2018): Braunkohlenförderung nach Revieren.
50
Auslöser nannte die Landesregierung die erheblichen Änderungen der energiepolitischen
und energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Konkret erfolgte für Garzweiler II eine
Überarbeitung der bisherigen Leitentscheidung von 1991 und der Braunkohleplanung.
Dadurch wurde der Tagebau Garzweiler um die Ortslage Holzweiler verkleinert. Die Folge
war eine Reduktion der möglichen Abbaumenge um ca. 400 Mio. t. Die Abbaugrenzen
der anderen beiden Tagebaue (Inden und Hambach) blieben unverändert.
Braunkohlenpläne: Für alle drei Tagebaue sind die Braunkohlenpläne aufgestellt und
genehmigt. Wegen der Verkleinerung des Tagebaus Garzweiler II muss der
Braunkohlenplan Garzweiler II noch angepasst werden. Zuständig hierfür ist der
Braunkohlenausschuss bei der Bezirksregierung Köln.
Rahmenbetriebsplan- und Hauptbetriebsplanzulassungen: Für alle drei Tagebaue liegen
in Bezug auf den Abbau vollziehbare Hauptbetriebsplanzulassungen vor. Zu der für den
Tagebau Hambach erteilten aktuellen Hauptbetriebsplanzulassung für den Zeitraum 2018
bis 2020 und zur 3. Rahmenbetriebsplanzulassung sind gerichtliche Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Köln bzw. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
anhängig. Aufgrund eines Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom 05.10.2018 ist
im Geltungsbereich des aktuellen Hauptbetriebsplans die Inanspruchnahme von
bewaldeten Flächen des Hambacher Forsts derzeit nicht zulässig (Stand 10.10.2018).
Rahmenbetriebsplanzulassungen (RBP):
Tagebau Inden: Zulassung mit Änderungsantrag 2012 unbefristet bis zur Auskohlung
erteilt.
Tagebau Garzweiler: Zulassung komplett erteilt 1997 bis Ende 2045 (wird aber
anzupassen sein nach Änderung des Braunkohlenplans wegen Leitentscheidung aus dem
Jahr 2016); so ist im Rahmen der Leitentscheidung keine zeitliche Eingrenzung für den
Tagebau Garzweiler vorgesehen, sondern nur eine räumliche Verkleinerung.
Tagebau Hambach: Zulassung 2. RBP erteilt 1995 bis Ende 2020 (2014 Zulassung 3. RBP
2020 bis Ende 2030; Beantragung und Zulassung 4. RBP muss noch erfolgen).
In Garzweiler sind noch 1.600 Umsiedlungen in der Umsetzung (Keyenberg, Unterwestrich,
Oberwestrich, Kuckum und Beverath). Am Tagebau Hambach sind noch ca. 600 Umsiedlungen in der
Umsetzung (Manheim, Morschenich).
Die vorgesehene Auskohlung der Tagebaue stellt sich derzeit wie folgt dar:
Tagebau Inden um 2030.
Tagebaue Garzweiler und Hambach bis Mitte dieses Jahrhunderts.
Durch die Leitentscheidung 2016 (s.o.) reduziert sich die gewinnbare Braunkohlemenge
im Tagebau Garzweiler II um rd. 400 Mio. t auf ca. 2,3 Mrd. t für die drei Tagebaue
insgesamt.
51
Abbildung 18, Rheinisches Revier (Quelle: DEBRIV/RWE Power
99
)
Lausitzer Revier
Im Lausitzer Revier betreibt die Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG) vier Tagebaue (vgl. Abbildung 19).
Im brandenburgischen Teil des Reviers befinden sich die Tagebaue Jänschwalde und Welzow-Süd, im
sächsischen Teil die Tagebaue Nochten und Reichwalde. Diese Tagebaue versorgen hauptsächlich die
Kraftwerke Jänschwalde, Schwarze Pumpe und Boxberg. Der Tagebau Cottbus-Nord wurde Ende
2015 stillgelegt und wird derzeit rekultiviert.
99
DEBRIV (2018): Revierkarte Rheinland. Stand 01/2016. Hinweis: Die Leitentscheidung 2016 ist in der
Darstellung noch nicht berücksichtigt.
52
Abbildung 19, Lausitzer Revier (Quelle: DEBRIV
100
)
Im März 2017 stellte die LEAG ihr Revierkonzept für die Lausitz vor. Mit ihm wurde in Abstimmung
mit den Bundesländern Brandenburg und Sachsen die Voraussetzung für Planbarkeit in der Region
geschaffen. Es bildet die Grundlagen für die unternehmerische Tätigkeit der LEAG in Bezug auf die
Kraftwerke und Tagebaue in der Lausitz sowie den Kraftwerksstandort Lippendorf in den
kommenden drei Jahrzehnten. Das Revierkonzept befindet sich im planungs- und
genehmigungsrechtlichen Verfahren und in der Umsetzung. Das Revierkonzept sieht eine
Gesamtfördermenge von bis zu 1,2 Mrd. t vor und somit eine Verringerung gegenüber der vorherigen
Planung aus dem Jahr 2015 in Höhe von 850 Mio. t. Die im Einzelnen geplanten Fördermengen sind
wie folgt:
101
100
DEBRIV (2018): Revierkarte Lausitz. Stand 08/2017.
101
LEAG (2018): Unterlagen zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am
29. August 2018.
53
Abbildung 20, Braunkohlemengen im Lausitzer Revier (Quelle: LEAG
102
)
Abbaufelder
(alle in Mio. t)
Ursprüngliches
Konzept
Stand 01.01.2015
Revierkonzept Stand
01.01.2017
Abbaureduktion
Genehmigte Abbaufelder
Jänschwalde
81,7
68
Cottbus-Nord
1,8
-
Welzow-Süd
286,5
254
Nochten
279,1
223
Reichwalde
332,1
331
Weiterführungen
Welzow-Süd, Teilabschnitt II
204
204*
-160
Nochten, Abbaugebiet 2
310
150**
Zukunftsfelder
Jänschwalde-Nord
250
-
-250
Spremberg-Ost
220
-
-220
Bagenz-Ost
220
-
-220
Summe Abbaureduktion durch Revierkonzept
-850
*
* Entscheidung für den Teilabschnitt II des Tagebaus Welzow-Süd trifft die
LEAG spätestens im Jahr 2020.
** ** Teilfeld Mühlrose
Bereits genehmigte Abbaufelder stehen im brandenburgischen Teil der Lausitz noch in den
Tagebauen Jänschwalde und Welzow-Süd zur Verfügung. Der Tagebau Jänschwalde soll bis
voraussichtlich 2023 planmäßig zu Ende geführt werden. Das Kraftwerk Jänschwalde soll
anschließend noch für einen Zeitraum von 10 Jahren mit Kohle aus dem Süden des Reviers betrieben
werden. Entsprechend der obigen Abbildung sollen die noch 2015 vorgesehenen Zukunftsfelder
(Tagebaue Bagenz-Ost, Spremberg-Ost, Jänschwalde-Nord) nicht mehr in Anspruch genommen
werden. Die Entscheidung über den Teilabschnitt II des Tagebaus Welzow-Süd trifft die LEAG bis
spätestens 2020.
Zum Tagebau Nochten zählt das Sonderfeld Mühlrose. Hier soll im Anschluss der planmäßigen
Fortführung des Abbaugebiets 1 in Nochten das Teilfeld Mühlrose (Abbaugebiet 2) gewonnen
werden. Der Tagebau Reichwalde soll entsprechend der genehmigten Planungen weitergeführt
werden. Für den Teilabschnitt II des Tagebaus Welzow Süd (800 Umsiedlungen, zum Beispiel in
Proschim) und das Sonderfeld Mühlrose des Tagebaus Nochten II (200 Umsiedlungen) wurde noch
kein Rahmenbetriebsplan zugelassen.
Mitteldeutsches Revier
Im Mitteldeutschen Revier befinden sich die Tagebaue Profen in Sachsen-Anhalt und Sachsen und
Vereinigtes Schleenhain in Sachsen. Betreiber beider Tagebaue ist die MIBRAG.
102
LEAG (2018): Unterlagen zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am
29. August 2018.
54
Der Tagebau Profen versorgt hauptsächlich das Kraftwerk Schkopau (Betreiber: Uniper Kraftwerke
GmbH) sowie kleinere Industrie- und Heizkraftwerke. Der Tagebau Schleenhain versorgt über eine
Bandanlage das Kraftwerk Lippendorf (Betreiber: LEAG). Daneben betreibt die ROMONTA Bergwerks
Holding AG, der weltweit größte Erzeuger von Rohmontanwachs, ihren eigenen Tagebau Amsdorf.
Abbildung 21, Mitteldeutsches Revier (Quelle: DEBRIV
103
)
Der Tagebau Vereinigtes Schleenhain besteht aus drei Teilfeldern, dem Abbaufeld Schleenhain, dem
Abbaufeld Peres und dem Abbaufeld Groitzscher Dreieck. Dort sind insgesamt noch 228 Mio. t
Braunkohle vorrätig (Stand Ende 2017)
104
, im Jahr 2017 wurden 10,6 Mio. t Kohle gefördert.
105
Der seit März 1999 verbindliche Braunkohlenplan für den Tagebau Vereinigtes Schleenhain wurde im
November 2003 durch das Sächsische Oberverwaltungsgericht aus formellen Gründen für nichtig
erklärt. Im Dezember 2003 wurde mit dem Verfahren zur Neuaufstellung des Braunkohlenplanes
Schleenhain begonnen. Dieser ist seit August 2011 verbindlich.
Sowohl der Landesentwicklungsplan als auch der Braunkohlenplan verfolgen das Ziel der
planerischen Sicherung der Vollversorgung des KW Lippendorf mit Rohbraunkohle bis ca. 2040. Auch
hat MIBRAG erklärt, Braunkohle im Tagebau Vereinigtes Schleenhain bis Anfang der 2040er Jahre
fördern zu wollen.
106
2014 wurde in Peres der erste Abraum bewegt, im Dezember 2016 lieferte
MIBRAG die erste Kohle aus Peres an das Kraftwerk Lippendorf.
107
Als letztes Abbaufeld wird im
103
DEBRIV (2018): Revierkarte Mitteldeutschland. Stand 08/2017.
104
Rendez, Helmar (2018): Perspektiven der deutschen Braunkohlenindustrie 2018. Präsentation zum
Braunkohlentag 2018 Halle, S. 5. Abrufbar unter
105
Statistik der Kohlenwirtschaft (2018): Braunkohlenförderung nach Tagebauen.
106
„Ziel von MIBRAG ist es, die Lagerstätten im Rahmen des Teilgebietsentwicklungsplans (Sachsen-Anhalt)
bzw. des Braunkohleplans (Sachsen) und der zugelassene Rahmenbetriebspläne im Tagebau Profen bis Mitte
der 2303er Jahre und im Tagebau Schleenhain bis Anfang der 2040er Jahre auszuschöpfen“ (MIBRAG (2018):
Unterlagen zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ am 29. August 2018).
107
DEBRIV (2018): Mitteldeutsches Braunkohlenrevier 1990 – 2017. Abrufbar unter
55
Groitzscher Dreieck Kohle gefördert werden. Für die Inanspruchnahme der Ortschaften Obertitz und
Pödelwitz liegt noch kein zugelassener Rahmenbetriebsplan vor.
Der Tagebau Profen erstreckt sich über die Abbaufelder Profen-Süd, Schwerzau und Domsen. Der
Braunkohlevorrat betrug Ende 2017 etwa 124 Mio. t
108
, im Jahr 2017 wurden dort 7,8 Mio. t Kohle
gefördert.
109
Der Tagebau Profen ist mit dem öffentlichen Eisenbahnnetz verbunden.
Der Braunkohlenplan für den Tagebau Profen wurde im Jahr 2000 beschlossen (sächsischer Teil des
Tagebaus), das Teilgebietsentwicklungsprogramm (Sachsen-Anhalt) im Jahr 1996. Nach Angaben der
MIBRAG soll Profen-Süd bis 2020 ausgekohlt sein. Das Abbaufeld Schwerzau wurde 2004
aufgeschlossen.
110
Derzeit und künftig konzentriert sich der Abbau im Tagebau Profen auf das Feld
Domsen. Ziel der MIBRAG ist es, im Tagebau Profen Braunkohle bis Mitte der 2030er Jahre zu
fördern.
111
Helmstedter Revier
Das Helmstedter Revier mit den ehemaligen Tagebauen Helmstedt/Wulfersdorf, Treue, Schöningen
und Alversdorf befindet sich in der Phase der bergbaulichen Wiedernutzbarmachung. Die letzte
Kohlegewinnnung im Helmstedter Revier fand im Jahr 2016 im ehemaligen Tagebau Schöningen
statt. Bis 2020 befindet sich das Kraftwerk Buschhaus in einer Sicherheitsbereitschaft, wofür Kohle
am Standort bevorratet wird bzw. bei Bedarf vom Tagebau Profen aus dem Mitteldeutschen Revier
beschafft werden kann.
Hinsichtlich der (landes-)planerischen und bergrechtlichen Zulassungsverfahren für die Tagebaue gibt
es weder Leitentscheidungen noch Braunkohlenpläne.
Bei den Rahmenbetriebsplan- und Hauptbetriebsplanzulassungen stellt sich die Situation wie folgt
dar:
Der Rahmenbetriebsplan für die Gestaltung der Oberfläche nach dem Abbau für die Tagebaue Treue,
Alversdorf, Viktoria, Helmstedt und Schöningen regelt die Grundsätze der Wiedernutzbar-
machung/Rekultivierung für die seinerzeit noch nicht rekultivierten Tagebaue hinsichtlich der
Flächenanteile für eine land- und forstwirtschaftliche Wiedernutzbarmachung, Flächen für den
Naturschutz einschließlich Biotopvernetzungen sowie die Flächen für die verbleibenden Gewässer in
den Tagebaurestlöchern (Helmstedt/Wulfersdorf, Schöningen Baufeld Süd, gegebenenfalls Restloch
Ascheeinspülung ehemaligen Tagebau Treue).
Die Abschlussbetriebspläne gliedern sich grundsätzlich in einen Teil 1 (Gestaltung der Topographie)
und einen Teil 2 (Oberflächenentwässerung und landschaftspflegerische Festlegungen). Der
Rahmenbetriebsplan und dessen Zulassung hat insofern für das Helmstedter Revier den Charakter
eines „Braunkohlenplans“ vergleichbar dem Rheinischen Revier und den Revieren in den
ostdeutschen Bundesländern.
108
Rendez, Helmar (2018): Perspektiven der deutschen Braunkohlenindustrie 2018. Präsentation zum
Braunkohlentag 2018 Halle, S. 5. Abrufbar unter
109
Statistik der Kohlenwirtschaft (2018): Braunkohlenförderung nach Tagebauen.
110
DEBRIV (2018): Mitteldeutsches Braunkohlenrevier 1990 – 2017. Abrufbar unter
111
MIBRAG (2018): Unterlagen zur Sitzung der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“
am 29. August 2018.
56
Für die ehemaligen Tagebaue Schöningen und Helmstedt/Wulfersdorf sind noch die
Abschlussbetriebspläne vorzulegen bzw. bergrechtliche Planfeststellungsverfahren für die in den
ehemaligen Tagebauen Helmstedt/Wulfersdorf und Schöningen Baufeld Süd entstehenden Gewässer
durchzuführen.
Abbildung 22, Helmstedter Revier (Quelle: DEBRIV
112
)
112
DEBRIV (2018): Revierkarte Helmstedt. Stand 08/2017.
57
Nach derzeitiger Planung wird sich folgender Endzustand der Wiedernutzbarmachung im
Helmstedter Revier ergeben:
Fläche
ha
%
Wasser
700
26
Landwirtschaft
800
30
Forst/Biotope
1.050
39
Sonstiges
150
5
3.3.
Ausgangslage Wachstum, Beschäftigung und Innovationspotenziale
Deutschland zeichnet sich durch eine stabile gesamtwirtschaftliche Ausgangslage aus. So stellte das
Bundeswirtschaftsministerium vor kurzem fest: „Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem
stetigen und breit angelegten Aufschwung mit einem soliden binnenwirtschaftlichen Fundament. Die
Kapazitäten sind gut ausgelastet, die Beschäftigung ist auf Rekordniveau und die Verbraucherpreise
sind stabil.“
113
Seit dem Ende der Finanzkrise befindet sich Deutschland in einem Wirtschaftsaufschwung. In den
vergangenen Jahren verzeichnete Deutschland ein stetiges und anhaltendes Wirtschaftswachstum
von zuletzt 2,2 % im Jahr 2017.
114
Allerdings trübt sich das weltwirtschaftliche Klima derzeit ein, u.a. wegen der sich verschärfenden
weltweiten Handelskonflikte. Dies beeinträchtigt die deutsche Konjunkturentwicklung. Laut
Statistischem Bundesamt betrug das Wachstum im Jahr 2018 nur noch 1,5 %.
115
Die Bundesregierung
hat ihre Wachstumsprognose für das Jahr 2019 von 2,1 % auf 1,8 % gesenkt.
116
Getragen vom Wirtschaftswachstum hat sich auch die Lage am Arbeitsmarkt positiv entwickelt.
Bundesweit sank die Arbeitslosenquote in den letzten Jahren und lag im Durchschnitt des Jahres
2017 bei 5,7 %.
117
Aktuell (Dezember 2018) beträgt sie 4,9 %. Bei zugleich verhaltener
demographischer Entwicklung wächst in einigen Branchen und Regionen die Zahl der unbesetzten
Stellen, zumeist verbunden mit einem Mangel an qualifizierten Fachkräften.
Dieser Fachkräftemangel wird immer mehr zu einem Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung.
118
Weitere Probleme des Standorts Deutschland sind Investitionsschwächen und langwierige Planungs-
und Genehmigungsverfahren.
Bedeutung der Industrie für Wachstum und Wohlstand
In der Bundesrepublik erwirtschaftet die Industrie fast ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes – mehr
als in den meisten anderen Ländern. Der industrielle Kern bildet dabei den Ausgangspunkt für die
enge Verflechtung von Produzenten, Zulieferern und Dienstleistern und ist eine wichtige
113
Herbstprojektion der Bundesregierung von Oktober 2018.
114
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Jahreswirtschaftsbericht 2018.
115
Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 15.01.2019, abgerufen unter:
116
Herbstprojektion der Bundesregierung von Oktober 2018.
117
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Jahreswirtschaftsbericht 2018. Ebenda.
118
DIHK-Konjunkturumfrage Herbst 2018.
58
Voraussetzung für Innovation, Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Deutschland hat die
Herausforderungen der Finanzkrise 2008 auch deshalb besser als andere Länder gestemmt, weil es
einen im internationalen Vergleich der OECD-Staaten hohen Industrialisierungsgrad hat. Der Beitrag
der Industrie zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in Deutschland lag 2017 bei 22,9 %.
119
Ein zentraler Standortfaktor für die deutsche Industrie ist das Vorhandensein vollständiger
industrieller Wertschöpfungsketten. Das Fundament dieser Wertschöpfungsketten bilden die
energieintensiven Industrien, die die Grund- und Werkstoffe herstellen, auf denen die weiteren
Fertigungsprozesse aufbauen. Sie stehen in einem internationalen Wettbewerb und sind daher in
besonderem Maße abhängig von einer wettbewerbsfähigen, preisgünstigen und sicheren
Energieversorgung.
Entwicklung energieintensiver Industrien
Trotz positiver wirtschaftlicher Entwicklung muss festgehalten werden, dass Deutschland zumindest
in den energieintensiven Branchen vor besonderen Herausforderungen steht und teilweise von der
Substanz lebt. Hintergrund dieser Entwicklung ist, dass private Investitionen generell am Standort
Deutschland nur zurückhaltend getätigt werden.
120
Exemplarisch dafür stehen die nominalen
Nettoanlageinvestitionen der energieintensiven Branchen – das sind die Bruttoanlageinvestitionen
abzüglich der Abschreibungen. Diese sind im Schnitt der vergangenen Jahre (2000 bis 2014) deutlich
negativ. Nur in den Jahren 2000 und 2008 hatten diese Branchen positive Nettoinvestitionen.
121
Auch der Strukturwandel der energieintensiven Industriebranchen, die als Hersteller von
Grundstoffen vielfach Ausgangspunkt langer industrieller Wertschöpfungsketten sind, hat bereits
begonnen. Einer schleichenden De-Industrialisierung muss entgegengewirkt werden. Weitere
Kostensteigerungen durch die Abschaltung von Kohlekraftwerken drohen diesen Prozess zu
beschleunigen.
Gerade aufgrund der engen Verknüpfung mit der Grundstoffindustrie drohen in den betroffenen
Regionen erhebliche negative Effekte durch Strukturbrüche, wenn es nicht gelingt, die bestehenden
Wertschöpfungsketten und Industrieverbunde zwischen Energie und Industrie zu erhalten. Wie oben
aufgezeigt, ist das reale Nettoanlagevermögen in allen energieintensiven Sektoren (Papier-, Chemie-,
Baustoffindustrie, Zuckerindustrie und Metallerzeugung) fast durchgängig jedes Jahr gesunken. Die
Gesamtindustrie verzeichnet hingegen ein kleines Plus. Der Rückgang ist umso gravierender, da auch
die aktivierten Ausgaben für Forschung und Entwicklung der jeweiligen Branchen umfasst sind.
122
Innovationspotenziale
Der größte Anteil der Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung wird in Deutschland durch die
Industrie bereitgestellt.
123
Dadurch entwickelt sie innovative Technologien, effiziente Verfahren und
markiert die Basis von Wertschöpfungsketten. Sie trägt damit auch zur Lösung von
Umweltproblemen und zum nachhaltigen Umgang mit Ressourcen bei. Ihre gute Marktstellung und
umfassende Kompetenz prädestinierten deutsche Unternehmen als Entwickler, Anbieter und
Leitanwender von neuen Technologien wie der Sektorkopplung, der zirkulären Wirtschaft,
119
Vergleiche auch Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2016: Unsere Industrie: Intelligent.
Innovativ. International. Zahlen für 2017 aktualisiert.
120
Fratzscher-Kommission 2015: Stärkung von Investitionen in Deutschland.
121
Statistisches Bundesamt 2017, Energieintensive Branchen: Papier, Chemie, Glas/Keramik, sowie
Metallerzeugung und -bearbeitung.
122
IW 2017: Energiepolitische Unsicherheit verzögert Investitionen in Deutschland. IW policy paper 13/2017.
123
Stifterverband 2016: Wissenschaftsstatistik des Stifterverbandes, Forschung und Entwicklung in der
Wirtschaft.
59
nachhaltiger Mobilität, nachhaltiger, digitalisierter Wertschöpfungssysteme und Industrie 4.0. Sie
benötigen für die Umsetzung allerdings langfristig stabile und berechenbare Rahmenbedingungen,
vor allem Planungs- und Investitionssicherheit.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft, sowohl mit
Hochschulen, universitären wie außer-universitären Forschungseinrichtungen. In dieser Art
investierte Mittel induzieren Innovation und leisten einen erheblichen Beitrag zur Steigerung des
Bruttoinlandsproduktes.
124
Regionale Wirtschaftsentwicklung
Die positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass erhebliche
regionale Unterschiede beim Wirtschaftswachstum bestehen. So ist das Wachstum der
Bundesländer, in denen sich die Braunkohlereviere befinden, seit 2010 meist unterdurchschnittlich
im Vergleich zum nationalen Durchschnitt, was auch den Strukturwandel in den von der Beendigung
der Kohleverstromung betroffenen Regionen in diesen Ländern erschwert. In Nordrhein-Westfalen
lag das Wirtschaftswachstum sogar in allen Jahren seit 2010 unter dem deutschen Durchschnitt.
125
Es bestehen weiterhin deutliche Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb
Deutschlands. Seit 1990 befinden sich die ostdeutschen Länder flächendeckend in einem
wirtschaftlichen Strukturentwicklungsprozess mit dem Ziel, hinsichtlich der Wirtschaftskraft an das
westdeutsche Niveau aufzuschließen. So erreichte die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland im Jahr
2017 nur 73,2% des westdeutschen Niveaus.
126
Auch andere ökonomische Größen wie Kaufkraft,
Bruttowertschöpfung, Forschungs- und Entwicklungstätigkeit der Privatwirtschaft,
Exportorientierung, Unternehmensgrößen oder Lohnniveau weisen auf einen nach wie vor
bestehenden Nachholbedarf hin.
127
Der aktuelle Deutschland Report der Prognos AG bestätigt diesen Trend und prognostiziert, dass die
Wirtschaftskraft bis 2045 auf zwei Drittel des Durchschnitts der westdeutschen Bundesländer absinkt
– auf das Niveau zur Jahrtausendwende.
128
Insbesondere eine ungünstige demographische
Entwicklung der ostdeutschen Flächenländer sowie die dort relativ geringen privaten FuE-Aktivitäten
belasten die wirtschaftliche Entwicklung.
Zudem befinden sich die Standorte der Kohleindustrie überwiegend in Regionen, die bereits in der
Vergangenheit teilweise tiefgreifende Strukturwandelprozesse durchlaufen haben. Vor dem
Hintergrund dieser Ausgangslage werden die Überlegungen in der Kommission daher von der
Auffassung getragen, dass erneute Strukturbrüche sowie soziale und demographische Verwerfungen
für die Menschen in allen Revieren dringend zu vermeiden sind und Wertschöpfungsketten vor Ort
erhalten bleiben müssen.
124
So induziert zum Beispiel die Zusammenarbeit von Unternehmen mit Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft
einen Anstieg des Umsatzwachstums von 21% sowie des Produktivitätswachstums von 11%. Aus
makroökonomischer Sicht führt jeder Euro an Auftragsforschung an die Fraunhofer Institute zu einer
Steigerung des BIP von bis zu 18 Euro. Siehe auch Comin et al. 2018: Do Companies Benefit from Public
Research Organizations? The Impact of the Fraunhofer Society in Germany; Studie des CIRCLE - Center for
Innovation, Research and Competences in the Learning Economy, Universität Lund.
125
Vergleiche beispielsweise die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder
bw.de/VGRdL/). Eine Ausnahme bildet hier Niedersachsen (Helmstedter Revier). Dort lag das
Wirtschaftswachstum seit 2010 zumeist über dem Bundesdurchschnitt.
126
Bundesregierung 2018: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018.
127
Fehlende große Unternehmenszentralen wirken sich dabei ganz unmittelbar auf die eigenständige
Leistungsfähigkeit der Kommunen aus.
128
Prognos (2018).
60
3.4.
Strukturpolitische Ausgangslage
Wirtschaftsstruktur in den Revieren und Wertschöpfung
Die Wirtschaftskraft der betroffenen Regionen wird maßgeblich durch die Wettbewerbsfähigkeit des
Standortes Deutschland insgesamt beeinflusst. Strukturpolitik kann sich nur in einem
wachstumsfreundlichen Umfeld vollumfänglich und erfolgreich entfalten.
Die heute in den Revieren vorherrschenden Sektoren- und Branchenstrukturen sind maßgeblich
dafür, wie groß die Herausforderungen des Strukturwandels sein werden. Sie stehen gleichzeitig für
die wirtschaftlichen Chancen, die aus den jeweiligen Stärken der Reviere entstehen können.
Die Wirtschaftsstruktur der Reviere ist nicht einheitlich. Gemeinsam ist ihnen aber, dass die
Braunkohlewirtschaft in drei der vier Reviere – dem Lausitzer, dem Mitteldeutschen und dem
Rheinischen Revier – eine herausgehobene Rolle spielt.
Der Industrialisierungsgrad ist in diesen drei Revieren eher schwächer ausgeprägt als im Rest
Deutschlands. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Vorleistungsgüter im Rheinischen Revier (z. B.
chemische Industrie und andere energieintensive Industrien).
Neben der energetischen Nutzung der Braunkohle sind verschiedene Industriezweige in den Revieren
derzeit von der stofflichen Nutzung der Braunkohle abhängig. Dies betrifft vor allem die
Rohstoffversorgung bei der Gips-Produktion. Ca. 55 % der heutigen Gipsrohstoffe werden aus der
Rauchgasentschwefelung von Kohlekraftwerken (REA-Gips) gewonnen.
129
Im Dienstleistungssektor weisen die Reviere jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen auf.
Gemeinsam ist allen Revieren aber eine geringere Bedeutung der höher entlohnten Finanz- und
Versicherungsdienstleistungen sowie der Dienstleistungen rund um Information und Kom-
munikation.
130
Beschäftigungssituation in den Revieren
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat sich intensiv und wiederholt
mit der Arbeitsmarktlage in den Revieren befasst. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen
insbesondere die Arbeitslosigkeit, die Verfügbarkeit von Fachkräften und die Rolle der
Braunkohlewirtschaft als regionaler Arbeitgeber.
Positiv ist, dass vor dem Hintergrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre, aber
gerade auch aufgrund des mit der Alterung einhergehenden deutlichen Rückgangs des
Erwerbspersonenpotenzials in den ostdeutschen Revieren, die Arbeitslosigkeit in den
Braunkohlerevieren deutlich zurückgegangen ist. Dabei stellt das rückläufige
Erwerbspersonenpotenzial gleichzeitig ein Wachstumshemmnis dar. Die Aussagekraft der
Arbeitslosenquote ist vor diesem Hintergrund begrenzt.
Die Braunkohlewirtschaft hat eine herausgehobene Rolle als Arbeitgeber in den Revieren. So sind im
Lausitzer Revier im Wirtschaftszweig „Bergbau, Energie- und Wasserversorgung, Energiewirtschaft“,
zu welchem die Braunkohlewirtschaft gezählt wird, gegenüber dem Bundesdurchschnitt mehr als
doppelt so viele Menschen beschäftigt. Aktuell gibt es in allen vier Revieren zusammen rd. 20.000
129
Wagner, Thomas (2018): Gips-Rohstoffsicherung in Zeiten der Energiewende. Unterlage zur Fahrt der
Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ in das Lausitzer Revier am 11. Oktober 2018.
130
Siehe RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung 2018a: Erarbeitung aktueller vergleichender
Strukturdaten für die deutschen Braunkohleregionen; Projektbericht für das Bundesministerium für Wirtschaft
und Energie.
61
direkt Beschäftigte.
131
Überwiegend handelt es sich dabei um Arbeitsplätze mit hohem
Qualifikationsniveau. Die Entlohnung ist in Relation zu den weiteren Beschäftigten in der Region
sowie zu den meisten anderen Branchen deutlich überdurchschnittlich.
Der Anteil der im Braunkohlesektor direkt Beschäftigten an den insgesamt
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt im Lausitzer Revier bei ca. 2,0 % und im Rheinischen
Revier bei 1,2 %. In den beiden anderen Revieren lag der Anteil mit 0,3 % (Mitteldeutsches Revier)
bzw. 0,1 % (Helmstedter Revier) deutlich niedriger.
132
Aufgrund der Verbindungen zur Vorleistungs-, Konsum- und Investitionsgüterindustrie sowie
weiterer Kaufkrafteffekte geht die Kommission davon aus, dass von jedem direkten Arbeitsplatz in
der Braunkohlewirtschaft je ein weiterer indirekter oder induzierter Arbeitsplatz direkt im Revier und
ein weiterer außerhalb der engeren geographischen Abgrenzung abhängt. Insgesamt ist daher von
rd. 60.000 Arbeitsplätzen auszugehen, die im Zusammenhang mit der Braunkohlewirtschaft stehen.
Die Fachkräftesituation in den Revieren ist ambivalent. Die Zahl der MINT-Angestellten, d.h. die Zahl
derjenigen, die in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik
beschäftigt sind, liegt in den Revieren meist im bundesdeutschen Durchschnitt oder sogar darüber.
133
Hierzu trägt insbesondere die Energiewirtschaft mit ihrem relativ hohen Anteil an Ingenieuren und
Naturwissenschaftlern bei.
Der Kommission ist bewusst, dass insbesondere im Lausitzer Revier und zum Teil im Mitteldeutschen
Revier viele dieser MINT-Beschäftigten in den nächsten Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden
werden. Die Unternehmen der Braunkohlewirtschaft haben in ihrer Anhörung durch die Kommission
klar zum Ausdruck gebracht, dass freiwerdende Stellen in ihren Unternehmen kontinuierlich
nachbesetzt werden müssen, um den laufenden Betrieb aufrecht zu erhalten. Unter anderem aus
diesem Grund investieren die Unternehmen der Braunkohlewirtschaft auch erheblich in die
Ausbildung. Sie sind somit ein wichtiger Anker für junge Menschen, die in den Revieren eine
Ausbildungsstelle suchen, und spielen eine wichtige Rolle für die Bereitstellung überbetrieblicher
Einrichtungen des dualen Systems. In der Aufrechterhaltung des Stamms an Facharbeitern in der
Region (vorhandenes Personal, Weiterführung der Ausbildung ggf. bereits heute mit neuen
Schwerpunkten) liegt angesichts des deutschlandweiten Fachkräftemangels ein kaum zu
unterschätzender Standortvorteil.
Die Kommission hat in den Anhörungen zur Kenntnis genommen, dass die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in allen Revieren in den vergangenen Jahren gestiegen ist
und neue Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Braunkohlewirtschaft entstanden sind. Ein
hohes Beschäftigungswachstum ist vor allem im Dienstleistungsbereich zu beobachten. Aber auch in
bestimmten Bereichen des Verarbeitenden Gewerbes steigt die Zahl der Beschäftigten in den
Revieren.
131
Nach den letzten veröffentlichen Zahlen der Statistik der Kohlewirtschaft e.V. waren zum Ende des ersten
Halbjahres 2018 exakt 20.751 Menschen in der Braunkohlewirtschaft beschäftigt. Hierzu gehören 991
Auszubildende. Hinzugerechnet werden hier auch die Beschäftigten der Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-
Verwaltungsgesellschaft mbH (LMBV). Diese Mitarbeiter sind vor allem mit Arbeiten der Rekultivierung
ehemaliger Braunkohlegebiete befasst. Aktuell arbeiten rd. 730 Mitarbeiter und Auszubildende bei der LMBV.
Zur Beschäftigungssituation in der Braunkohlewirtschaft hat die Kommission die Braunkohleunternehmen
selber angehört sowie das RWI-Leibniz-Institut mit einer Abschätzung beauftragt (Anhörung der vier
Braunkohleunternehmen LEAG, MIBRAG und RWE am 29.08.2018 sowie RWI 2018a. Die vom RWI ermittelten
Zahlen basieren ebenfalls auf Angaben Statistik der Kohlewirtschaft e.V.
132
RWI 2018a.
133
Die einzige Ausnahme hier ist das Mitteldeutsche Revier.
62
Beitrag zum Steueraufkommen
Eine weitere wichtige Größe für die Abschätzung der strukturpolitischen Ausgangslage ist der Anteil
des Braunkohlesektors zum Steueraufkommen. Hierfür stützt sich die Kommission auf eine
unabhängige wissenschaftliche Erhebung.
134
Der Anteil des Braunkohlesektors am Einkommensteueraufkommen bestätigt die grundlegenden
Befunde zur regionalwirtschaftlichen Bedeutung der Braunkohle. Der Anteil am gesamten
Einkommensteueraufkommen in den Revieren liegt bei 0,7 % (Mitteldeutsches Revier), 2,0 %
(Rheinisches Revier) bzw. 4,6 % (Lausitzer Revier). Neben dem direkt den Kommunen zufließenden
Anteil (15 %) muss der Landesanteil am Einkommensteueraufkommen berücksichtigt werden
(42,5 %), da über den Landeshaushalt ebenfalls Investitions‐ und Fördermaßnahmen in der Region
finanziert werden.
Die Kommission hat zur Kenntnis genommen, dass sich mit Blick auf das Gewerbesteueraufkommen in
den verschiedenen Revieren ein unterschiedliches Bild ergibt. Eine besonders herausfordernde
Situation ergibt sich hier mit Blick auf das Lausitzer Braunkohlerevier, in dem die Kommunen mit
erheblichen Steuerrückforderungen des vormaligen Eigentümers Vattenfall konfrontiert sind.
Die teilweise komplizierte Situation der Kommunen im Bereich des Steueraufkommens bedarf nach
Auffassung der Kommission einer besonderen Aufmerksamkeit. Auch die begrenzte Möglichkeit zur
Inanspruchnahme von Fördermitteln bei geringer oder nicht vorhandener Eigenfinanzierungskraft
erweist sich bereits heute als Risikofaktor für eine gelungene Strukturentwicklung.
Innovationskraft der Reviere
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat außerdem die Innovationskraft
der Reviere betrachtet. Hierbei handelt es sich um einen wichtigen Treiber für die zukünftige
wirtschaftliche Entwicklung einer Region. Die Innovationskraft wird üblicherweise geschätzt anhand
von indirekten Größen, wie z. B. der Zahl der Patentanmeldungen oder der Beschäftigten in
Forschung und Entwicklung (FuE-Beschäftigte).
Wie bei vielen anderen Indikatoren zeigen sich auch hier deutliche Unterschiede zwischen den
Revieren. So liegt das Helmstedter Revier nach den üblichen Kennziffern deutlich über dem
Bundesdurchschnitt. Das Rheinische Revier liegt leicht darunter. Besonders schwach ist die
Innovationskraft im Lausitzer Revier und im Mitteldeutschen Revier ausgeprägt. So beträgt
beispielsweise der Anteil der FuE-Beschäftigten an der Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten im Lausitzer und im Mitteldeutschen Revier nur ca. 0,33 %. Der Bundesdurchschnitt
liegt hier bei 1,32 %. Auch die Zahl der durchschnittlich angemeldeten Patente ist in den
ostdeutschen deutlich geringer als in den westdeutschen Revieren.
Dies liegt auch daran, dass die Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten hauptsächlich in den
Konzernzentralen durchgeführt werden und diese in Ostdeutschland kaum vorhanden sind. Die nach
der Wiedervereinigung privatisierten Unternehmen verzichteten vielfach aus Kostengründen auf
eigene FuE-Abteilungen und entwickelten sich zu „verlängerten Werkbänken“.
135
Die wenigen
Konzernzentralen in Ostdeutschland gehören traditionell zur (fossilen) Energiewirtschaft, zur
energieintensiven sowie zur optischen Industrie. Daher muss für die Steigerung der
134
RWI 2018b.
135
Blum, Ulrich, Ludwig, Udo, Lang, Cornelia, Marek, Phillip (2011): Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für
Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern. Institut für Wirtschaftsforschung Halle.
63
Innovationstätigkeit gerade in Ostdeutschland das endogene Potenzial berücksichtigt und mit neuen
Fördermechanismen unterstützt werden.
Auch bei der Gründungstätigkeit, einem weiteren Maßstab für die Innovationskraft, zeigt sich ein
deutliches Gefälle zwischen den Revieren. Im Rheinischen Revier liegt die Zahl der Gründungen pro
10.000 Erwerbsfähige nur knapp unter dem bundesweiten Durchschnitt, bei so genannten High-
Tech-Gründungen im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungssektor (z. B. neue Software-
Entwicklungen) verschwindet der Abstand sogar ganz. Hingegen finden im Mitteldeutschen Revier
und besonders im Lausitzer Revier wesentlich weniger Gründungen statt als im Rest der
Bundesrepublik. So liegt die Gründungstätigkeit im deutschlandweiten Vergleich im Lausitzer Revier
in vier der sieben Landkreise und kreisfreien Städte im unteren Viertel. Im Mitteldeutschen Revier
gilt dies flächendeckend mit Ausnahme von Leipzig.
136
Aus Sicht der Kommission sind die Gründe hierfür vielschichtig. Vor allem im Lausitzer Revier spielt
die kleinbetriebliche Struktur der Wirtschaft eine Rolle.
137
Auch die relativ geringe Dichte von
Universitäten und anderen öffentlichen Forschungseinrichtungen in den ostdeutschen im Vergleich
zu den westdeutschen Revieren könnte eine Ursache sein. Dazu passt, dass es dort, wo die
Bedingungen stimmen, auch innerhalb der Lausitz Städte wie Görlitz mit deutlich
überdurchschnittlicher Gründungstätigkeit gibt. Dies gilt auch für die Stadt Cottbus, welche mit der
BTU Cottbus-Senftenberg über eine tiefe und breit gefächerte Forschungsinfrastruktur verfügt.
Demografische Entwicklung der Reviere
Legt man die aktuellen Trends zugrunde, wird die demografische Entwicklung in den beiden
westdeutschen Revieren bis 2035 in etwa der von Deutschland insgesamt folgen. Dagegen schlägt
der demografische Wandel stärker auf das Mitteldeutsche Revier und besonders auf das Lausitzer
Revier durch. Innerhalb des Mitteldeutschen Revieres vollzieht sich der demografische Wandel sehr
differenziert mit wachsenden Metropolen (Leipzig und Halle) und weiter schrumpfenden ländlichen
Räumen bereits in unmittelbarer Nähe dieser Metropolen, insbesondere auch um die Tagebaue und
Kraftwerksstandorte. Es ist damit zu rechnen, dass in den nächsten beiden Jahrzehnten die Zahl der
Menschen, die in den beiden ostdeutschen Revieren leben, weiter schrumpfen wird. Gleichzeitig
findet eine deutliche Alterung der Gesellschaft statt. Die Kommission geht davon aus, dass bis 2035
der Anteil der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung in der Lausitz etwa 45 % betragen wird.
Zum Vergleich: In Gesamtdeutschland wird der Anteil dieser Gruppe in 2035 auf ca. 36 %
geschätzt.
138
Da insbesondere die Gruppe der 20-60jährigen besonders aktiv am Arbeitsleben teilnimmt,
erschwert der demografische Wandel die Strukturentwicklung im Mitteldeutschen und besonders im
Lausitzer Revier. Aus Sicht der Kommission ist daher entscheidend, vor allem junge Menschen zu
halten, zurück zu gewinnen oder neu für die Region zu begeistern. Erfolgsbestimmend hierfür ist eine
leistungsfähige Bildungsinfrastruktur mit guten Ausbildungschancen und -bedingungen im dualen wie
im akademischen Bereich sowie attraktive Zukunftsperspektiven in den Revieren, die aufzuzeigen
oder neu zu schaffen sind.
Kritische Auswirkungen des demografischen Wandels werden für den stark ländlich geprägten Raum
wie folgt gesehen: Alterung der Gesellschaft, fehlende Versorgung in kleineren Ortsteilen,
Ungleichgewicht bei der Verfügbarkeit von Mobilitäts-, Versorgungs-, Kultur- und Freizeitangeboten,
136
Vgl. Institut für Mittelstandsforschung: Regionales Gründungsgeschehen auf Basis des NUI-Indikators.
137
Vergleiche beispielsweise die Anhörung der Innovationsregion Lausitz GmbH am 18.09.2018.
138
Vergleiche auch RWI 2018a.
64
nicht ausreichend bedarfsorientierte Ausweisungen neuer Wohnbauflächen, Überkapazitäten im
Bereich der Versorgungsinfrastrukturen (Wasser, Abwasser, Wärme), Mangel an Möglichkeiten für
die Nachnutzung leerstehender Gebäude, Gefahr von sterbenden Dörfern, Identitätsverlust sozialer
Gefüge, Reduzierung auf Wohnstandorte, starke Pendlerbeziehungen, Gefahr einer Bevölkerungs-
Abwanderung sowie Zersiedelung
.
139
Lage und Siedlungsstruktur der Reviere
Aus Sicht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ sind die Lage und die
Siedlungsstruktur einer Region wichtige Rahmenbedingungen für deren wirtschaftliche Entwicklung.
In dünn besiedelten Regionen mit einer kleinteiligen Wirtschaftsstruktur stellt der Strukturwandel
grundsätzlich eine größere Herausforderung dar als für urban geprägte. Die Ursachen sind vielfältig:
Positive Wachstumsfaktoren wie die Anbindung an überregionale Märkte, ein breit gefächertes
Fachkräfteangebot, die Vernetzung prägender Unternehmen oder zum Beispiel eine internationale
Anbindung sind in diesen Regionen weniger stark ausgeprägt.
Die Reviere haben hier sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen. So sind die beiden ostdeutschen
Regionen flächenmäßig größer, weitestgehend ländlich geprägt und zum überwiegenden Teil
peripher gelegen. Dem gegenüber sind das Rheinische Revier und das Helmstedter Revier stark
eingebunden in die sie umgebenden Ballungsräume:
140
Lausitzer Revier
(sechs Kreise und die Stadt Cottbus): Alle Kreise der Region einschließlich
der Stadt Cottbus als Oberzentrum werden von den Gutachtern als ländlich klassifiziert.
Lediglich der nördliche Teil des Kreises Dahme-Spreewald profitiert von der Nähe zu Berlin.
Rheinisches Revier
(fünf Kreise, Städteregion Aachen, Stadt Mönchengladbach): Die
Braunkohletagebaue liegen, wie in den anderen Revieren auch, im ländlichen Raum. Die sie
umgebenden Kreise werden jedoch alle als sehr zentral und städtisch eingestuft. Zu nennen
sind die Städteregion Aachen und Mönchengladbach als Oberzentren innerhalb der Region,
zudem besteht eine Nähe zu Düsseldorf und Köln und anderen Oberzentren des Rheinlands.
Mitteldeutsches Revier
(sieben Kreise, Städte Leipzig und Halle): Das Mitteldeutsche Revier
zeichnet sich durch meist ländliche Kreise aus. Es umfasst mit Leipzig jedoch auch eine
Großstadt und mit Halle ein weiteres Oberzentrum.
Helmstedter Revier
(zwei Kreise, Städte Braunschweig und Wolfsburg): Das Helmstedter
Revier ist die kleinste der vier Regionen und strukturell vergleichsweise heterogen. Die
Region ist vorwiegend städtisch geprägt, der Kreis Helmstedt wird zugleich als ländlich
eingestuft.
141
Wolfsburg und Braunschweig sind Oberzentren der Region.
Infrastrukturausstattung der Reviere (Straßen und Schienen, digitale Infrastruktur,
energiewirtschaftliche Infrastruktur)
Ein angebotsorientierter Neu- und Ausbau der Straßen- und Schieneninfrastruktur, verbunden mit
entsprechenden Mobilitätskonzepten (z. B. gut abgestimmte Taktungen, umweltfreundliche
Verkehrsträger) ist vor allem in den ländlich geprägten Revierräumen eine grundlegende
Rahmenbedingung für eine erfolgreiche Strukturentwicklung. Optimale Erreichbarkeiten innerhalb
der Reviere (Nahverkehr), aber auch die überregionale Anbindung der Reviere an umliegende
Ballungsräume (Fernverkehr) sind entscheidend für die Fachkräftegewinnung oder Anreize für
139
140
Für eine Übersicht siehe auch RWI 2018a.
141
RWI 2018a, S. 163
65
Wirtschaftsansiedlungen sowie die generelle Lebensqualität der Menschen vor Ort. Durch eine
bessere Anbindung kann die Attraktivität einer Region erhöht werden, durch die Verknüpfung mit
regionalen Wachstumskernen können Wachstumsimpulse auf die Reviere ausstrahlen. Durch eine
passgenaue Einbindung von Regionen in Verkehrsnetze können diese Regionen zudem in
überregionale Wertschöpfungsketten eingebunden werden.
142
Die Zukunft ist digital – in der Wirtschaft und Industrie, in der Mobilität, in der Verwaltung sowie
auch im Bildungswesen und Privatleben. Dafür ist die digitale Infrastruktur von zentraler Bedeutung.
Je höher deren Qualität bzw. Leistungsfähigkeit ist, desto größer sind die Chancen für die Reviere,
wirtschaftliche Potenziale zu erschließen. Flächendeckende Breitbandabdeckung ist ein wesentlicher
Standortfaktor. Auch nach Abschluss der laufenden Förderprojekte werden Gebiete verbleiben, die
zwar mit mindestens 30 Mbit/s, jedoch keiner gigabitfähigen Infrastruktur versorgt sind. Der Zugang
zu hochleistungsfähiger digitaler Infrastruktur bietet Chancen und Entwicklungspotenzial. Hier wird
der Ausbau der Breitbandnetze auf Glasfaserbasis und die Ertüchtigung der Mobilfunknetze
entscheidend sein.
Die Reviere haben als Standorte von Tagebauen und Kraftwerken eine im besonderen Maße
ausgebaute und auf den Energiesektor zugeschnittene Infrastrukturausstattung, die auch für die
künftige Entwicklung moderner Energieerzeugungsanlagen und Energietechnologien
Anknüpfungspunkte bietet.
143
Insbesondere die Standorte von Kohlekraftwerken haben, unter anderem wegen der auf sie
ausgerichteten Netzinfrastruktur, einen hohen energiewirtschaftlichen Wert. Gleichzeitig werden die
Kraftwerke mit Personal betrieben, das hohe Kompetenzen beim Betrieb von energietechnischen
Anlagen und Prozessen hat. Die im Rahmen der Reduktion der Kohleverstromung notwendige
Umgestaltung des Kraftwerksparks bietet auch Chancen. Einerseits können die regionalen Potenziale
und teilweise sogar wesentliche Komponenten der Bestandsanlagen weiter genutzt werden.
Andererseits können Energiewende-Technologien erstmals großtechnisch eingesetzt werden. Die
Regionen werden zu Vorreitern. Über die strukturpolitische Betrachtung hinaus liegt hier auch die
Chance einer Signalwirkung. Andere Standorte und Regionen, die zukünftig vom Umbau der
Stromerzeugung betroffen sein werden, können hiervon profitieren und bieten damit zukünftig auch
Exportpotenzial für die deutschen Hersteller solcher Technologien.
Betroffene von Tagebauumsiedlungen und Tagebaurandgemeinden
In allen Revieren hat die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ Menschen aus
den Tagebauregionen angehört, die ihre Betroffenheit zum Ausdruck gebracht haben. Dabei gab es
sowohl Familien, die ihre Heimat auf keinen Fall verlassen wollen, als auch solche, die in neu
gegründete Orte umgezogen sind.
Braunkohletagebaue sind der größte Eingriff in die Landschaft Deutschlands. Sie zwingen Menschen
dazu, ihre Heimat aufzugeben und ihre Häuser zu räumen, die oft schon seit Jahrhunderten im
Eigentum der Familien sind. Damit beeinträchtigen Tagebaue sehr stark die wirtschaftliche und
soziale Struktur der Dörfer. Nur ein Teil der Bevölkerung geht mit an die Umsiedlungsstandorte. Viele
Landwirte, Handwerker und Läden verlassen die Dorfgemeinschaft, oft schon Jahre vor der
endgültigen Umsiedlung. Ein Teil der ortsansässigen Unternehmen sieht sich durch drohende
Umsiedlung in seiner Existenz bedroht.
142
Vergleiche hierzu beispielsweise die Anhörung des Sachverständigen Prof. Gerhard Untiedt am 18.09.2018.
143
Gutachten von IFOK et al 2018: Erneuerbare Energien-Vorhaben in den Tagebauregionen – Ein Beitrag für
den Strukturwandel?
66
Im Rheinischen Revier wurden mehr als 45.000 Menschen umgesiedelt, im Mitteldeutschen Revier
mehr als 50.000 und im Lausitzer Revier mehr als 25.000. Letzteres belastet auch das Volk der Sorben
und Wenden im Lausitzer Revier in ihrem Bestreben, ihre Sprache, Kultur und Identität zu erhalten.
Nach 1990 erfolgten die bergbaubedingten Umsiedlungen auch im Osten Deutschlands auf der
Grundlage öffentlich-rechtlicher Verträge.
Tagebaurandkommunen leiden unter dem Wegfall von Wegeverbindungen und wirtschaftlichen
Bezügen in die Nachbarkommunen. Sie werden über Jahrzehnte direkt beeinträchtigt, etwa durch
Lärm und Staub aus dem Tagebaubetrieb, aber auch durch den Verlust der
Naherholungsmöglichkeiten in der Natur und des Landschaftsbildes. Dies macht diese Kommunen
wenig attraktiv als Wohnort für Neubürger oder als Ansiedlungsstandort für Unternehmen. Erst weit
in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts werden die Seen aus den jetzigen Großtagebauen wie
Garzweiler, Inden, Hambach, Nochten, Vereinigtes Schleenhain, Profen und Welzow-Süd
fertiggestellt sein.
Deswegen sieht es die Kommission als besondere Aufgabe an, gerade zur Verbesserung der
Lebensbedingungen der Kommunen in der Tagebaurandlage beizutragen. Der Ausbau des schnellen
Internet, die erleichterte Ausweisung von Wohn- und Gewerbegebieten, eine gute
Verkehrsanbindung und auch die Minimierung der Auswirkungen der laufenden Tagebaubetriebe auf
diese Kommunen sind aus Sicht der Kommission vordringliche Aufgaben.
Kulturelle Prägung der Reviere
Neben anderen regionalen Besonderheiten prägt die Braunkohleförderung die Regionen seit
Jahrzehnten auch kulturell und identitätsstiftend. Dies schlägt sich nieder im Vereinsleben, dem
lokalen Brauchtum und zahlreichen weiteren Facetten des gesellschaftlichen Lebens. Dabei leisten
die Unternehmen der Braunkohlewirtschaft durch Spenden und Sponsoring einen Beitrag dazu, die
Region für ihre Bewohnerinnen und Bewohner attraktiv zu machen.
Strukturpolitische Ausgangslage in Hinblick auf die Steinkohleverstromung
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat auch die strukturpolitische
Ausgangslage für die Steinkohlekraftwerksstandorte untersucht. Sie stützt sich dabei auf eine von ihr
in Auftrag gegebene Studie,
144
die unter anderem den Beitrag des Sektors zur Beschäftigung und
Wertschöpfung geschätzt hat. Ausgangspunkt war dabei eine Betrachtung der Bedeutung der
Steinkohlewirtschaft auf Kreisebene. Bundesweit finden sich Steinkohlekraftwerke in 44
verschiedenen Kreisen bzw. kreisfreien Städten in Deutschland.
Der Studie zufolge arbeiten deutschlandweit derzeit rund 5.700 Menschen unmittelbar in der
Steinkohlewirtschaft. Hierbei handelt es sich ausschließlich um Kraftwerksbeschäftige.
145
In den
jeweiligen Kreisen, in denen sich Steinkohlekraftwerke befinden, beträgt der Anteil an der
Gesamtbeschäftigung im Durchschnitt 0,13 %.
Ein ähnliches Bild ergibt sich hinsichtlich des Beitrags zur Wertschöpfung. Die direkte Wertschöpfung
beträgt deutschlandweit 958 Mio. Euro. Pro Mitarbeiter in einem Steinkohlekraftwerk bedeutet dies
eine Wertschöpfung von rund 169.000 Euro. Betrachtet werden muss auch hier allerdings die
Wertschöpfung der indirekt oder induziert abhängigen Beschäftigung. Rechnet man diese hinzu,
144
RWI 2018b
145
Die letzten beiden Standorte zur Gewinnung von Steinkohle – die Zeche Prosper-Haniel und das Bergwerk
Ibbenbüren – haben Ende 2018 die Förderung eingestellt. Somit findet direkte Beschäftigung in der
Steinkohlewirtschaft künftig nur noch im Bereich der Verstromung statt. Im Falle der Braunkohlewirtschaft
hingegen gibt es, vereinfacht gesprochen, direkt Beschäftigte sowohl im Bereich Kraftwerke als auch im Bereich
Tagebau.
67
schätzen die Gutachter die Gesamt-Wertschöpfung bundesweit auf rund 1,9 Mrd. Euro. In den
jeweiligen Kreisen, in denen sich Steinkohlekraftwerke befinden, beträgt der Anteil der
Steinkohlewirtschaft an der Gesamt-Wertschöpfung vor Ort im Durchschnitt 0,17 %.
Hinsichtlich des Beitrags zum Steueraufkommen war den von der Kommission beauftragten
Gutachtern nur eine sehr grobe Abschätzung möglich. Sie sind daher davon ausgegangen, dass die
Beiträge der Steinkohlewirtschaft sowohl zum Einkommensteueraufkommen als auch zum Gewerbe-
und Körperschaftssteueraufkommen in etwa dem Beitrag der Branche zu Wertschöpfung und
Beschäftigung vor Ort entsprechen. Danach sollte für die Kreise bzw. kreisfreien Städte, der Beitrag
zum Einkommensteueranfall bei rund 15 Mio. Euro liegen, der Beitrag zum
Gewerbesteueraufkommen bei rund 23 Mio. Euro.
146
Bei einer genaueren Betrachtung dieser Zahlen fällt auf, dass, auf einzelne Regionen
heruntergebrochen, die Steinkohlewirtschaft dabei selten eine so hohe Bedeutung für
Wertschöpfung und Beschäftigung vor Ort hat wie dies für die Braunkohle in den Revieren der Fall
ist.
147
Das ist in nicht unerheblichem Ausmaß dadurch zu erklären, dass die Steinkohlewirtschaft
wesentlich weniger auf bestimmte Gebiete konzentriert ist als dies bei der Braunkohlewirtschaft der
Fall ist (siehe auch Kapitel 5.1.5). Von besonderer Bedeutung für die regionale Wertschöpfung ist
dabei die Rolle der Steinkohlwirtschaft in den verzahnten Liefer- und Produktionsketten der Industrie
(Strom und Wärme).
Zudem gibt es einige Regionen, in denen die Steinkohlewirtschaft eine signifikante Bedeutung für die
Wirtschaftsstruktur vor Ort hat. Daher widmet sich Kapitel 2.4 auch der Frage, inwiefern
Steinkohleregionen Zugang zu den von der Kommission vorgeschlagenen Instrumenten der
Strukturhilfe erhalten sollen.
3.5.
Rechtliche Rahmenbedingungen Strukturpolitik
Finanzverfassungs- und beihilferechtliche Rahmenbedingungen
Für die Förderung strukturschwacher Regionen gelten in Deutschland besondere
verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen.
Zur Unterstützung des Strukturwandels ist der Bund grundsätzlich durch die Grundgesetzartikel 91a
und 104b ermächtigt. Auf Grundlage des Artikel 91a GG beteiligt sich der Bund an den
Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) und
„Verbesserung der
Agrarstruktur
und Küstenschutz“ (GAK). Dabei ist die GRW das zentrale Instrument
der nationalen Regionalpolitik. Ziel ist es, über die Stärkung der regionalen Investitionstätigkeit
dauerhaft wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in der Region zu schaffen und zu sichern.
Strukturschwache Regionen werden so gezielt aktiviert statt alimentiert.
Daneben ist der Bund durch Artikel 104b GG ermächtigt, Finanzhilfen für besonders bedeutsame
Investitionen der Länder und Gemeinden bzw. Gemeindeverbände zum Ausgleich unterschiedlicher
Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums zu leisten. Die
Gewährung dieser Finanzhilfen setzt jedoch unter anderem voraus, dass eine entsprechende
Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Verwendungszweck vorliegt. Finanzhilfen des Bundes
146
Vergleiche auch Kapitel 3.4, dort den Punkt „Beitrag zum Steueraufkommen“. Nicht betrachtet wurde hier
der Beitrag zum Landesanteil am Einkommensteueraufkommen.
147
Vergleiche Kapitel 3.4 und 5.1.1 bis 5.1.4. So liegt beispielsweise der Anteil der direkt in der
Braunkohlewirtschaft Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung in der Lausitz bei 2,0 %, im Rheinischen Revier
immerhin noch bei 1,2 %.
68
für Bereiche, die in der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Länder liegen, sind in der
Regel unzulässig.
Beihilferechtliche Rahmenbedingungen innerhalb der Europäischen Union
Im Rahmen der GRW werden die Arbeitsmarktregionen Deutschlands nach ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit abgegrenzt. Ausgangspunkt der Förderung der gewerblichen Wirtschaft in
strukturschwachen Regionen ist das über die EU-Regionalleitlinien beihilferechtlich definierte
Regionalfördergebiet. Europaweit wird in den Mitgliedstaaten zwischen sogenannten A-, C- und D-
Fördergebieten unterschieden, in denen Interventionen zu Gunsten der Wirtschaft möglich sind.
Deutschland verfügt seit 2014 nicht mehr über Höchstfördergebiete (A-Gebiete). Über den
vorgegebenen C-Bevölkerungsplafond hinaus wurde in der GRW mit den D-Gebieten eine weitere
Fördergebietskulisse eingeführt. Die Förderung der gewerblichen Wirtschaft in diesen Gebieten
unterliegt horizontalen beihilferechtlichen Vorgaben.
Für Deutschland gelten derzeit folgende Höchstfördersätze:
Fördergebiet
Höchstfördersatz
1.1.2018 bis 31.12.2020
(kleine – mittlere – große Unternehmen)
Prädefinierte und nicht prädefinierte C-
Fördergebiete
30 %
–
20 %
–
10 %
Prädefinierte C-Fördergebiete mit
Grenzzuschlag
(Gebiete, die an A-Fördergebiet angrenzen,
Förderabstand zwischen diesen Gebieten
darf nicht mehr als 15% betragen)
40 %
–
30 %
–
20 %
D-Fördergebiete
20 %
–
10 %
–
bis zu 200.000 Euro
69
Besondere Regelungen bestehen für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben bzw. für
Investitionsbeihilfen für lokale Infrastrukturen.
Beihilfen für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben:
Bereiche
Große
Unternehmen
Mittlere
Unternehmen
Kleine
Unternehmen
Grundlagenforschung
100 %
100 %
100 %
Industrielle Forschung
148
65 %
75 %
80 %
Experimentelle
Entwicklung
149
40 %
50 %
60 %
Durchführbarkeitsstudien
50 %
60 %
70 %
Im Falle der Investitionsbeihilfen für lokale Infrastrukturen darf der Beihilfebetrag nicht höher sein
als die Differenz zwischen den beihilfefähigen Kosten und dem Betriebsgewinn der Investition. Der
Betriebsgewinn wird vorab auf Grundlage realistischer Projektionen oder über einen
Rückforderungsmechanismus von den beihilfefähigen Kosten abgezogen.
Die wettbewerbsrechtlichen Rahmenbedingungen schränken somit die Fördermöglichkeiten in
Abhängigkeit des Gebietsstatus ein.
Die ostdeutschen Braunkohlereviere (Lausitzer Revier und Mitteldeutsches Revier) zählen in
Deutschland noch immer zu den strukturschwächsten Regionen (C-Gebiete) mit den höchsten
Förderintensitäten. Bei den westdeutschen Braunkohleregionen (Rheinisches Revier und
Helmstedter Revier) handelt es sich überwiegend um nicht strukturschwache Regionen im Sinne der
Gemeinschaftsaufgabe bzw. der EU-Regionalleitlinien.
150
Lediglich der Kreis Helmstedt und die Stadt
Mönchengladbach sind als strukturschwach eingeordnet (C-Gebiete). Somit sind die Ausgangslagen
für regionalpolitische Interventionen zu Gunsten der Braunkohleregionen verschieden, entsprechend
sind die Interventionsmöglichkeiten und Förderintensitäten unterschiedlich.
Die derzeitigen Beihilferegelungen laufen Ende 2020 aus. Die Europäische Kommission hat bekannt
gegeben, die aktuellen Beihilferegeln bis Ende 2022 zu verlängern. Die zukünftige Ausgestaltung der
Beihilferegelungen ist noch unklar. Es ist offen, in welchen Beihilfestatus die Reviere bzw. einzelne
Branchen (stromintensive Industrien, KWK-Anlagen etc.) künftig fallen werden. Die Bundesregierung
hat dies bei ihren Gesprächen mit den europäischen Institutionen zu berücksichtigen.
Bei der auf europäischer Ebene neu festzulegenden Fördergebietskulisse hält es die Kommission für
erforderlich, dass der bevorstehende Strukturwandel schon für die kommende Förderperiode
berücksichtigt wird.
148
Werte gelten unter bestimmten Bedingungen, insbesondere wenn ein Verbundvorhaben (zwischen einem
großen Unternehmen und einem KMU oder einer Forschungseinrichtung) vorliegt. Grundsätzlich beträgt die
Beihilfehöchstintensität für industrielle Forschung 50 %.
149
Werte gelten unter bestimmten Bedingungen, insbesondere wenn ein Verbundvorhaben (zwischen einem
großen Unternehmen und einem KMU oder einer Forschungseinrichtung) vorliegt. Grundsätzlich beträgt die
Beihilfehöchstintensität für experimentelle Entwicklung 25 %.
150
Als D-Gebiete sind der Kreis Heinsberg und die Städteregion Aachen ausgewiesen
70
4.
Maßnahmen im Energiesektor
Zum Auftrag der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ gehört laut
Einsetzungsbeschluss die Erarbeitung eines Aktionsprogramms unter anderem mit den folgenden
Schwerpunkten:
Maßnahmen zum Beitrag der Energiewirtschaft, um die Lücke zur Erreichung des 40 %-
Reduktionsziels so weit wie möglich zu reduzieren.
Maßnahmen, die das 2030-er Ziel für den Energiesektor zuverlässig erreichen, einschließlich
einer umfassenden Folgenabschätzung. Aus dem Klimaschutzplan ergibt sich hierfür die
Vorgabe zur Verringerung der Emissionen aus der Energiewirtschaft um 61 bis 62 Prozent im
Jahr 2030 gegenüber dem Jahr 1990. Für den Beitrag der Kohleverstromung soll die
Kommission geeignete Maßnahmen zur Erreichung des Sektorziels 2030 der
Energiewirtschaft vorschlagen, die in das Maßnahmenprogramm 2030 zur Umsetzung des
Klimaschutzplans einfließen sollen.
Darüber hinaus ein Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung, einschließlich eines Abschlussdatums und der notwendigen rechtlichen,
wirtschaftlichen, sozialen, renaturierungs- und strukturpolitischen Begleitmaßnahmen.
Klimaschutz muss in allen Sektoren verwirklicht werden, um eine volkswirtschaftlich und
klimapolitisch effiziente und koordinierte Minderung der Treibhausgasemissionen zu erreichen. Der
Energiesektor spielt bei der Erreichung der Ziele des Klimaschutzplans im Jahr 2050 eine
Schlüsselrolle, da Strom im Zuge der zunehmenden Kopplung unterschiedlicher Sektoren verstärkt in
den Bereichen Wärme, Verkehr und Industrie zum Einsatz kommen wird.
Im Energiesektor empfiehlt die Kommission ein ebenso ambitioniertes wie ausgewogenes
Maßnahmenbündel, das die CO
2
-Emissionen der Energiewirtschaft signifikant verringert und dabei
eine sichere Versorgung mit Strom und Wärme gewährleistet, bezahlbare und insbesondere für
Industriekunden wettbewerbsfähige Strompreise sicherstellt und sozialverträglich umgesetzt wird.
Die Maßnahmen schaffen Planbarkeit für die Marktakteure, für die Regionen sowie die
Tagebauanwohner und Umsiedlungsbetroffenen, sie erfolgen verträglich für die Beschäftigten und
bieten den Kraftwerksbetreibern und der Gesamtheit der Stromverbraucher eine faire Lösung. In
Verbindung mit den Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels (vgl. Kapitel 5.3) legt die
Kommission damit ein gut austariertes Gesamtpaket vor, das wirtschaftliche Entwicklung,
Sozialverträglichkeit und Klimaschutz zusammenbringt.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ geht bei ihren Empfehlungen in
Kapitel 4 davon aus, dass die Bundesregierung die beschlossenen Maßnahmen und die in
Kapitel 3.2.2. beschriebenen Voraussetzungen zur Gestaltung des Umbaus unseres Energiesystems
zeitgerecht und vollständig realisiert. Sie erwartet von der Bundesregierung ein konsequentes und
zügiges Management der Energiewende, das die Umsetzung dieser Maßnahmen ermöglicht.
Die Kommission erwartet, dass die Bundesregierung sicherstellt, dass spätere Rechtsänderungen
beispielsweise des Umwelt- und Planungsrechts das erzielte Ergebnis der Kommission nicht
gefährden oder unterlaufen. Dies gilt insbesondere für die anstehende Novellierung der 13. und 17.
BImschV im Rahmen der anstehenden europarechtlichen Umsetzung.
Die Maßnahmen und ihre Umsetzung werden im Jahr 2023, 2026 und 2029 einer umfassenden
Überprüfung durch ein unabhängiges Expertengremium hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die
Erreichung der Klimaziele, der Entwicklung der Strompreise und der Versorgungssicherheit, der
Beschäftigung, der strukturpolitischen Ziele und der realisierten strukturpolitischen Maßnahmen
71
sowie der regionalen Wertschöpfung unterzogen und gegebenenfalls nachgesteuert werden (vgl.
Kapitel 6).
Die Empfehlungen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ stehen auch im
Kontext des Pariser Abkommens. Für die Klimawirkung ist der Umfang der kumulierten
Treibhausgasemissionen maßgeblich. Bei den zentralen Maßnahmen unterscheidet die Kommission
entsprechend des Einsetzungsbeschlusses zwischen drei Phasen. Insofern stehen die Maßnahmen zur
Reduktion der Lücke zur Erreichung des 40 %-Ziels, die Maßnahmen bis 2030 sowie das
Abschlussdatum für die Kohleverstromung in unmittelbarer Abhängigkeit zueinander.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ empfiehlt deshalb das
nachfolgende, eng miteinander verzahnte Maßnahmenpaket. Die Kommission betont, dass die
Einzelmaßnahmen einander bedingen, um den erwarteten Folgen der Reduzierung und Beendigung
der Kohleverstromung mit Blick auf den Klimaschutz, die Versorgungssicherheit, die Industrie und
Endverbraucher, die Kohleregionen und Beschäftigten sowie den Tagebaubetrieb und die
Tagebaunachsorge angemessen zu begegnen:
Maßnahmen für den Klimaschutz
Gesicherte schrittweise Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung
Sicherstellung des systemdienlichen und marktkonformen Ausbaus erneuerbarer Energien auf
65 % bis 2030
Weiterentwicklung und Fortführung der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung
Stilllegung von CO
2
-Zertifikaten im Rahmen des Europäischen Emissionshandels
Maßnahmen für den Energiemarkt und Strompreise für Industrie, gewerbliche Nutzer und private
Endverbraucher
Ausgleich für Stromverbraucher
Verstetigung und Fortentwicklung der ETS-Strompreiskompensation
Maßnahmen für Versorgungssicherheit
Weiterentwicklung des Versorgungssicherheits-Monitorings
Prüfung eines systematischen Investitionsrahmens
Nutzung des bestehenden Reserve-Instrumentariums zur Absicherung des Strommarktes
Weiterentwicklung und Fortführung der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung
Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für neue Gaskraftwerke
Adäquater Ersatz stillgelegter Kohlekraftwerke aus der Netzreserve
Maßnahmen zu Netzen, Speichern, Sektorkopplung und Innovationspotenzialen
Modernisierung und bessere Nutzung der Stromnetze durch Optimierung, Ausbau und
marktliche Maßnahmen
Überarbeitung des Systems der Entgelte, Abgaben und Umlagen im Energiebereich
Prüfung der Einführung einer CO
2
-Bepreisung mit Lenkungswirkung in den Sektoren
außerhalb des Europäischen Emissionshandels
72
Maßnahmen für Wertschöpfung und Beschäftigung
Sozialverträgliche Ausgestaltung der Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung
Weiterentwicklung der betroffenen Reviere zu zukunftsfähigen Energieregionen
Maßnahmen zur Berücksichtigung des Tagebaubetriebs und sichere Nachsorge der Tagebaue
Absicherung der Finanzierung für die Wiedernutzbarmachung
4.1. Klimaschutz
Die Entwicklung der Treibhausgasemissionen ist von einer Reihe verschiedener Faktoren abhängig
(vgl. Kapitel 3.1 und 3.2). Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ geht
davon aus, dass die CO
2
-Emissionen der Energiewirtschaft durch die bereits beschlossenen
Maßnahmen (Europäischer Emissionshandel, Ausbau der erneuerbaren Energien, Umrüstung von
Kohle- auf Gas-KWK, Sicherheitsbereitschaft, etc.) bis 2020 auf ca. 280 Mio. t zurückgehen werden.
Auf Grundlage der heute vorliegenden Studien geht die Kommission weiterhin davon aus, dass die
Energiewirtschaft ohne zusätzliche Maßnahmen ihr Sektorziel bis 2030 (175 bis 183 Mio. t CO
2
) mit
hoher Wahrscheinlichkeit verfehlt.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ schlägt deshalb die Umsetzung der
folgenden Maßnahmen vor:
Maßnahme: Gesicherte schrittweise Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung
Um ein rechtssicheres Vorgehen und wirksame klimapolitische Auswirkungen zu
gewährleisten, empfiehlt die Kommission die Stilllegung von Kraftwerkskapazitäten im
Einvernehmen mit den jeweiligen Kraftwerksbetreibern. Dabei werden die bestehenden
strukturellen Unterschiede der unterschiedlichen Bergbauregionen und der damit
verbundenen Bedeutung für die regionale Wertschöpfung berücksichtigt. Jede Stilllegung
steht unter dem Prüfvorbehalt der Bundesnetzagentur nach § 13b EnWG.
Bei der Entschädigung werden die bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen
Braun- und Steinkohlekraftwerken bezüglich der CO
2
-Emissionen, der Betreiberstruktur,
der Verzahnung mit dem Bergbaubetrieb und der damit verbundenen Anzahl der
betroffenen Beschäftigten berücksichtigt. Sofern es zu keiner einvernehmlichen
Vereinbarung kommt, empfiehlt die Kommission eine ordnungsrechtliche Lösung mit
Entschädigungszahlungen im Rahmen der rechtlichen Erfordernisse.
Für die Finanzierung der empfohlenen Maßnahme sind die notwendigen Haushaltsmittel
zur Verfügung zu stellen. Eine Umlage auf den Strompreis erfolgt nicht.
Die Kommission empfiehlt weiterhin, den Bau neuer Kohlekraftwerke nicht mehr zu
genehmigen. Für bereits gebaute, aber noch nicht im Betrieb befindliche Kraftwerke
empfiehlt die Kommission, eine Verhandlungslösung zu suchen, um diese Kraftwerke
nicht in Betrieb zu nehmen.
Konkret empfiehlt die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ die
folgenden Umsetzungsschritte:
73
Zeitraum von 2018 bis 2022
Im Zeitraum von 2018 bis 2022 sollen Braunkohlekraftwerke und Steinkohlekraftwerke
schrittweise in dem Umfang stillgelegt oder über das KWK-G umgerüstet werden, dass die
Leistung der Kraftwerke im Markt im Jahr 2022 auf rund 15 GW Braunkohle und rund 15
GW Steinkohle reduziert wird. Das entspricht im Vergleich zu Ende 2017 einem Rückgang
von annähernd 5 GW bei Braunkohlekraftwerken und 7,7 GW bei Steinkohlekraftwerken.
Darüber hinaus empfiehlt die Kommission die weitgehende Umstellung von Kohle auf Gas
innerhalb der Netzreserve (derzeit 2,3 GW). Insgesamt kommt es damit zu einer
Reduzierung um mindestens 12,5 GW Kohlekraftwerke im Markt. Mit diesen Maßnahmen
wird im Energiesektor eine CO
2
-Minderung von mindestens 45 Prozent im Vergleich zu
1990 erreicht.
Die Kommission empfiehlt, zur Umsetzung eine einvernehmliche Vereinbarung auf
vertraglicher Grundlage mit den Betreibern im Hinblick auf die Stilllegungen zu erzielen.
Diese enthält sowohl eine Einigung über Entschädigungsleistungen für die Betreiber als
auch Regelungen über die sozialverträgliche Gestaltung der Reduzierung und Beendigung
der Kohleverstromung und wird anschließend gesetzlich fixiert. Dies bezieht sich auf
Kraftwerke, die sich im Betrieb, noch nicht im Betrieb oder im Bau befinden. Instrumente
zur Ermittlung der Entschädigungshöhe können Ausschreibungen oder Regelungen analog
zur Sicherheitsbereitschaft sein. Sofern die Ausschreibung gewählt wird, ist der Ausschluss
betriebsbedingter Kündigungen sowie unbilliger sozialer und wirtschaftlicher Nachteile für
die betroffenen Beschäftigten eine notwendige Voraussetzung.
Die Kommission hält es für wünschenswert, dass der Hambacher Forst erhalten bleibt.
Darüber hinaus bittet die Kommission die Landesregierungen, mit den Betroffenen vor Ort
in einen Dialog um die Umsiedlungen zu treten, um soziale und wirtschaftliche Härten zu
vermeiden.
Zeitraum von 2023 bis 2030
Der Klimaschutzplan 2050 sieht für die Energiewirtschaft bis zum Jahr 2030 vor, die
Treibhausgasemissionen um 61 – 62 % gegenüber 1990 auf 175 – 183 Mio. t CO
2-Äq
zu
reduzieren. Um dies zu erreichen, ist ein deutlicher Rückgang der installierten Leistung
der am Markt agierenden Kohlekraftwerke erforderlich. Dazu sollen
Braunkohlekraftwerke und Steinkohlekraftwerke den Markt verlassen, so dass sich die
Leistung der Kohlekraftwerke im Markt (ohne Reserven) im Jahr 2030 auf maximal 9 GW
Braunkohle und 8 GW Steinkohle verringert. Das entspricht im Vergleich zu 2017 einem
gesamten Rückgang von 10,9 GW bei Braunkohlekraftwerken und 14,7 GW bei
Steinkohlekraftwerken. Die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2023 –
2030 erfolgt möglichst stetig. 2025 erfolgt dabei ein substantieller Zwischenschritt bei der
Emissionsminderung von 10 Millionen Tonnen möglichst durch ein Innovationsprojekt.
In den Jahren 2023, 2026 und 2029 erfolgt eine Bewertung der bis zu diesem Jahr
umgesetzten Maßnahmen mit Bezug auf Versorgungssicherheit, Strompreisniveau,
Klimaschutz, Weiterentwicklung des EU-Beihilferechts und Strukturentwicklung. Dies ist
auch erforderlich, um die Folgen des Kernenergieausstiegs 2022 und der bis dahin
umgesetzten Stilllegungen angemessen abschätzen zu können.
Zur Umsetzung empfiehlt die Kommission freiwillige Maßnahmen, als einvernehmliche
Verhandlungslösung mit den Betreibern für Braunkohlekapazitäten und als freiwillige
Stilllegungsprämie für Steinkohlekapazitäten. Die Lösung soll sowohl Regelungen über die
74
sozialverträgliche Gestaltung des Ausstiegs enthalten als auch eine nach sachlichen
Kriterien angemessene Entschädigungsleistung
151
für die Betreiber.
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien schmilzt diese im Zeitverlauf ab, d. h. je später die
Kraftwerke stillgelegt werden, desto geringer ist die Entschädigung. Bei Anlagen, die zum
Zeitpunkt der Stilllegung jünger als 25 Jahre sind, greift diese Degression nicht. Die
Entschädigung muss beihilferechtlich zulässig ausgestaltet werden. Anlagen, bei denen die
Umstellung von Kohle auf emissionsarme Brennstoffe überwiegend im Rahmen des KWKG
finanziert wird, erhalten keine zusätzliche Entschädigungsleistung.
Die Kommission empfiehlt für die Braunkohlekraftwerke zur Umsetzung eine
einvernehmliche Vereinbarung auf vertraglicher Grundlage mit den Betreibern im Hinblick
auf die Stilllegungen zu erzielen. Diese enthält sowohl eine Einigung über
Entschädigungsleistungen für die Betreiber als auch Regelungen über die
sozialverträgliche Gestaltung des Ausstiegs und wird anschließend gesetzlich fixiert. Teil
des Einvernehmens sollte aus Gründen der Versorgungssicherheit und eines geordneten
Strukturwandels eine möglichst stetige Reduktion der Braunkohlekapazitäten im Markt.
Die Kommission geht davon aus, dass in den Verhandlungen mit den Betreibern von
Braunkohlekraftwerken die gesamte Planung bis 2030 einvernehmlich geregelt wird.
Für den Fall, dass eine einvernehmliche Lösung mit den Betreibern von
Braunkohlekapazitäten nicht bis zum 30. Juni 2020 erfolgt ist, empfiehlt die Kommission
eine ordnungsrechtliche Lösung mit Entschädigungszahlungen im Rahmen der rechtlichen
Erfordernisse entsprechend des oben genannten Reduktionspfades umzusetzen. So wird
aus Gründen der Versorgungssicherheit eine planbare Entwicklung sichergestellt.
Die Bundesregierung soll im Bereich der Steinkohlekraftwerke einen möglichst stetigen
Abbau der Kapazitäten im Markt verfolgen. Dafür ist der jeweils aktuell absehbare Abbau
von Kohlekraftwerkskapazitäten über das KWKG ebenso zugrunde zu legen wie die
Versorgungssicherheit. Für die verbleibende Kapazität sollen im Rahmen einer
Ausschreibung eine freiwillige Stilllegungsprämie für Stilllegungen angeboten werden. Je
attraktiver die entsprechenden Bedingungen im Rahmen des KWKG sind, desto höher sind
die erwarteten CO
2
-Einsparungen und desto niedriger sind die für Stilllegungsprämien
erforderlichen Steuermittel.
Bei Überzeichnung der Ausschreibung für die freiwillige Stilllegungsprämie erfolgt der
Zuschlag anhand eines Kriteriums, das die Emissionseinsparung abbildet. Notwendige
Voraussetzung in einer Ausschreibung ist der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen
sowie unbilliger sozialer und wirtschaftlicher Nachteile für die betroffenen Beschäftigten.
Sofern die Reduktion der Steinkohlekapazitäten ohnehin marktgetrieben entlang des
Reduktionspfades erfolgt, sind in diesen Jahren keine Ausschreibungen notwendig bzw.
beträgt die ausgeschriebene Stilllegungsprämie entsprechend Null.
151
Eine Möglichkeit stellt die Anlehnung der Entschädigungsleistungen an die Formel für die
Sicherheitsbereitschaft abzüglich der Kosten für die Reservehaltung dar. Die Vergütung der
Sicherheitsbereitschaft besteht aus zwei Komponenten: Den entgangenen Deckungsbeiträgen am Strommarkt
für 4 Jahre und den Kosten der Reservevorhaltung über 4 Jahre. Die Deckungsbeiträge berechnen sich dabei
aus dem Future-Base-Strompreis abzüglich der Kosten für CO
2
-Zertifikate, abzüglich der kurzfristigen
Brennstoffkosten und abzüglich der variablen Betriebskosten (z. B. Rauchgasreinigung). Bei der
Sicherheitsbereitschaft wurden die historischen Preise vom 1. Oktober 2014 bis zum 30. September 2015
angesetzt. Zusätzlich sind gegebenfalls die mit den Tagebauen verbundenen Kosten zu beachten.
75
Für den Fall, dass eine einvernehmliche Lösung mit den Betreibern von
Steinkohlekapazitäten nicht jeweils zeitgerecht erfolgt ist, empfiehlt die Kommission eine
ordnungsrechtliche Lösung mit Entschädigungszahlungen im Rahmen der rechtlichen
Erfordernisse entsprechend des oben genannten Reduktionspfades umzusetzen. So wird
aus Gründen der Versorgungssicherheit eine planbare Entwicklung sichergestellt.
Im Fall einer ordnungsrechtlichen Maßnahme sollte es eine de-minimis-Regelung für
Kraftwerke kleiner 150 MW
el
geben (z. B. Industriekraftwerke). Diese Kraftwerke sollten
für die Umstellung von Kohle auf Gas Zeit bis zum Jahr 2030 erhalten. Die Umstellung von
Kohle auf Gas sollte über entsprechende Regelungen gefördert werden.
Abschlussdatum für die Kohleverstromung
Nach den gegenwärtigen Revierplänen endet die Verstromung der Braunkohle in den
späten 2040er Jahren (vgl. Kapitel 3.2.5). Bei der Steinkohle wird die Verstromung im
Wesentlichen von der technischen Lebensdauer der Anlagen sowie von der CO
2
- und
Brennstoffpreisentwicklung determiniert. Die neueste Generation von
Steinkohlekraftwerken erreicht Anfang der 2050er Jahre ein Lebensalter von 40 Jahren.
Gemäß Klimaschutzplan 2050 soll der Ausstoß von Treibhausgasen im Jahr 2040 um 70 %
und im Jahr 2050 um 80 bis 95 % reduziert werden. Dazu müssen auch nach 2030 die
Emissionen in der Energiewirtschaft weiter reduziert werden.
Als
Abschlussdatum für die Kohleverstromung
empfiehlt die Kommission Ende des Jahres
2038. Sofern die energiewirtschaftlichen, beschäftigungspolitischen und die
betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen vorliegen, kann das Datum in Verhandlungen
mit den Betreibern auf frühestens 2035 vorgezogen werden. Die Überprüfung, ob dies
möglich ist, erfolgt im Jahr 2032 („Öffnungsklausel“). Diese Überprüfung umfasst auch, ob
die Annahmen für die Beendigung der Kohleverstromung insgesamt realistisch sind.
Das Abschlussdatum für die Kohleverstromung sollte im Jahr 2026 und 2029 einer
umfassenden Überprüfung durch ein unabhängiges Expertengremium hinsichtlich der
Auswirkungen auf die Erreichung der Klimaziele, der Entwicklung der Strompreise und der
Versorgungssicherheit, der Beschäftigung, der strukturpolitischen Ziele und der
realisierten strukturpolitischen Maßnahmen sowie der regionalen Wertschöpfung
unterzogen und gegebenenfalls angepasst werden (vgl. Kapitel 6). Ein gegebenenfalls
notwendiger Eingriff in Eigentumsrechte ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu
berücksichtigen.
Maßnahme: Stilllegung von CO
2
-Zertifikaten im Rahmen des Europäischen
Emissionshandels
Eine ausreichende Wirksamkeit der nationalen Stilllegung von Braun- und
Steinkohlekraftwerken auch im Rahmen des Europäischen Emissionshandels ist
sicherzustellen. Daher weist die Kommission darauf hin, dass es gemäß der aktuellen
Reform des Europäischen Emissionshandels den Mitgliedstaaten zukünftig ab 2021
möglich sein wird, für Kraftwerksstilllegungen infolge von zusätzlichen nationalen
Maßnahmen Emissionszertifikate in einem definierten Umfang aus dem nationalen
Versteigerungsbudget zu löschen.
152
Die Kommission empfiehlt, diese Möglichkeit
maximal in Höhe der zusätzlich eingesparten CO
2
-Mengen zu nutzen.
152
Auch in der laufenden Handelsperiode bis 2020 ist bereits der Kauf und die anschließende Löschung von
Zertifikaten möglich.
76
Maßnahme: Sicherstellung des systemdienlichen und marktkonformen Ausbaus
erneuerbarer Energien auf 65 Prozent bis 2030
Eines der zentralen Instrumente zur Erreichung der Klimaziele ist der weitere Ausbau der
erneuerbaren Energien. Damit das im Koalitionsvertrag vereinbarte 65-Prozent-Ziel
erreicht werden kann, braucht es verlässliche Rahmenbedingungen für Investitionen in
erneuerbare Energien. Die Kommission empfiehlt außerdem, dass die jährlichen Zubau-
Mengen für erneuerbare Energien im Einklang mit dem 65-Prozent-Ziel bis 2030
angepasst werden, und im Besonderen auch die Reviere und
Steinkohlekraftwerkstandorte für den Ausbau der Erneuerbaren Energien zu nutzen.
Mittels innovativer Technologien können die Reviere zu Modellregionen für die
Energiewende werden.
Maßnahme: Weiterentwicklung und Fortführung der Förderung der Kraft-Wärme-
Kopplung
Die Stilllegung von Kohlekraftwerken kann grundsätzlich auch Kraftwerke betreffen, die in
relevantem Umfang zur Erzeugung von Wärme genutzt werden und auch einen
wesentlichen Beitrag zur Emissionsminderung in den anderen Sektoren leisten. Die
sichere Wärmeversorgung (Fern- und Prozesswärme) muss dabei gewährleistet sein. Die
Verlängerung und Fortentwicklung des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes spielen dabei
eine zentrale Rolle. Diese Maßnahme trägt ebenfalls in relevantem Maß zur Minderung
der Treibhausgasemissionen bei und spielt eine wesentliche Rolle bei der Gewährleistung
der Versorgungssicherheit (vgl. Kapitel 4.3).
In der Folge der zuvor genannten Klimaschutzmaßnahmen sinken die CO
2
-Emissionen der
Energiewirtschaft bis 2030 auf höchstens 175 bis 183 Mio. t ab. Die vorgeschlagenen Maßnahmen
stellen somit sicher, dass die Emissionsminderungen zusätzlich zu den bereits erwarteten
Minderungen erfolgen. Damit trägt die Energiewirtschaft entsprechend des Einsetzungsbeschlusses
maßgeblich zur Erreichung des 40 %-Klimaziels bei, das Sektorziel der Energiewirtschaft bis 2030 wird
zuverlässig erreicht.
Dabei wird berücksichtigt, dass diese Stilllegungen die Auslastung und damit die Emissionen der
verbleibenden Kraftwerke erhöhen (Netto-Minderung) sowie den grenzüberschreitenden
Stromaustausch verändern (vgl. Kapitel 3.2).
4.2. Energiemarkt und Strompreise für Industrie, gewerbliche Nutzer und private Endverbraucher
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ geht davon aus, dass die
Börsenstrompreise im Zuge voraussichtlich steigender Brennstoff- und CO
2
-Zertifikatspreise in den
kommenden Jahren ansteigen werden. Die vorgeschlagenen weiteren Stilllegungen von
Kohlekraftwerkskapazitäten reduzieren das Angebot und erhöhen dadurch den Börsenstrompreis
zusätzlich. Gleichzeitig wirkt der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien auf die Preise an der
Strombörse preisdämpfend (vgl. Kapitel 3.2.2), erhöht jedoch möglicherweise die Systemkosten und
den Förderbedarf.
Das Strompreisniveau ist in Deutschland sowohl für private Haushalte als auch für Unternehmen
vergleichsweise hoch. Jede zusätzliche Erhöhung der Strompreise wirkt sich negativ auf die
Stromverbraucher aus, insbesondere auf energieintensive Unternehmen (vgl. Kapitel 3.2.3). Deshalb
ist sich die Kommission einig, dass begleitende Maßnahmen zur Begrenzung der Strompreise
erforderlich sind, um die Wettbewerbsfähigkeit der stromintensiven Industrie zu sichern. Darüber
77
hinaus sollten mögliche Zusatzbelastungen für gewerbliche Nutzer und private Endverbraucher so
gering wie möglich ausfallen.
Maßnahme: Ausgleich für Stromverbraucher
Es ist ein Ausgleich zu schaffen, der Unternehmen und private Haushalte vom
Strompreisanstieg entlastet, der durch die politisch beschleunigte Reduzierung und
Beendigung der Kohleverstromung entsteht. Die Kommission hält es daher für erforderlich,
ab 2023 für private und gewerbliche Stromverbraucher einen Zuschuss auf die
Übertragungsnetzentgelte oder eine wirkungsgleiche Maßnahme zur Dämpfung des durch
die beschleunigte Reduzierung der Kohleverstromung verursachten Strompreisanstieges zu
gewähren. Aus heutiger Sicht ist zum Ausgleich dieses Anstiegs ein Zuschuss in Höhe von
mindestens 2 Mrd. Euro pro Jahr erforderlich. Das exakte Volumen der Maßnahme wird im
Rahmen der Überprüfung im Jahr 2023 ermittelt. Die Maßnahme ist im Bundeshaushalt zu
verankern und beihilferechtlich abzusichern. Eine zusätzliche Umlage oder Abgabe auf den
Strompreis erfolgt nicht.
Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, ein beihilferechtskonformes Instrument zu
entwickeln, um zusätzlich zu den zuvor genannten Instrumenten die energieintensiven
Unternehmen, die Strom aus dem Netz beziehen, aber nicht von einer Senkung der
Netznutzungsentgelte profitieren, von Preissteigerungen zu entlasten, die durch die politisch
beschleunigte Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung entstehen.
Maßnahme: Verstetigung und Fortentwicklung der ETS-Strompreiskompensation
Vor dem Hintergrund des bereits erfolgten und zu erwartenden weiteren Anstiegs der CO
2
-
Preise ist aus Sicht der Kommission eine Verstetigung und Fortentwicklung der ETS-
Strompreiskompensation für besonders energieintensive Unternehmen erforderlich. Die
Bundesregierung soll bei der EU-Kommission dafür eintreten, dass diese die
Strompreiskompensation bis 2030 verlängert, die Beihilfeintensität stabilisiert und dauerhaft
absichert. Zudem soll die Bundesregierung die Finanzierung der Kompensationssumme aus
dem Energie- und Klimafonds bedarfsgerecht sicherstellen.
4.3. Versorgungssicherheit
Eine gesicherte Strom- und Wärmeversorgung auf höchstem Niveau ist für den Industriestandort
Deutschland von großer Bedeutung. Das gilt sowohl im Hinblick auf die ausreichende Verfügbarkeit
installierter Kraftwerksleistung als auch mit Blick auf die Systemsicherheit.
Die Bundesregierung muss im Rahmen des gesetzlich vorgeschriebenen Versorgungssicherheits-
Monitorings dafür Sorge tragen, dass die Versorgungssicherheit zu jeder Zeit gewährleistet ist. In
diesem Zuge ist das Versorgungssicherheits-Monitoring sowohl in Hinblick auf kurzfristige als auch
auf mittel- und langfristige Maßnahmen ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Herausforderungen
für die Versorgungssicherheit zu erkennen und so quasi als Frühwarnsystem für mögliche Gefahren
zu fungieren.
Maßnahme: Weiterentwicklung des Versorgungssicherheits-Monitorings
Um frühzeitig Risiken für die Versorgungssicherheit besser zu erkennen, empfiehlt die
Kommission, das gegenwärtige Versorgungssicherheits-Monitoring weiterzuentwickeln.
153
153
Zur Überwachung der Versorgungssicherheit führt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ein
Monitoring der Versorgungssicherheit nach § 51 EnWG durch. Es umfasst im Grundsatz sämtliche Stufen der
Elektrizitätsversorgung: die vorhandenen Kapazitäten zur Stromerzeugung, die Verfügbarkeit von
78
Das stärkt seine Aussagekraft in Hinblick auf eine belastbare Abschätzung der in Zukunft zu
erwartenden Erzeugungskapazitäten deutlich. Die Weiterentwicklung sollte der Messung von
Energieversorgungssicherheit inklusive der Versorgungsqualität dienen und eine Methode
umfassen, die Energieversorgungssicherheit risikoorientiert, bedarfsgerecht und
kontinuierlich analysiert ("Stresstest“). Der bereits nach geltendem Recht vorzulegende
Bericht sollte daher erweitert werden, um eine Beurteilung der Wirtschaftlichkeit für den
Neubau von Erzeugungsanlagen und Speicherkapazitäten, um fehlende Investitionsanreize
frühzeitig zu erkennen und um die Entwicklung von Großhandelspreisen abschätzen zu
können. Außerdem sollte ein verpflichtendes Risikomanagement eingeführt werden, welches
erkennt, ob die Versorgung des einzelnen Marktteilnehmers auch in Zeiten eines extrem
knappen Angebots gesichert ist. Dies umfasst eine Energiebedarfsanalyse von industriellen,
gewerblichen und privaten Verbrauchern sowie der öffentlichen Hand. Die Maßstäbe sollten
einheitlich entwickelt und gegebenenfalls mit Risikogrenzen unterlegt werden. Die
Investitionsfreiheit der Marktakteure sollte damit allerdings nicht eingeschränkt werden.
Die Versorgungssicherheit soll grundsätzlich im Energiebinnenmarkt gesichert werden. Grundsätzlich
sollen die empfohlenen Maßnahmen zum Ausstieg aus der Kohleverstromung Planbarkeit für die
Marktakteure schaffen und so dafür sorgen, dass die erforderlichen Investitionen in neue
Kapazitäten – insbesondere Gaskraftwerke und Speicher – im Rahmen des
Energy-Only-
Marktes und
im Rahmen des KWKG getätigt werden. Erfolgen diese Investitionen nicht bzw. ergibt sich aus dem
fortentwickelten Versorgungssicherheits-Monitoring, dass diese Investitionen nicht rechtzeitig
getätigt werden, empfiehlt die Kommission die folgende Maßnahme:
Maßnahme: Prüfung eines systematischen Investitionsrahmens
Sofern sich bis 2023 in Folge der beschlossenen Stilllegung der Braun- und
Steinkohlekraftwerke keine ausreichend neuen Kraftwerkskapazitäten im Bau befinden,
empfiehlt die Kommission die Prüfung eines systematischen Investitionsrahmens, der in der
Lage ist, rechtzeitig entsprechende Investitionsanreize zu setzen, bei dem auch die
Versorgungssicherheit stets gewährleistet ist. Dies kann auch für ein regional begrenztes
Gebiet erfolgen. Um den zeitlichen Investitionsvorlauf zu berücksichtigen, sind die
Investitionsentwicklungen fortlaufend zu prüfen. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass keine
zeitlichen Divergenzen zwischen dem Bedarf an Kraftwerkskapazitäten und der Fertigstellung
entstehen.
Zur zusätzlichen Absicherung des Strommarktes steht mit der Kapazitätsreserve (ab 2019), der
Netzreserve und der Sicherheitsbereitschaft ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung. Die
Erhöhung dieser Reserven kann ein Mittel sein, um Bedenken bezüglich der Konsequenzen eines
ambitionierten Rückgangs der Kohleverstromung zu begegnen.
Maßnahme: Nutzung des bestehenden Reserve-Instrumentariums zur Absicherung des
Strommarktes
Die Kommission empfiehlt, im Falle sich abzeichnender Risiken bei der Versorgungssicherheit
das bestehende Reserve-Instrumentarium umfassend zu nutzen. Die Größe der Reserven
kann hierzu im Bedarfsfall und im begrenzten Rahmen weiter ausgebaut werden. Eine
beliebige Ausweitung insbesondere der Kapazitätsreserve führt jedoch zu Verzerrungen im
Markt. Daher empfiehlt die Kommission, die Kapazitätsreserve zu begrenzen.
Primärenergieträgern für die Stromerzeugung, den Transport des Stroms sowie den Handel und Vertrieb, vgl.
Kapitel 3.2.4.
79
Ein erheblicher Teil der Kohlekraftwerke in Deutschland erzeugt nicht nur Strom, sondern auch
Wärme für die lokale Versorgung. Die Kraft-Wärme-Kopplung und ihre Wärmeinfrastruktur leistet
daher einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit im Strom- und
Wärmebereich. Daraus ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Herausforderungen im Hinblick
auf die Reduzierung von gekoppelten und ungekoppelten Kohlekraftwerken, die differenziert
betrachtet werden müssen. Insbesondere durch die lokale Gebundenheit von
Fernwärmenetzsystemen und Prozesswärmeversorgung erfordert der Wegfall von Wärmeerzeugung
auf Kohlebasis einen parallelen lokalen Ersatz dieser Erzeugung. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen,
dass es bedingt durch den Ausbau der fluktuierenden erneuerbaren Energien zunehmend notwendig
wird, dass KWK-Anlagen flexibler betrieben werden. Außerdem erfordern die Klimaziele letztlich eine
Umstellung auf eine CO
2
-neutrale Wärmeerzeugung auf Basis von erneuerbaren Energien.
Maßnahme: Weiterentwicklung und Fortführung der Kraft-Wärme-Kopplung
Die Kommission empfiehlt deshalb, dass adäquate und langfristige Rahmenbedingungen für
KWK-Anlagen geschaffen werden. Künftig sollen KWK-Anlagen hin zu modernen, flexiblen
Strom-Wärme-Systemen weiterentwickelt werden, zu denen neben KWK-Anlagen auch
Speicher, Fernwärmenetze, Wärmepumpen, Power-to-Heat-Anlagen sowie solar- oder
geothermische Anlagen gehören. Deshalb sollen auch über 2022 hinaus bis 2030 stabile
Rahmenbedingungen für Investitionen in moderne KWK-Systeme geschaffen werden, damit
sich die KWK kompatibel zum Sektorziel 2030 für die Energiewirtschaft entwickeln kann. In
diesem Rahmen sollte bis zum Jahr 2026 die weitere Umstellung von Kohle- auf Gas-KWK
attraktiver ausgestaltet sowie Innovationen für die Kompatibilität mit grünen Gasen
gefördert werden. Zudem sind regulatorische Rahmenbedingungen für die Förderung neuer
Wärmenetze bzw. die Anpassung bestehender Wärmenetze an die neuen Anforderungen zu
schaffen.
Die Standorte von Kohlekraftwerken verfügen bereits über eine gut ausgebaute Energieinfrastruktur,
deren Erhaltung es zu unterstützen gilt. Insofern sollte den Betreibern von Kohlekraftwerken ein
weiterer Anreiz zur Umstellung auf eine weniger emissionsintensive Brennstoffart geboten werden.
Maßnahme: Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für neue Gaskraftwerke
Die Kommission empfiehlt deshalb, Maßnahmen zur Beschleunigung von
Genehmigungsprozessen zur Errichtung neuer Gaskraftwerke insbesondere an bestehenden
Kohlekraftwerksstandorten zu prüfen.
Ein Rückgang der Kohlekapazitäten bringt zudem Herausforderungen für die Systemstabilität mit
sich. Insbesondere für die Bereitstellung von Kurzschlussleistung und Momentanreserve leisten
Kohlekraftwerke bislang einen großen Beitrag (vgl. Kapitel 3.2.4). Die Netzstabilität und -sicherheit
sind für die Volkswirtschaft so wichtig, dass generell das Vorsorgeprinzip gelten muss. Dazu kommt,
dass Systemsicherheit im Bereich der Stromnetze als Teil der Versorgungssicherheit auch vor lokalen
und regionalen Herausforderungen steht. Das heißt: Selbst, wenn national (und unter
Berücksichtigung verfügbarer gesicherter Leistung in Nachbarländern) ausreichend gesicherte
Leistung zur Verfügung steht, kann aufgrund von Netzengpässen ein regionales Problem für die
Versorgungsicherheit entstehen. Systemsicherheit, Netzstabilität und Schwarzstartfähigkeit müssen
jederzeit in vollem Umfang gewährleistet sein.
Maßnahme: Adäquater Ersatz stillgelegter Kohlekraftwerke aus der Netzreserve
80
Damit auch Kohlekraftwerke, die sich in der Netzreserve befinden, stillgelegt werden können,
empfiehlt die Kommission, gleichwertige Alternativen wie insbesondere Gasturbinen und
Speicher zu errichten.
4.4. Netze, Speicher, Sektorkopplung und Innovationspotenziale
Ein gut ausgebautes Stromnetz ist das Rückgrat eines zunehmend auf volatil einspeisenden
erneuerbaren Energien basierenden Stromsystems. Damit die Stromversorgung zu jeder Zeit sicher
und bezahlbar bleibt, ist das deutsche Stromsystem auch auf die Modernisierung und bessere
Nutzung der Stromnetze angewiesen. Um Erzeugung und Verbrauch bedarfs- und
verbrauchsorientiert aufeinander abzustimmen, müssen die Übertragungs- und Verteilnetze also
„intelligenter“ werden. Insbesondere in den Verteilnetzebenen kann durch den regionalen Ausgleich
von Erzeugung und Verbrauch und die verstärkte Nutzung von lokaler Flexibilität das Gesamtsystem
entlastet und das Einspeisemanagement optimiert werden.
Maßnahme: Modernisierung und bessere Nutzung der Stromnetze durch Optimierung,
Ausbau und marktliche Maßnahmen
Die Kommission empfiehlt deshalb, die Modernisierung der Übertragungs- und Verteilnetze
konsequent voranzutreiben. Damit der Ausbau der erneuerbaren Energien auf 65 % bis 2030
und eine schrittweise Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung gelingen kann,
braucht es weitere Maßnahmen für einen optimierten Netzbetrieb. Neben dem notwendigen
Netzzu- und -ausbau bieten zahlreiche smarte Lösungen Möglichkeiten, die bestehenden
Netze intelligenter zu nutzen. Hier bietet die Digitalisierung erhebliche Potenziale. Zudem
sieht die Kommission es als notwendig an, dass die schrittweise Reduzierung der
Kohleverstromung und die damit einhergehenden Maßnahmen auch in der langfristigen
Netzplanung der Bundesnetzagentur sowie in der Bundesbedarfsplanung entsprechend
berücksichtigt werden.
Speicher können für die Integration der erneuerbaren Energien die notwendige zeitliche Flexibilität
bereitstellen und eine Vielzahl von Systemdienstleistungen erbringen. Es ist bereits in der
Transitionsphase des Energiesystems dringend notwendig, die Potenziale der verschiedenen
Speichertechnologien verfügbar zu machen. Dazu braucht es Anreize zur Erforschung und Erprobung,
vor allem aber verbesserte und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen, die den wirtschaftlichen
Einsatz ermöglichen.
Der Sektorkopplung kommt eine entscheidende Rolle bei der Erreichung der Klimaziele zu, da nur mit
der Nutzung erneuerbar erzeugten Stroms als Wärme, Gas und Kraftstoff alle Sektoren
dekarbonisiert werden können. Zusätzlich leistet Sektorkopplung einen Beitrag zur Flexibilisierung
des Energiesystems, wenn Power-to-X-Anlagen als zusätzliche Potenziale der flexiblen
Nachfragenutzung (Demand-Side-Management) eingesetzt werden. Gleichzeitig schaffen
Elektromobilität, Power-to-Heat und Power-to-Gas erhebliche Flexibilitätspotenziale, um auf die
Einspeisung von fluktuierendem erneuerbarem Strom zu reagieren. Der heutige regulatorische
Rahmen (vor allem im Bereich Steuern und Abgaben, Entgelte, Umlagen) behindert noch eine
effektive Sektorkopplung.
Eine zentrale Rolle für die Sektorkopplung spielt außerdem die Herstellung von Wasserstoff.
Wasserstoff kann auch mit flexibler KWK zusammengedacht werden. Dies stärkt die Energiewende
vor Ort, entlastet die Netze, hebt Flexibilitäten und bietet Lösungen für städtische
Bestandsstrukturen und industrielle Strukturen. Durch die Integration von Wasserstofferzeugung und
flexibler KWK kann die Flexibilität der gekoppelten Stromerzeugung weiter erhöht werden.
81
Eine weitere Schlüsseltechnologie der Sektorkopplung ist Power-to-Gas (PtG). Damit kann
erneuerbarer Strom in eine Energieform gebracht werden, die als erneuerbares Gas langfristig
gespeichert und über das bestehende Gasnetz verteilt werden kann. Das Gasnetz verfügt dabei über
eine umfassende Speicherkapazität und kann künftig immer mehr erneuerbare Gase aufnehmen,
speichern, verteilen und anderen Sektoren zur Verfügung stellen. PtG-Anlagen existieren derzeit vor
allem als Pilotprojekte und in entsprechend kleinen Größenordnungen. Somit bleiben sie auf
mittelfristige Sicht auch ein Thema für Forschung und Entwicklung, um möglichst rasch positive
wirtschaftliche Skaleneffekte zu erzielen. Neben technischen Aspekten spielt auch das regulatorische
Lernen für die Sektorkopplung eine wichtige Rolle. Daher sollten insbesondere regionale Reallabore
genutzt werden, um weitere Fortschritte für die Systemintegration von PtG-Anlagen zu erzielen.
Dabei spielt bereits bei der Planung die Perspektive für einen Übergang von der Pilot- oder
Forschungsphase in den Markt eine wichtige Rolle für die Investitionsentscheidung. Außerdem regt
die Kommission an, die Etablierung von Marktanreizmechanismen für grünen Wasserstoff zu prüfen.
Maßnahme: Überarbeitung des Systems der Steuern und Abgaben, Entgelte und Umlagen
im Energiebereich
Die Kommission empfiehlt das bestehende System der Entgelte, Abgaben und Umlagen im
Energiesektor umfassend zu überarbeiten. Das derzeitige System hemmt durch die
überproportionale Belastung von Strom im Vergleich zu anderen Energieträgern die
Sektorkopplung und die Nutzung bestehender oder neuer Flexibilitätsoptionen wie Power-to-
Gas, Wasserstoff und Speicher. Zur Unterstützung der Sektorkopplung empfiehlt die
Kommission deshalb ebenso die Absenkung der Stromsteuer. Dies hat – ebenso wie der
vorgeschlagene Zuschuss auf die Übertragungsnetzentgelte oder eine wirkungsgleiche
Maßnahme – eine dämpfende Wirkung auf die Strompreise.
Maßnahme: Prüfung der Einführung einer CO
2
-Bepreisung mit Lenkungswirkung auch in
den Sektoren außerhalb des Europäischen Emissionshandels
Die Kommission empfiehlt, die Einführung einer CO
2
-Bepreisung mit Lenkungswirkung auch
im Non-ETS-Bereich zu prüfen. Dies führt dazu, dass einerseits auch in diesen Sektoren
zukünftig ein größerer Beitrag zum Klimaschutz zu erwarten ist und gleichzeitig ein Anreiz zur
Nutzung der Flexibilitätspotenziale von Power-to-X-Anlagen geschaffen wird. Die CO
2
-
Bepreisung sollte sozialverträglich ausgestaltet sein.
4.5. Wertschöpfung und Beschäftigung
In den drei Braunkohlerevieren – Lausitzer Revier, Mitteldeutsches Revier und Rheinisches Revier –
spielt die Kohlewirtschaft eine zentrale Rolle. Eine vorzeitige Stilllegung von Kraftwerkskapazitäten
und Tagebauen beschleunigt den Strukturwandel. Auch die Stilllegung von Steinkohlekraftwerken
wirkt sich negativ auf die regionale Beschäftigung und Wertschöpfung aus.
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ legt großen Wert darauf, dass
Maßnahmen zur Verringerung der CO
2
-Emissionen im Einklang mit der notwendigen
Strukturentwicklung umgesetzt werden und zu erfolgreichen Strukturentwicklungen führen.
Maßnahme: Sozialverträgliche Ausgestaltung der Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung
Aus Sicht der Kommission sind negative Effekte auf die Beschäftigten zwingend abzufedern.
Zudem soll sichergestellt werden, dass den Beschäftigten keine unbilligen sozialen und
wirtschaftlichen Nachteile entstehen. Insbesondere müssen die betroffenen Unternehmen in
die Lage versetzt werden, betriebsbedingte Kündigungen ausschließen zu können.
82
Den Beschäftigten im Tagebau und in den Braun- und Steinkohlekraftwerken sind berufliche
Perspektiven zu eröffnen. Je nach persönlicher Situation des betroffenen Beschäftigten sind
verbindliche tarifliche Regelungen zwischen den Sozialpartnern zu treffen, z. B. zur Sicherung
einer qualifizierten Arbeit durch Vermittlung und Ausgleich von Lohneinbußen, Aus- und
Weiterbildung, zur Abfederung finanzieller Einbußen oder für einen früheren Eintritt in den
Ruhestand und Brücken zum APG, Ausgleich von Rentenabschlägen oder für einen sonstigen
früheren Eintritt in den Ruhestand.
Hierzu müssen für den gesamten Bereich der Kohlegewinnung und -verstromung
ausreichend Finanzmittel bereitstehen, damit alle Beschäftigten die Chance auf einen
zukunftsgerichteten Arbeitsplatz mit adäquaten Lohn- und Arbeitsbedingungen wahrnehmen
können. Diese Punkte müssen auch Bestandteil einvernehmlicher vertraglicher
Vereinbarungen werden. In die entsprechenden Verhandlungen sind die
Mitbestimmungsorgane und ihre Gewerkschaften einzubinden. Die Regelungen werden in
Tarifverträgen fixiert.
Maßnahme: Weiterentwicklung der betroffenen Reviere zu zukunftsfähigen
Energieregionen
Damit die betroffenen Regionen auch zukünftig Energieregionen bleiben können, soll die
Technologiekompetenz und Innovationsfähigkeit sowie der Einsatz von erneuerbaren
Energien, Speichern und grünem Wasserstoff (Power-to-Gas) als Zukunftstechnologie in den
betroffenen Regionen verstärkt gefördert werden. Gleiches gilt für den Neubau von
Gaskraftwerken insbesondere mit Wärmeauskopplung an bestehenden
Kraftwerksstandorten. Dadurch soll der Energiesektor weiterhin einen Beitrag zur regionalen
Wertschöpfung leisten. Voraussetzung dafür ist die Schaffung entsprechender
regulatorischer Rahmenbedingungen (vgl. Kapitel 4.4).
4.6. Berücksichtigung des Tagebaubetriebs und sichere Nachsorge der Tagebaue
Im Bereich der Braunkohlekraftwerke sind die Auswirkungen einer Reduzierung der Verstromung auf
die angeschlossenen Tagebaue zu beachten (vgl. Kapitel 3.2). Die Betreiber von
Braunkohlentagebauen unterliegen vielfältigen Wiedernutzbarmachungsverpflichtungen.
154
Im
Rahmen der Erfüllung der Maßnahmen zur Wiedernutzbarmachung wird in den Revieren ein
erheblicher finanzieller und personeller Aufwand über einen langen Zeitraum anfallen.
Die vorzeitige Stilllegung von Kohlekraftwerken geht mit einer Verkürzung der bisher geplanten
Laufzeiten und einer gegebenenfalls erforderlichen Verkleinerung von Tagebauen einher. Die
Verfahren zur Anpassung von Genehmigungen sind unter Ausnutzung möglicher Beschleunigungen
so zu führen, dass ein Stillstand der Tagebaue einschließlich der Wiedernutzbarmachung vermieden
wird und durchgehende Planungssicherheit besteht. Dies beinhaltet zudem, dass zukünftig auf neue
Braunkohletagebaue zur energetischen Nutzung verzichtet wird.
Eine beschleunigte Beendigung der Kohleverstromung kann diesbezüglich zu Zusatzkosten für die
Betreiber von Braunkohletagebauen führen. Wenn Tagebaue deutlich verkleinert werden, ist es nicht
gesichert, dass die bisherigen Rückstellungen ausreichen, um die Wiedernutzbarmachung vollständig
zu finanzieren. Außerdem fallen die Kosten zeitlich früher an, werden also in einem geringeren
Umfang abgezinst, auch müssen die notwendigen Mittel gegebenenfalls über kürzere Zeiträume
angesammelt werden.
154
§ 55 Abs. 1 Nr. 7, Nr. 9 BBergG; siehe auch
von Mäßenhausen
, in: Boldt/Weller/Kühne/von Mäßenhausen,
BBergG, 2. Aufl. 2016, § 55 Rn. 145.
83
Wie sich die Kostenstrukturen verändern und welche Folgen gegebenenfalls für die Bilanzen der
Unternehmen entstehen, wenn Tagebaue durch den Kohleausstieg früher als ursprünglich geplant
geschlossen werden, ist zu prüfen. Die Kommission schlägt vor, die Betreiber zu verpflichten, über
die derzeitigen Jahresabschlüsse hinaus Transparenz zu schaffen, inwieweit die künftigen Zahlungen
für Wiedernutzbarmachung und Stilllegung nicht nur gedeckt, sondern zum benötigten Zeitpunkt
liquide vorliegen. Darüber hinaus soll eine staatliche Behörde ein Auskunftsrecht erhalten.
Die Folgekosten des Kohleabbaus muss nach dem Bundesberggesetz der Unternehmer tragen. Wenn
Entschädigungen oder Stilllegungsprämien gezahlt werden, müssen die Eigner der
Braunkohleunternehmen diese Zahlungen verwenden, um die Folgekosten abzudecken. Um dies zu
erreichen, sollten die Länder bei der Zulassung von neuen Betriebsplänen nach Bundesberggesetz die
Möglichkeit von insolvenzfesten Sicherheitsleistungen ausschöpfen, sofern kein
Konzernhaftungsverbund vorliegt.
Es ist verbindlich zu regeln, dass bei einem vorfristigen Ausstieg aus der Braunkohleförderung das
Wassermanagement insbesondere für die Spree abgesichert wird. Ein Trockenfallen der Spree muss,
auch im Hinblick auf den Tourismus im Spreewald, unbedingt verhindert werden.
84
5. Perspektiven für bestehende, neue und zukunftssichere Arbeitsplätze
5.1. Auswirkungen, strukturpolitische Effekte und Zukunftsvisionen für die Reviere
Regionale Strukturentwicklung bedeutet, neue Perspektiven für die Regionen auf Basis ihrer Stärken
zu entwickeln und frühzeitig durch konkrete Maßnahmen und mit den Akteuren vor Ort umzusetzen.
Die beschleunigte Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung hat erhebliche Auswirkungen
auf die Regionen, deshalb müssen die gemeinsamen, verstärkten Anstrengungen für eine
Strukturentwicklung sofort beginnen. Vertrauen in einen erfolgversprechenden Strukturwandel
entsteht dort, wo zukunftsfähige Perspektiven und verbindliche, unterstützende Rahmen konkret
sichtbar werden.
Eine Grundvoraussetzung für gelingenden Strukturwandel ist ein eigenständiges,
fortschreibungsfähiges und evaluierbares regionales Entwicklungskonzept, das das jeweilige Revier
ganzheitlich und in seinen Wechselwirkungen mit der umgebenden Region zukunftsfest aufstellt. Die
Regionen sind bei der Entwicklung solcher Konzepte unterschiedlich weit vorangeschritten. Die
vorliegenden regionalen Entwicklungskonzepte und konkreten Projekt- und Maßnahmenvorschläge
finden sich im Anhang dieses Berichts.
Die Kommission hat sich bei Anhörungen in den Revieren ein Bild vor Ort gemacht, vor welchen
Herausforderungen die Regionen bereits jetzt stehen und welche Auswirkungen die vorgezogene
Beendigung der Kohleverstromung in den Regionen haben kann. Darüber hinaus hat sich die
Kommission darüber informiert, welche Potenziale in den Regionen bestehen, um mit diesen
Herausforderungen erfolgreich umzugehen und die Chancen des Strukturwandels für sich zu nutzen.
Deutschland hat mit der Bewältigung des Strukturwandels im Kohlenbergbau bereits umfassend
Erfahrung gesammelt. Die Erfahrungen in den ostdeutschen Revieren sind vor allem vom teilweisen
Zusammenbruch der Braunkohleindustrie in den Jahren nach der Wiedervereinigung geprägt. Auch in
Westdeutschland bestehen Erfahrungen mit Strukturbrüchen, die sich bis in die Gegenwart hinein im
Ruhrgebiet und im Saarland verdichtet haben.
Erklärtes Ziel der Kommission ist es deshalb, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und
Strukturentwicklung frühzeitig, schrittweise und planbar zu gestalten. Nur so können Strukturbrüche
in den Regionen vermieden werden. Obwohl die Ausgangslage in den Regionen jeweils
unterschiedlich ist, starten die Regionen nicht bei null. Denn der Wandel hat bereits begonnen und
die Regionen der Braunkohlereviere sind dabei, sich aktiv auf die Zeit nach der
Braunkohleverstromung einzustellen.
Die Regionen verfügen über vielfältige Potenziale, die es zu heben gilt. Zahlreiche Akteure haben
Vorstellungen für ihre Regionen, denn sie wollen sie zukunftsfest, wirtschaftlich stark, attraktiv und
lebenswert machen. Diese vorhandenen Potenziale bilden eine wichtige Basis, den anstehenden
Wandel erfolgreich zu bewältigen.
Die folgenden Absätze geben die Überlegungen für die zukünftige Entwicklung in den Revieren
wieder.
5.1.1. Helmstedter Revier
Im August 2016 wurde der Braunkohlentagebau mit der Auskohlung des Tagebaus Schöningen
beendet. Das Kraftwerk Buschhaus wurde 2016 in die Sicherheitsbereitschaft überführt, aus der es
Ende 2020 ausscheidet. Weitere Braunkohlekraftwerke oder -tagebaue sind nicht in Betrieb. Heute
85
gibt es noch rund 150 direkt Beschäftigte sowie 300 indirekt oder induzierte Beschäftigte innerhalb
oder außerhalb der hier vorgenommenen Revierabgrenzung.
155
Der sehr ländlich geprägte Raum des Helmstedter Reviers im Kreisgebiet Helmstedt ist geprägt durch
eine dünne Besiedlung und eine unzureichende Infrastruktur hinsichtlich Versorgung, Mobilität und
Kommunikationstechnik. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt die Wirtschaftskraft des
Landkreises heute bei knapp 50 % des Bundesdurchschnitts. Die regionalen Oberzentren und die
Automobilindustrie bilden derzeit eine stabile Basis für die wirtschaftliche Entwicklung. Die
Herausforderungen bestehen darin, neue Wachstums- und Entwicklungskerne zu schaffen und somit
die Abhängigkeit von den Industriezentren beispielsweise in Braunschweig und in Wolfsburg zu
verringern.
Mit der Digitalisierung und ihrer weiteren Verbreitung in der Arbeitswelt eröffnen sich jedoch auch
für ländlich geprägte Räume neue Gestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus bietet die
vergleichsweise hohe Verfügbarkeit von Flächen und Freiräumen eine Chance für Neuansiedlungen
von Gewerbe und Industrie. Ebenso wie in den anderen Braunkohlerevieren stellen die vorhandenen
Stromnetzinfrastrukturen einen Standortvorteil für den Bau neuer Energieerzeugungsanlagen sowie
Energiespeichern dar.
Das Revier hat vor kurzem das Helmstedter Regionalmanagement gegründet, welches die Rolle einer
zentralen Koordinierungsstelle für die Gestaltung des Strukturwandels übernehmen soll. Die
finanzielle Absicherung des Regionalmanagements ist jedoch nur noch bis 2020 gegeben.
5.1.2. Lausitzer Revier
Das Lausitzer Revier unterscheidet sich von den anderen Revieren in Nordrhein-Westfalen und
Mitteldeutschland insofern, als dass hier von einer historisch gewachsenen besonderen Bedeutung
der Braunkohlewirtschaft gesprochen werden kann. Exemplarisch kann hier die Wirtschaftsstruktur
des Landkreises Görlitz betrachtet werden, wo im Jahr 2015 946 Mio. Euro oder 16,2 % der gesamten
Bruttowertschöpfung im Energiesektor erwirtschaftet wurden. Im Bereich des produzierenden
Gewerbes (ohne Bauhauptgewerbe) erwirtschaftete der Energiesektor sogar die Hälfte (48,6 %) der
Wertschöpfung.
156
Im nördlich gelegenen Landkreis Spree-Neiße sehen die Zahlen ähnlich aus. Dort
macht aufgrund der Bergbau- und Energiewirtschaft das produzierende Gewerbe 68 % der gesamten
Bruttowertschöpfung aus.
157
Insgesamt erzielte die Braunkohlewirtschaft im Lausitzer Revier im Jahr 2016 nach derzeit
vorliegenden Berechnungen des RWI eine Bruttowertschöpfung von knapp über 1,2 Mrd. Euro, was
einem Anteil an der Wertschöpfung in der Region von 4,3 % entspricht.
158
Die LEAG selber beziffert
ihre jährliche Wertschöpfung im Lausitzer Revier mit rund 1,4 Mrd. Euro.
Zu den gut 8.000 direkt bei der LEAG in der Bergbau- und Energiewirtschaft Beschäftigten kommen
nach nachvollziehbaren Schätzungen noch einmal rund 500 Unternehmen mit ca. 16.000
Arbeitnehmern hinzu, die als Service- und Zuliefererbetriebe unmittelbar und mittelbar von der
Kohle- und Energiewirtschaft abhängen (bei unterschiedlichen Abhängigkeitsgraden und regionaler
Verortung innerhalb und außerhalb des Reviers).
159
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in den
letzten Jahren weitere große industrielle Arbeitgeber in der Region vor großen Schwierigkeiten
standen.
155
Vgl. Ableitung der Beschäftigtenzahlen in Kapitel 3.4.
156
Statistisches Landesamt Sachsen 2017.
157
Landesamt für Bauen und Verkehr Brandenburg.
158
RWI 2018b.
159
Vgl. Ableitung der Beschäftigtenzahlen in Kapitel 3.4.
86
Das Braunkohlerevier ist heute einer der wichtigsten Industriestandorte in der Lausitz. Es hat den
Anspruch, ein Industriestandort zu bleiben und dabei eine moderne, attraktive, zukunftsgerichtete
Wirtschaftsregion zu werden. Obgleich es in der Region eine Vielzahl eher kleinerer industrieller,
gewerblicher und handwerklicher Arbeitgeber gibt, ist die Durchdringung der Region mit industrieller
Produktion – etwa im Chemiebereich, im Kraftwerkskomponenten- sowie im Schienenfahrzeugbau,
bei Kunststoff- oder Metallverarbeitung – ausbaufähig.
Der Gradmesser für erfolgreiche Strukturwandelpolitik wird daher die Stärkung der Lausitz als
Industriestandort sein: Ziel ist es, auf Basis vorhandener Potenziale in gemeinsamem Engagement
von Bund, den Ländern Brandenburg und Sachsen, Kommunen und Landkreisen, Sozialpartnern
sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren eine attraktive und zukunftsgerichtete Wirtschaftsregion mit
neuen Wertschöpfungsketten aufzubauen. Auch die Lausitz soll eine europäische Modellregion für
den Strukturwandel werden.
Dazu müssen die erkennbaren Defizite in den Infrastrukturen behoben werden, wie beispielsweise
eine lückenhafte Ausstattung mit digitaler Infrastruktur und Defizite in der Verkehrsinfrastruktur
(Straße, Schiene und Wasser). Im Fall der Lausitz geht es dabei insbesondere um die dringend
notwendige, verbesserte Anbindung an die umliegenden Metropolräume.
160
Der Mangel an
attraktiven Mobilitätsverbindungen zwischen den ländlichen Regionen und den Metropolräumen
erweist sich heute als wesentliches Hindernis für die Gewinnung dringend benötigter Fachkräfte.
Für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sind junge, tatkräftige Fachkräfte notwendig. In der
Lausitz muss deshalb der demografischen Entwicklung und dem damit verbundenen rückläufigen
Erwerbspersonenpotenzial entgegengewirkt werden, da der Wettbewerb um gut qualifizierte
Fachkräfte zukünftig ohnehin bundesweit weiter zunehmen wird. Die gut ausgebildeten Fachkräfte
aus dem Braunkohlesektor sind daher eine wertvolle Ressource für die zukünftige
Strukturentwicklung. Im Kontext der schrittweisen Reduzierung der Braunkohleverstromung kommt
der Sicherung und dem Ausbau von Ausbildungsplätzen sowie der gezielten Anwerbung neuer
Fachkräfte eine besondere Bedeutung zu. Die attraktiven Ausbildungsstandorte der LEAG sollten
unbedingt erhalten und weiterentwickelt werden. Im bundesweiten Wettbewerb um gut qualifizierte
Fachkräfte können diese gewachsenen Ausbildungsstrukturen genutzt werden, zudem müssen zur
Steigerung der Attraktivität der Gesamtregion ansprechende soziale Infrastrukturen und
Freizeitmöglichkeiten geschaffen werden.
Der flächendeckende Ausbau der digitalen Infrastruktur in ein hochmodernes, gigabitfähiges Netz auf
Glasfaserbasis ist ebenfalls unerlässliche Grundlage für wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven und
wettbewerbsfähige Standortbedingungen zur Gewinnung neuer Investoren. Das Lausitzer Revier
benötigt klare Zusagen des Bundes, um die notwendigen langfristigen Planungsprozesse umgehend
anzustoßen.
Die Steigerung der Innovations- und somit Wettbewerbsfähigkeit in der Lausitz spielt eine zentrale
Rolle im Strukturentwicklungsprozess. Anknüpfend an bestehende Kompetenzen und
Forschungsprofile gibt es Potenziale für weitere technologieorientierte Ausgründungen. Dabei spielt
die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Existenzgründungen eine wichtige Rolle. Das
bestehende Innovationssystem der Lausitz soll weiter ausgebaut werden, um Spillover-Effekte zu
erzeugen. Weiterhin könnten außeruniversitäre Forschungseinrichtungen der Max-Planck- und der
Fraunhofer-Gesellschaft, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und anderer
Zentren der Helmholtz-und Leibniz-Gemeinschaften gezielt in der Lausitz angesiedelt und mit den
160
Vergleiche auch beispielsweise die Ausführungen zur Lage, Siedlungsstruktur und der
Infrastrukturausstattung der Reviere in Kapitel 3.4.
87
bestehenden Forschungseinrichtungen verknüpft werden, um Forschungs- und
Entwicklungspotenziale zu heben.
Bedeutende Branchen im Lausitzer Revier sind neben der Energiewirtschaft im industriellen Bereich
die Ernährungswirtschaft, die Chemie-, Papier-, Glas-, Gips- und Kunststoffindustrie, die
Metallerzeugung und -bearbeitung und das Herstellen von Metallerzeugnissen, insbesondere im
Leichtbau. Weiterhin sind der Maschinenbau inkl. Fahrzeugbau/ Fahrzeugteilen und auch das
Herstellen elektrischer und optischer Erzeugnisse und Ausrüstungen zu nennen. In jüngerer Zeit ist
der Tourismus hinzugekommen (Görlitz, Lausitzer Seenland). Darüber hinaus bestehen im
Dienstleistungssektor gute Anknüpfungspunkte im Bereich Logistik und Mobilität.
Unter Einbindung der Universitätsstandorte Dresden und Cottbus besteht eine ausgeprägte und in
Teilen bereits heute exzellente universitäre wie außeruniversitäre Forschungslandschaft mit
besonderen Entwicklungsschwerpunkten bzw. Entwicklungsvoraussetzungen in den Bereichen
Energie, Mobilität, Bioökonomie/ Ressourceneffizienz, Gesundheit/ Kultur/ Tourismus und Künstliche
Intelligenz.
Das Lausitzer Revier besitzt wichtige Grundlagen, um auch unter veränderten energiepolitischen
Rahmenbedingungen weiterhin eine starke Energieregion zu bleiben. Die energiespezifischen
Kompetenzen der Region bieten die Möglichkeit, die europaweit zu beobachtenden Veränderungen
der Energiesysteme von derzeit zentralen zu zukünftig weitgehend dezentralen Strukturen zu
begleiten. Darüber hinaus können im Rahmen einer Clusterstrategie die bestehenden
wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Strukturen mit für die Region passenden Entwicklungstrends
verknüpft werden:
Lausitzcluster Energie (LCE): Energieregion bleiben
Anknüpfend an die bestehenden Kompetenzen in den Bereichen Energietechnik und
Ressourceneffizienz, die vorhandenen Forschungskapazitäten, die verfügbare Infrastruktur bei
Strom und Gas sowie das Angebot geeigneter Flächen nutzt die Lausitz den Trend der
Dekarbonisierung im Energiesektor, um mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, der
großtechnischen Produktion von Wasserstoff, der energetischen Gebäudesanierung und dem
energieoptimierten Stadt- und Dorfumbau neue, auch industriefähige Wertschöpfungsketten
aufzubauen. Die Kraftwerksstandorte in Boxberg, Jänschwalde und Spremberg werden zu
Industrieparks neuer Generation mit Fokus auf Nutzung von erneuerbaren Energien und deren
Umwandlung zu langfristig verfügbaren Energieträgern für die Wirtschaft umgestaltet.
Lausitzcluster Mobilität (LCM): Modellregion für klimafreundliche, moderne Mobilität
In der Region sollen verschiedene Formen klimafreundlicher Mobilität erforscht, getestet und
angewendet werden. Speichertechniken und Produktion, die Arbeit an innovativen
Antriebstechniken, die Entwicklung und Produktion von Leichtbaumaterialien für Straße und
Schiene, die Herstellung von Hightech-Materialien als Komponenten für die Mikroelektronik
oder integrierte Verkehrskonzepte bieten erhebliches Potenzial.
Lausitzcluster Bioökonomie und Ressourceneffizienz (LCBR): Marktführer beim schonenden
Einsatz fossiler und begrenzter Ressourcen und biogener Grundstoffe
Anknüpfend an bestehende Ressourcen, Netzwerke und Unternehmen (z. B. biosaxony, Silicon
Saxony, BASF) bieten sich vielfältige Anwendungsbereiche in der Herstellung neuer Grundstoffe
für die Pharma- und Chemieindustrie, die regenerative Medizin, Landwirtschaft und
Lebensmittelproduktion und auch für international gefragte Kompetenzen des Umgangs mit
Bergbaufolgelandschaften.
Lausitzcluster Gesundheit und Tourismus (LCGT): Beste gesundheitliche Versorgung und
individuelle Erholung
88
Die Sicherung gesundheitlicher Versorgung auf hohem Niveau baut auf eine enge Kooperation
ambulanter und stationärer Einrichtungen unter Nutzung der medizinischen Fakultät und des
Universitätsklinikums Dresden und eines Verbundes regionaler Krankenhäuser. Für den
absehbar wachsenden Bedarf an Pflegekräften wird mit der European Medical School eine
zentrale Ausbildungsstätte geschaffen. Ein Schwerpunkt des Clusters werden Forschung und
Innovationen rund um Robotik und Digitalisierung sein. Bereits bestehende mittelständische
und auch handwerkliche Strukturen in der Medizintechnik, der Werkstofftechnik oder im
Bereich Spezialtextilien bieten erhebliche Potenziale. Darüber hinaus kann das touristische
Angebot gezielt durch Wellness- und gesundheitsorientierte Angebote ausgebaut werden.
Lausitz Campus künstliche Intelligenz (LCKI): Die Lausitz wird zu einem der europäischen
Entwicklungsstandorte für künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz bestimmt die Dynamik der digitalen Revolution. Die Schaffung eines
besonderen Ortes der Begegnung zwischen Spitzenforschern aus Informatik, Ingenieurs-,
Mathematik- und Naturwissenschaften sowie Medizin und Pharmakologie mit
anwendungsorientierter Forschung der jeweiligen Unternehmensbereiche ermöglicht Synergien
und Sprünge von der Grundlagenforschung in die Lebenspraxis der Anwendung. Hier besteht
auch eine Verknüpfung zu den bereits genannten anderen Clustern. Der KI Campus Lausitz wird
dabei zunächst durch Ausgründungen aus und unter dem Dach der Exzellenzuniversität Dresden
an einem attraktiven Standort in der Lausitz gegründet und gemeinsam mit den
außeruniversitären Forschungsinstitutionen der Region ausgebaut und genutzt. Der Smart
System Hub Dresden unterstützt auch diese Entwicklung. Die IT-technische Ausstattung mit
hochleistungsfähiger Netzinfrastruktur sowie der nächsten Generation eines
Hochleistungsrechners sind wesentliche Voraussetzungen.
In der Lausitz gibt es zahlreiche Akteure, die ihren Beitrag zur Entwicklung der Region leisten. Für die
erfolgreiche Steuerung des Strukturwandels ist eine länderübergreifende Organisation (Sachsen und
Brandenburg) unter Beteiligung des Bundes notwendig. Kommunale Gebietskörperschaften sind zu
beteiligen. Mit der von der Wirtschaft der Lausitz getragenen Innovationsregion Lausitz GmbH (IRL)
und der von der kommunalen Ebene getragenen Wirtschaftsregion Lausitz GmbH (WRL), der
Lausitzrunde und vielfältigen weiteren Initiativen, Sozialpartnern, Vereinen und Verbänden verfügt
die Lausitz bereits heute über regionale Strukturen, an die im Zuge der weiteren Strukturentwicklung
angeknüpft werden kann. Die IRL unterstützt seit zwei Jahren Unternehmen darin, neue Produkte zu
entwickeln und neue Märkte zu erschließen und so unabhängiger von Aufträgen der
Braunkohleindustrie zu werden. Unterstützt durch eine gemeinsame Förderung des
Bundeswirtschaftsministeriums, des Freistaates Sachsen und des Landes Brandenburg in Höhe von
7,3 Mio. Euro wird in der Lausitz derzeit einen Leitbildprozess aufgesetzt, dessen Ergebnisse bei der
Umsetzung der Ergebnisse der Arbeit der Kommission berücksichtigt und einbezogen werden
sollten.
161
5.1.3. Rheinisches Revier
Historisch begünstigt durch die Strom- und Wärmeversorgung im Rheinischen Braunkohlerevier
entwickelten sich in dieser Region eine Reihe von Industrien, für welche Strom, Gas und Wärme
unabdingbare Einsatzfaktoren sind. Auch heute hat der industrielle Einsatz von Energie im
Rheinischen Revier eine deutlich größere Bedeutung als im Landes- und Bundesdurchschnitt,
weshalb Wohlstand und Beschäftigung in dieser und den angrenzenden Regionen in besonderem
Maße von einer wettbewerbsfähigen Energieversorgung abhängen. Maßgeblich ist der
161
Die Zukunftswerkstatt Lausitz ist ein Projekt der WRL. Gemeinsam mit Experten, Unternehmen, Verbänden
Wissenschaftlern, Gewerkschaften und Vertretern der Zivilgesellschaft der Region soll bis 2020 ein einheitliches
Leitbild für die Lausitz entwickelt werden. Siehe auch:
.
89
überdurchschnittliche Anteil energieintensiver Industrien an der Wertschöpfung. Die in diesen
Branchen erzielte Wertschöpfung beträgt 7,1 Mrd. Euro bei 32 Mrd. Euro Umsatz.
Für die Braunkohlewirtschaft ist von rund 9.000 direkt Beschäftigten auszugehen. Damit
verbunden sind weitere 18.000 indirekt oder induzierte Beschäftigte innerhalb oder außerhalb
der hier vorgenommenen Revierabgrenzung.
162
Neben der stromintensiven Industrie mit 93.000
Beschäftigten
163
sind weitere Industriezweige im Rheinischen Revier – wie auch in den anderen
Revieren – derzeit von der Braunkohlenutzung abhängig.
Im Rheinischen Revier betrug die Bruttowertschöpfung im Braunkohlesektor in 2016 etwa 1,7 Mrd.
Euro. Der Anteil der regionalen Wertschöpfung insgesamt lag damit bei rund 2,4 %.
164
RWE schätzte
seinen direkten Beitrag zur Wertschöpfung im Rheinischen Revier auf rund 2,0 Mrd. Euro pro Jahr.
Daraus wird ersichtlich, dass auch im Rheinischen Revier die Herausforderungen erheblich sind.
Zugleich gibt es aber auch gute Chancen für einen gelingenden Strukturwandel, sofern die
Rahmenbedingungen richtig gesetzt werden und die Förderungen ausreichend dimensioniert sind.
Die Region verfügt über eine Reihe von Standortvorteilen im Vergleich zu den anderen Revieren. Mit
Aachen und Mönchengladbach gehören zwei Oberzentren zur Region. Zu nennen ist auch die Nähe
zu den Zentren des angrenzenden Rheinlands (Bonn, Köln, Leverkusen und Düsseldorf). Die (Energie-)
Infrastrukturausstattung und die Anbindung sind gut, müssen aber an die neuen Herausforderungen
angepasst werden: So muss das Revier selbst im anstehenden Transformationsprozess
infrastrukturell umfassend neu erschlossen werden. Vorteilhaft ist weiter, dass die Region über eine
sehr gute Hochschul- und Forschungslandschaft verfügt. Hierzu gehören beispielsweise die RWTH
Aachen, das Forschungszentrum Jülich sowie mehrere Universitäten, Fachhochschulen und
Technische Hochschulen.
165
Das Rheinische Revier kann ferner auf seine starke Wirtschaftsstruktur aufbauen. Neben der
Energiewirtschaft und den energieintensiven Industrien zählen dazu beispielsweise Unternehmen
aus den Bereichen Ressourceneffizienz, Mobilität und Logistik. Auch in den Bereichen
Digitalwirtschaft sowie der Landwirtschaft bestehen Anknüpfungspunkte.
Schließlich ist das Rheinische Revier bereits vorangeschritten beim Aufbau von Strukturen, um den
Strukturwandelprozess zu begleiten bzw. zu unterstützen. Mit der Zukunftsagentur Rheinisches
Revier wurde eine Institution geschaffen, die die Rolle einer zentralen Koordinations-Plattform im
Revier übernimmt und mit den anderen regionalen Akteuren vernetzt ist.
Im Rheinischen Revier besteht die Besonderheit des Vernetzungsgrades und der Abhängigkeit der
Wertschöpfungsketten untereinander. Im räumlichen Umgriff der Tagebaue besteht ein gegenseitig
aufeinander aufbauendes, eng miteinander verflochtenes Netz von energieintensiven Unternehmen
und kohleaffinen Produktionslinien. In diesem Sinne sind energiepolitische Beschlüsse in ihren
Konsequenzen v.a. im Rheinischen Revier auch auf ihre unmittelbaren Wirkungen auf die
Wertschöpfungsnetzstruktur abzuwägen.
Zur Schaffung neuer Wertschöpfungsketten und zukunftssicherer Arbeitsplätze bestehen folgende
Ansatzpunkte:
166
162
Vgl. Ableitung der Beschäftigtenzahlen in Kapitel 3.4.
163
frontier economics (2018): Die Bedeutung des Wertschöpfungsfaktors Energie in den Regionen Aachen, Köln
und Mittlerer Niederrhein. Kurzstudie im Auftrag von IHK Aachen, IHK Köln und IHK Mittlerer Niederrhein.
164
RWI 2018b.
165
Siehe auch die Analyse der strukturpolitischen Ausgangslage in Kapitel 3.4.
166
Siehe auch Zukunftsagentur Rheinisches Revier 2018: Eckpunkte eines Wirtschafts- und Strukturprogramms.
90
Energie und Industrie:
Das Rheinische Revier soll sich als Energierevier der Zukunft positionieren
und ein Modellstandort im künftigen Energiesystem werden. Als konkrete Maßnahmen werden
beispielsweise die Etablierung eines regionalen Energiemanagements, z. B. das Quirinus Projekt
der SME, und der Aufbau eines Campus für Low Carbon-Technologien für die energieintensive
Industrie genannt. Weiterhin ist das Rheinische Revier Standort wichtiger Betriebssitze von
RWE, von vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen der Energiewirtschaft, von
Unternehmen der energieintensiven Industrie und einer ausgefeilten Universitäts-, Hochschul-
und Forschungsinfrastruktur mit internationaler Exzellenz in Energie und Produktion.
Innovation und Bildung:
Das Revier soll eine wegweisende Gründungskultur entwickeln
(„Innovation Valley Rheinland“). Ausgründungen aus Hochschulen und wissenschaftlichen
Einrichtungen führen zu neuen Ansiedlungen im Revier. Hierfür werden beispielsweise
Hochschulerweiterungen (z. B. TH Köln Campus Rhein-Erft) und die Errichtung von fünf
Innovation Hubs und Gründerzentren im Rheinischen Revier (u.a. Brainergy Hub Jülich) in den
Blick genommen.
Raum und Infrastruktur:
Hierzu zählt etwa die Nachnutzung von Kraftwerksstandorten, das
Schaffen von Modellquartieren und die Schaffung eines multifunktionalen Landschaftsparks. Die
zukunftsfähige Neuausrichtung des Rheinischen Reviers erfordert außerdem den Ausbau
geeigneter Verkehrsinfrastrukturen, um den Raum zu erschließen und dessen
Entwicklungspotenziale optimal an die großen Ballungszentren wie Köln, Düsseldorf,
Mönchengladbach und Aachen anzubinden. Neue intelligente Verkehrsangebote in Kombination
mit innovativen Technologien und Antriebssystemen (schnelle Radwege, Ausbau
Schienenverkehr, neue Verkehrstrassen und Brücken sowie notwendige Lückenschlüsse, Ausbau
klimaneutraler Mobilität im ländlichen Raum, Aufbau smarter Logistik-Zentren, Ausbau von
Mobilstationen und des ÖPNV etc.) können dabei helfen, Distanzen leichter zu überwinden und
urbane wie ländliche Qualitäten besser miteinander zu verknüpfen.
Ressourcen und Agrobusiness:
Unter dieser Überschrift wird die Entwicklung einer
Modellregion für geschlossene Stoffkreisläufe und Kreislaufwirtschaft, die Etablierung neuer
Wertschöpfungen im Bereich der Bioökonomie in Kooperation mit renommierten
Forschungsinstituten (insbesondere FZ Jülich) und Unternehmen der Region sowie die
Entwicklung einer Modellregion zur Digitalisierung in der Medizin als Beitrag zur Sicherung der
medizinischen Versorgung im ländlichen Raum und innovative Produkte für die
Gesundheitswirtschaft zusammengefasst.
Zuständig für den Strukturwandel im Rheinischen Revier ist die Zukunftsagentur Rheinisches Revier.
Die Zukunftsagentur muss in Zusammenarbeit mit Bund und Land sicherstellen, dass in der Region
eine auf den Stärken der Region aufbauende Entwicklung mit wirkungsvollen Impulsen versehen
wird. Dazu arbeitet sie mit allen Akteuren der Region zusammen, mit den Kommunen, der
Wirtschaft, den Sozialpartnern und Verbänden und der Zivilgesellschaft. Es ist zu begrüßen, dass sich
im Rheinischen Revier ein Arbeitskreis zivilgesellschaftlicher Organisationen und engagierter
Einzelpersonen gebildet hat, der sich mit seinem Konzept „Lebensraum Rheinisches Revier – gutes
Leben und gute Arbeit“ an einer Gestaltung der Region beteiligt.
167
Darüber hinaus ist zu prüfen, wie Zulieferer aus Mittelstand und Handwerk in besonderem Maße bei
der Entwicklung eigener Zukunftsperspektiven unterstützt werden können. Dazu gehört auch, die
167
Koordinierungskreis Strukturwandel (2018): Lebensraum Revier – gutes Leben und gute Arbeit.
Revierperspektiven: Aus dem Revier – Für das Revier. Zivilgesellschaftliches Konzept 10/2018. online:
https://revierperspektiven-rheinland.de/wp-content/uploads/2019/01/Revierperspektiven-
Rheinland_2019_01.pdf
.
91
Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die neuen
Herausforderungen anzupassen und diese zu schulen.
5.1.4. Mitteldeutsches Revier
Das Mitteldeutsche Revier ist durch seine Nähe zu den erstarkenden Wissenschafts- und
Wirtschaftsstandorten Leipzig, Halle an der Saale, Merseburg, Magdeburg und Jena geprägt. Es
herrscht dabei immer noch sehr starkes Gefälle zwischen Stadt und Umland. Die Region ist seit jeher
durch Veränderungen und Innovationen gekennzeichnet. In Zukunft soll das Mitteldeutsche Revier
Teil einer Region sein, die zu den führenden Metropolregionen Mitteleuropas zählt, sowohl durch
ihre Wirtschaftskraft und ihre exzellente Bildungslandschaft, als auch durch ihren kulturellen
Reichtum und ihre hohe Lebensqualität. Insbesondere in den Bereichen der Chemie und Energie,
Automotive/Logistik sowie Life Science wird sie als Innovationshub Antworten auf die wesentlichen
Zukunftsfragen entwickeln, indem sie nicht nur der traditionellen Industrie, sondern auch für
Startups und Kreative hochattraktive Bedingungen bietet. Diese Entwicklung setzt entsprechende
Strukturfördermaßnahmen voraus und wird mehrere Jahrzehnte dauern.
Logistik- und Automobilsektor:
Mit seiner Logistikdrehscheibe Leipzig/Halle, mit führenden
internationalen Mobilitätsunternehmen wie BMW und Porsche sowie der umliegenden
Zulieferindustrie, wird rund um Leipzig an der Mobilität der Zukunft geforscht, entwickelt und
gebaut. Die bestehenden Wertschöpfungsketten im Automobil- und Mobilitätssektor werden
ausgeweitet. Dies schließt die Entwicklung von neuen Antriebskonzepten (Batteriezellen,
wasserstoffbasierte Brennstoffzelle etc.) – auch im Hinblick auf die Biologistik – ebenso mit ein
wie die Entwicklung neuer Verkehrs-, Elektromobilitäts- und Logistikkonzepte. Das
Mitteldeutsche Revier bietet aufgrund seiner zentralen Lage ideale Voraussetzungen für den
weiteren Ausbau als europäischer Logistikhub.
Digitalisierung, Kreativität, Bildung und Smart Region:
Mitteldeutschland wird einer der
Vorreiter bei der Digitalisierung der industriellen Wertschöpfungsketten sein. Daraus entstehen
Fabriken der Zukunft, in denen mit möglichst geringem Energieverbrauch, einer optimierten
CO2-Bilanz, digital-smarten Produktionslösungen und 5G-Konnektiviät rationell und
ressourcenschonend die vierte industrielle Revolution stattfindet. Als Wissens-, Forschungs-,
Transfer- und Bildungsregion verfügt das Mitteldeutsche Revier hierfür über ideale
Voraussetzungen. Mit den traditionsreichen Universitäten Leipzig und Halle, der Hochschule für
Technik, Wirtschaft und Kultur, der Hochschule Merseburg und der innovativ aufgestellten
Handelshochschule Leipzig existiert ein hohes Zukunftspotenzial, welches es zu nutzen gilt. Dazu
plant die Universität Halle die Wiederetablierung der Technikwissenschaften und ein
Strukturwandelinstitut in Zusammenarbeit mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen
und der Stadt Halle. Leipzig und Halle werden sich künftig als Smart Cities etablieren. Der Smart
Infrastructure Hub Leipzig und der Smart Systems Hub Dresden bieten vertiefte
Ansatzmöglichkeiten für die Entwicklung neuer Verkehrs- und Elektromobilitätskonzepte. In der
Universitätsstadt Halle werden Grundlagen für einen autonomen und hochautomatisierten
ÖPNV etabliert.
Das Zusammenwirken von Forschung und Entwicklung einerseits und einer leistungsfähigen
Kliniklandschaft sowie Unternehmen andererseits schafft zusätzliche Synergien für einen
hochentwickelten Life-Science-Cluster, der sich insbesondere im Bereich E-Health, Biotech und
KI-basierter Diagnostik als besonders leistungsfähig erweist.
Um die Region als lebendiges Zentrum der Medienwirtschaft mit nationaler und internationaler
Strahlkraft weiter zu entwickeln, werden die bestehenden Strukturen am Medienstandort Halle-
Leipzig als innovative und kreative Ausbildungs- und Lernort verstärkt, der Medienschaffenden
92
der Zukunft praxisnah und interdisziplinär Fähigkeiten und Kenntnisse für die
Herausforderungen der Gestaltung der sich rasant verändernden Medienwelt vermittelt.
Multifunktionale Zentren verbinden Kultur, Kreativwirtschaft, Wissenschaftskommunikation und
Gesellschaft und fördern kreative Entwicklungspotenziale. Bildungs-, Qualifizierungs-, Aus- und
Weiterbildungsmöglichkeiten schaffen die Basis für zukünftige hochwertige
Industriearbeitsplätze und unterstützen ein Lebenslanges Lernen über vernetzte Angebote,
Initiativen für digitale Lehr- und Lernmethoden und -kompetenzen vor allem in den Mittel- und
Grundzentren des Reviers.
Chemische Industrie und Energiewirtschaft:
Die chemische Industrie ist, wie auch die
Lebensmittel- und Zuckerindustrie, für das Mitteldeutsche Revier ein unverzichtbarer
Wirtschaftszweig, der eng mit der Energiewirtschaft verzahnt ist. Die Kraftwerksstandorte in der
Region sind strukturell mit der chemischen und energieintensiven Industrie verbunden. Es
besteht eine ressourcenschonende, regionale industrielle Symbiose, für die ein hohes Maß an
Versorgungssicherheit notwendig ist. Dabei stellt der Prozessdampf der Kraftwerke einen
integralen Teil der industriellen Symbiose der chemischen Industrie dar. Des Weiteren sorgen
die Kraftwerke der Region über Kraft-Wärmekopplung für eine verlässliche Wärmeversorgung
z.B. der Oberzentren Leipzig und Halle sowie angrenzenden Ortschaften. Der Strukturwandel in
der mitteldeutschen Braunkohleregion ist wegen der parallelen Transformation der Industrie zu
nachhaltigen Strukturen und der miteinander verflochtenen Wertschöpfungssysteme eine
besonders hohe Herausforderung. Durch Innovation und Digitalisierung werden im
Mitteldeutschen Revier Energiesysteme der Zukunft geschaffen und der Grundstein für den
Umbau zu einer nachhaltigen Energieregion gelegt. Der Verlust des preisgünstigen
Prozessdampfes und der Wärme aus der Braunkohlverstromung wird kompensiert werden,
indem alternative und preisgünstige Versorgungskonzepte für die Unternehmen entwickelt und
unterstützt werden. Die Entwicklung neuer, verwendungsoffener Technologien soll forciert und
der Aufbau von Demonstrationsanlagen bis hin zu Reallaboren vorangebracht werden. Dazu
werden industrielle Cluster nachhaltig und unter Berücksichtigung neuer wissenschaftlicher und
technologischer Erkenntnisse weiterentwickelt und eine zirkuläre Kohlenstoffwirtschaft
etabliert.
Gemeinsame Forschung und Entwicklung von Wirtschaft und Wissenschaft muss folgendes
voranbringen: die Entwicklung neuer, verwendungsoffener Technologien mit Anschlussfähigkeit
an das vorhandene industrielle Erbe als Entwicklungspotenziale für die Zukunft, den Aufbau von
Demonstrationsanlagen für grünen Wasserstoff und zur stofflichen Nutzung der Braunkohle und
Plastikmüll für die chemische und petrochemische Industrie (Reallabor GreenHydroChem) bis
hin zu technologischen Systemen mit Nachweis der Funktionstüchtigkeit im Einsatzbereich
(Reallabore), die Hebung von Potenzialen und Kooperationen der angewandten
außeruniversitären und universitären Forschungslandschaft im Mitteldeutschen Revier und die
Förderung innovativer und nachhaltiger Technologien sowie Geschäftsmodelle, beispielsweise
durch den Aufbau spezieller Technologietransfer- und Gründerzentren . Die im Rahmen des
BioEconomy-Clusters laufenden Forschungen zur verstärkten Nutzung der Biomasse als Rohstoff
werden intensiviert.
Glasindustrie:
Mit der modernen Glasbranche verfügt das Mitteldeutsche Revier über eine
zukunftsträchtige Branche. Um den wirtschaftlichen Schwerpunkt des Glasbaus mit seinen
Werten und Expertisen zu stärken, ist die Gründung des Glascampus Torgau - Professional
School - für die Glas-, Keramik- und Baustoffindustrie im Mitteldeutschen Revier zu
unterstützen.
93
Innovationshub und lebenswerte Heimat:
Das Revier gewinnt seine hohe Lebensqualität aus
dem Ineinandergreifen bzw. der Vernetzung städtischer und ländlicher Räume mit urban-vitalen
Quartieren und einer vielseitigen Kulturlandschaft sowie Bergbaufolgelandschaft hoher Umwelt-
und Lebensqualität, was es nicht nur als lebenswerte Wachstumsregion, sondern auch
touristisch und für Naherholung interessant macht.
Da Landflucht, Abwanderung und demografischer Wandel das Mitteldeutsche Revier vor große
Herausforderungen stellen, ist diese Region prädestiniert, als Modell- bzw. Laborregion an der
Entstehung neuer technologischer Lösungen aktiv mitzuwirken. Hierbei ist die Frage, wie wir in
Zukunft leben wollen, sowohl vom ländlichen Raum her als auch im Kontext der Stadt-Umland-
Beziehung zu denken.
Im Dreieck um Zeitz, Naumburg und den Raum Leipzig einschließlich Borna soll eine Modell- und
Laborregion Deutschlands und Europas entstehen, in der neue Technologien, Produkte und
Dienstleistungen für das Leben von morgen entwickelt und erprobt werden. Mit einem
Zukunftsinstitut Zeitz wird ein Ort geschaffen, in dem das Leben von morgen neu gedacht und
entwickelt werden soll. Das Zukunftsinstitut Zeitz soll sich sowohl mit den Fragestellungen
auseinandersetzen, wie wir morgen leben wollen bis hin zu Lösungsansätzen, wie es gelingen
kann, den ländlichen Raum besser mit der Stadt zu vernetzen. Den Mittelpunkt bildet die
Erforschung hochkomplexer IT-Systeme als Basis für neue technologische Produkte und
Dienstleistungen. Das Institut gibt den notwendigen Freiraum, kreativ, querdenkend und
innovativ zukunftsweisende Lebenskonzepte zu entwickeln und zu erproben. Bei der
Entwicklung dieser Smart Region sollen die Bedürfnisse der Menschen im Fokus stehen. Es geht
darum, zukunftsweisende Lösungen u.a. für die Gesundheitsversorgung, das Bildungsangebot,
eine bürgerfreundliche Verwaltung, Mobilität und Daseinsvorsorge sowie die bessere
Vernetzung von Stadt und Land zu entwickeln.
Der Förderung nachhaltiger Innovationen sowie deren Transfers in die regionale Industrie
kommt im Mitteldeutschen Revier eine besondere Bedeutung zu. Durch die weitgehende
Abwesenheit von Konzernzentralen, an denen Forschungs- und Entwicklungsaktivtäten oft
zentralisiert sind, liegt die FuE-Quote im Mitteldeutschen Revier deutlich unter dem
Bundesdurchschnitt. Eine gezielte Förderung stärkt das innovative endogene Potential der
Region. Hierbei kann unter anderem an die Forschungsprojekte HYPOS und CarbonTrans, die
Arbeiten des BioEconomy-Clusters, des Fraunhofer Reviernetzwerks sowie des Leistungs- und
Transferzentrums Chemie- und Biosystemtechnik angeknüpft werden. Mit einem
interdisziplinären Institut für Strukturwandel und Biodiversität werden an der Martin-Luther-
Universität Halle-Wittenberg werden unter Einbindung von Professuren für
Naturwissenschaften, Umweltwissenschaften, Technik, Recht und Ökonomie der anstehende
Strukturwandel auf wissenschaftlicher Basis begleitet.
Das Revier gewinnt eine hohe Lebensqualität aus dem Ineinandergreifen und der Vernetzung
städtischer und ländlicher Räume mit urban-vitalen Quartieren und einer vielseitigen
Kulturlandschaft sowie Bergbaufolgelandschaft mit einer hohen Umwelt-, Lebens- und
Wohnqualität, was es nicht nur zu einer lebenswerten Wachstumsregion, sondern auch
touristisch und für Naherholung anziehend macht. Vielfältige Kultur- und Tourismusangebote
zwischen Tradition und Moderne, Landschaft und Landwirtschaft, Genuss und Gesundheit
machen die Region als Lebens- und Urlaubsort über die Reviergrenzen hinaus attraktiv.
Traditionsbewusstsein und Geschichte werden befördert und schaffen Identifizierung mit dem
Revier. Der Auf- und Ausbau vernetzter Mobilitätsangebote und attraktiver
Verkehrsinfrastrukturen sollen den Zugang zu Wohn- und Arbeitsorten, Kultur, Wissenschaft,
Informationen und Märkten eröffnen. Modernste Ausstattungen in Arztpraxen und
94
Krankenhäusern sowie telemedizinische Angebote sichern die Gesundheitsversorgung
zuverlässig ab. Zeitgemäße und flexible Kinderbetreuung sowie Schul- und Bildungsangebote
nach internationalen und modernsten Standards bilden wichtige Ankerpunkte für junge
Familien. Ein nachhaltig einsetzender Dialogprozess mit der Bevölkerung vor Ort soll diese
Entwicklung flankieren und befördern.
5.1.5. Im gesamten Bundesgebiet
Die schrittweise Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung wirkt sich auch außerhalb der
Braunkohlereviere auf die Energiewirtschaft aus. Im Fokus stehen die Standorte vieler
Steinkohlekraftwerke. Ende 2017 waren bundesweit 81 Kraftwerksblöcke auf Steinkohlebasis mit
einer Leistung von 22,7 GW und rund 5.700 Beschäftigten im Markt aktiv.
Steinkohlekraftwerke sind über das gesamte Bundesgebiet verteilt, konzentrieren sich jedoch in den
ehemaligen Steinkohle-Bergbaurevieren Ruhr- und Saarrevier, in Baden-Württemberg, in den
Küstenregionen und entlang der Binnenwasserstraßen, da hier kostengünstige
Transportmöglichkeiten für Importsteinkohle vorhanden sind. Der größte Teil der heute in Betrieb
befindlichen Anlagen ist älter als 30 Jahre, etwa ein Viertel (6.232 MW) ging seit dem Jahr 2010 in
Betrieb.
Die großen Steinkohle-KWK-Wärmeproduzenten zur Versorgung der Industrie befinden sich vor
allem in einigen Chemieparks in Nordrhein-Westfalen. Diese verfügen über eine geringe elektrische
Leistung. Die Steinkohle-KWK-Anlagen in Industrieparks wurden vor 1990 errichtet. Unabhängig von
klimapolitischen Erwägungen besteht also technisch bedingt Erneuerungsbedarf.
Der Einsatz deutscher Steinkohle in der Stromerzeugung sank von 45,8 Mio. t (1984) auf 3,9 Mio. t
(2017). Im Jahr 2007 einigten sich der Bund sowie Nordrhein-Westfalen und das Saarland mit der
RAG AG und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie grundsätzlich darauf, die
Steinkohlesubventionen abzubauen und den subventionierten Steinkohlenbergbau bis Ende des
Jahres 2018 sozialverträglich zu beenden. Anders als im Falle der Braunkohlewirtschaft, für die weiter
Tagebaue betrieben werden, findet Beschäftigung in der Steinkohlewirtschaft in Zukunft daher
ausschließlich in Kraftwerken statt. Für den Zeitraum von 2009 bis 2019 hat der Bund zur
Finanzierung des Absatzes deutscher Steinkohle für den Einsatz in Kraftwerken und zur
Stahlerzeugung im Hochofenprozess sowie als Aufwendungen der Bergbauunternehmen infolge
dauerhafter Stilllegungen bis zu 13,9 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt. Berücksichtigt man die
zusätzlichen Mittel für Anpassungsgeldleistungen und Ewigkeitslasten, so ergibt sich für die Zeit von
2009 bis 2019 ein Aufwand für das geordnete und sozialverträgliche Auslaufen des
Steinkohlenbergbaus in Höhe von über 21 Mrd. Euro.
Die Rückführung der Steinkohleverstromung führt nicht unbedingt zur Stilllegung von Standorten.
Die struktur- und arbeitsmarktpolitischen Folgen hängen insofern von der Entwicklung am konkreten
Standort ab. Es ist möglich, bestehende Steinkohlekraftwerke in eine Reserve zu überführen und so
einen erheblichen Teil der Beschäftigung noch über Jahre zu erhalten. Ebenso kann ein Standort
erhalten werden durch einen Brennstoffwechsel von Steinkohle auf Gas, wenngleich damit ein Teil
der Arbeitsplätze im Kraftwerk wegfällt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Optionen für die
energiewirtschaftliche Nachfolgenutzung von Steinkohlestandorten, da diese über eine gut
ausgebaute infrastrukturelle Ausstattung verfügen und bereits entsprechende
genehmigungsrechtliche Voraussetzungen besitzen. Zahlreiche Standorte liegen an zentralen
Infrastrukturknoten, die einen Zugang zu Strom-, Wärme- und Wasserversorgungsnetzen bieten und
gut an Verkehrsinfrastrukturen (Häfen, Bahnanschluss, Straßen) angebunden sind. Für die
Folgenutzung kommen insofern insbesondere Nutzungen zur Versorgung von Wärmenetzen der
95
allgemeinen Versorgung oder von Industriestandorten in Frage. Darüber hinaus können durch die
Infrastrukturanbindungen auch Speichertechnologien sowie Anlagen zur Bereitstellung von
Systemdienstleistungen an diesen Standorten etabliert werden. Zusätzlich können ehemalige
Kraftwerksstandorte auch zur Abfallbeseitigung, Abfallverwertung oder für die Logistik rund um das
Recycling von Stoffströmen genutzt werden.
Durch die schrittweise Reduzierung und die Beendigung der Kohleverstromung wird es auch an
Steinkohlekraftwerksstandorten zu schwierigen Anpassungsprozessen kommen. Hierbei sind
betriebsbedingte Kündigungen sowie unbillige soziale Härten auszuschließen. Zudem müssen die
Wirkungen im Einzelfall betrachtet werden. Die Kommission hat die strukturpolitische Ausgangslage
der Standorte untersucht und im Kapitel 4 differenzierte Vorschläge erarbeitet, um den
Unternehmen und den Menschen vor Ort die Instrumente an die Hand zu geben, den Strukturwandel
aktiv zu gestalten.
5.2. Grundsätze für eine Strukturentwicklungsstrategie
Die klimapolitisch motivierte vorzeitige Beendigung der Kohleverstromung greift tief in die
Wertschöpfungsstrukturen der deutschen Wirtschaft ein. Dieser Wandel ist am stärksten regional
erlebbar. Nur auf der Grundlage erfolgreicher regionaler Entwicklungskonzepte wird er ökonomisch
und sozial verträglich sein.
Eine gelungene Strukturentwicklung braucht neben Chancen und Ideen auch eine kontinuierliche
Gestaltung durch Akteure in den Regionen. Der Kommission ist bewusst: Nicht alle Ideen und
Projekte werden langfristig ein Erfolg werden und Wertschöpfung und gute Arbeitsplätze in den
Regionen sichern. Gleichzeitig ergeben sich im Zeitverlauf neue innovative Themen, die neue
Perspektiven eröffnen. Es geht also vor allem darum, die Regionen zum Beispiel durch Investitionen
in Infrastruktur und Bildung und regulatorische Freiräume in die Lage zu versetzen, selbst die
Strukturentwicklung zu gestalten.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt die Kommission die nachfolgenden Grundsätze einer
Strukturentwicklungsstrategie.
Ziele
Strukturpolitische Ziele sind lebenswerte, attraktive Regionen mit hoher wirtschaftlicher Dynamik,
hochwertigen Arbeitsplätzen und Innovationskraft, die den Menschen vor Ort klare
Zukunftsperspektiven bieten.
Für die Kommission ist aber auch entscheidend, dass nicht nur die Regionen eine Perspektive haben,
sondern dass auch der Standort Deutschland insgesamt gestärkt wird, indem Klimaschutz, gute
Arbeit und Wirtschaft in Einklang gebracht werden und damit ein Beitrag zur Umsetzung des Leitbilds
der Nachhaltigkeit geleistet wird. Mit Blick auf die Stärkung der Wirtschaftskraft und Lebensqualität
in Deutschland ist es wesentlich und auch Verfassungsauftrag, dass gleichwertige Lebensverhältnisse
herrschen.
Gleichwertige Lebensverhältnisse erfordern neben einer starken Wirtschaft auch leistungsfähige
Infrastrukturen der Daseinsvorsorge in allen Regionen. Lokal sollen passende Lösungen ermöglicht
werden, um Synergieeffekte zu nutzen und die Menschen umfassend bei der Transformation der
Region einzubinden. Der Abbau alter und der Aufbau neuer Wertschöpfung müssen zeitlich verzahnt
werden. Im Zuge der Strukturentwicklung werden auch neue Technologien zu berücksichtigen sein,
die sich heute teilweise erst als eine Option greifen lassen. Die in diesem Bericht genannten
Maßnahmen und Projekte können nur der Beginn einer Entwicklung sein.
96
Zusätzlichkeit
Die durch zusätzliche politische Maßnahmen bewirkte Reduzierung und Beendigung der
Kohleverstromung beschleunigen den Strukturwandel in den Revieren und gegebenenfalls im Bereich
der Steinkohleverstromung und stellen eine besondere Herausforderung dar. Diese muss zusätzlich
und ergänzend zu der generellen Strukturförderung angegangen werden. Damit ist auch zwischen
Aufgaben der Strukturentwicklung zu unterscheiden, die mit bestehenden Förderprogrammen
bearbeitet werden, und den neuen Anforderungen, die sich aus dem Verlust von Kohlearbeitsplätzen
ergeben. Die Unterscheidung und Abgrenzung zu bestehenden Förderprogrammen ist notwendig mit
Blick auf die bundesweit angestrebte Förderung der ländlichen Räume und das grundgesetzliche
Oberziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Revierförderung muss sich nicht nur von den vorgenannten Zielen leiten lassen, sondern auch
von dem nach wie vor nahezu flächendeckend notwendigen Aufholprozess in Ostdeutschland positiv
abheben und die besondere Situation strukturschwacher Landkreise im Rheinischen Revier
berücksichtigen. Durch diese Abgrenzung werden Überschneidungen und Friktionen bezüglich der
Förderung anderer strukturschwacher Regionen in Deutschland vermieden.
Die Fortsetzung der Bergbausanierung der Tagebaue der ehemaligen DDR im Mitteldeutschen und
Lausitzer Revier nach 2022 muss zudem ebenfalls zusätzlich zur Revierförderung sichergestellt
werden.
Zeitliche Perspektive
Erfolgreiche Strukturentwicklung setzt verlässliche Rahmenbedingungen und eine langfristige
Begleitung voraus. Bund, Länder, Kommunen und Unternehmen müssen es als ihre gemeinsame
Aufgabe verstehen, die von der Beendigung der Kohleverstromung betroffenen Regionen langfristig
zu unterstützen. Insbesondere der Bund muss deshalb für einen substantiellen Zeitraum, der über
das Abschlussdatum der Kohleverstromung hinausgeht, bereit sein, die Transformation der Reviere
als verlässlicher Partner zu begleiten. Zusätzlich müssen die Rahmenbedingungen und
Wachstumsimpulse durch kurzfristige Initialmaßnahmen unterstützt werden. Entsprechend sind die
begleitenden Förderprogramme auf mehrere Dekaden anzulegen.
Wirksame Steuerungs- und Koordinierungsmechanismen und Institutionalisierung
Durch eine Institutionalisierung der als Prozess zu betrachtenden Strukturentwicklung einerseits und
eine starke Einbindung von Ländern, Kommunen und lokalen Akteuren andererseits können lokales
Fachwissen genutzt und vorhandene Potenziale gehoben werden. Dies betont die Verantwortung der
Regionen für ihre zukunftsfähige Entwicklung. Auch in diese Strukturen muss der Bund eingebunden
sein.
Wirksame Steuerungs- und Koordinierungsmechanismen müssen mit den bestehenden Instrumenten
zur Unterstützung der Strukturentwicklung abgestimmt und mit den neuen
Finanzierungsinstrumenten verzahnt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die
verschiedenen Maßnahmen und Initiativen durch die unterschiedlichen Akteure und Fördertöpfe gut
ineinandergreifen.
In die Begleitung des Strukturwandels sind zahlreiche Akteure und Institutionen eingebunden. Vor
allem in den ostdeutschen Revieren besteht ein besonderer Koordinierungsbedarf, da sich die
Reviere über zwei (Lausitzer Revier) bzw. drei Bundesländer (Mitteldeutsches Revier) erstrecken.
Der Prozess der Strukturentwicklung sollte daher durch eine starke Organisationsstruktur mit klarer
Verantwortlichkeitsteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen institutionalisiert werden. Zu
den zu koordinierenden Aufgaben zählen auch die Vernetzung aller Akteure (Einbeziehung von
97
Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Akteuren) und das Monitoring des Strukturwandels. Um
diese Aufgaben wirksam zu erfüllen, braucht es eine sichtbare Verankerung vor Ort.
Private und kommunale Investitionen als Schlüssel
Hierfür müssen EU, Bund, Länder und Kommunen geeignete Rahmenbedingungen für private
Investitionen schaffen. Darüber hinaus übernimmt der Staat politische und finanzielle
Mitverantwortung zur Verwirklichung industrieller Ankeransiedlungen.
Ziel der Kommission ist es, dass die wegfallenden tarifgebundenen Arbeitsplätze und die
Ausbildungsplätze für Fachkräfte der Braunkohleindustrie und ihrer Zulieferunternehmen durch neue
Investitionen der Unternehmen kompensiert werden. Hierfür sieht sie das verlässliche Engagement
privater Investoren als notwendig an. Ihr ist bewusst, dass es dazu wirksamer Anreize bedarf (z. B.
Investitions- und Markteinführungsanreize) und öffentliche Hand und Privatwirtschaft eine starke
Partnerschaft eingehen müssen. Grundsätzlich sollten die Wachstumsprozesse dabei strukturell,
technologieoffen, nachhaltig und zukunftsfähig angegangen werden.
Die Bundesregierung sollte die Strukturentwicklungsstrategie in eine Gesamtstrategie für eine
wachsende Investitionsdynamik einbetten. Denn so wichtig Strukturpolitik für die Regionen ist, kann
sie sich doch nur in einem wachstumsfreundlichen Umfeld vollumfänglich entfalten. Die
Rahmenbedingungen für Investitionen in solche Industriearbeitsplätze sind daher
wirtschaftsfreundlich und investitionsanreizend auszugestalten. Dies ist neben der Bereitstellung
finanzieller Mittel für die Regionen eine zweite notwendige Voraussetzung für erfolgreiche
Strukturentwicklung. Ansiedlungen können nur gelingen, wenn investitionspolitische
Rahmenbedingungen international wettbewerbsfähig sind.
Sichere Rahmenbedingungen und regulatorische Erfordernisse
Der Strukturwandelprozess ist weitestgehend unabhängig von kurzfristigen Entscheidungsprozessen
abzusichern. Die Empfehlungen der Kommission zielen darauf ab, sowohl auf nationaler als auch auf
europäischer Ebene rechtlich sichere Rahmenbedingungen für zukünftige Investitionen und alle
Beteiligten zu schaffen. Dazu sollte ein Staatsvertrag zwischen dem Bund und den beteiligten
Ländern geschlossen werden.
Strukturpolitische Maßnahmen brauchen eine zielorientierte Steuerung, Verlässlichkeit,
Rechtssicherheit und Planbarkeit. Die rechtliche Verankerung muss eine dauerhafte Festlegung über
Legislaturperioden hinweg gewährleisten. Zur Sicherung von Wachstum, Strukturwandel und
Beschäftigung in den Revieren sind die Vorschläge der Kommission durch geeignete rechtliche
Instrumente zwischen dem Bund und den betroffenen Ländern und Kommunen enkelsicher
abzusichern.
Es müssen Prozesse beschleunigt und bestehende Instrumente auf ihre Wirksamkeit überprüft
werden. Das Ziel muss sein, wo immer möglich diese bestehenden Instrumente noch effektiver für
die Reviere zu nutzen, beispielsweise in der Strukturpolitik oder der Infrastrukturbereitstellung sowie
bei den Planungs- und Genehmigungsverfahren.
Finanzierung
Strukturentwicklung benötigt Planungssicherheit und eine auskömmliche, verbindliche und
überjährige Finanzierung. Im Bundeshaushalt sind für diese Legislaturperiode zusätzlich 1,5 Mrd.
Euro als prioritäre Ausgaben für Strukturpolitik vorgesehen, dies betrachtet die Kommission allenfalls
als einen ersten Schritt. In einem zweiten Schritt muss ein langfristiges Strukturentwicklungsbudget
dauerhaft festgelegt werden. Es bedarf neuer Finanzierungsinstrumente, mit denen zusätzlich zu den
bestehenden Instrumenten strategische Investitionen in den Braunkohleregionen gebündelt und
98
langfristig ausfinanziert werden können. Steinkohlekraftwerksstandorte sollen Strukturhilfen aus
gesonderten Mitteln erhalten (vgl. auch die detaillierteren Ausführungen zur Finanzierung in Kapitel
5.4).
Projekte, die mit Mitteln des Bundes gefördert werden, müssen im Einklang mit den international
vereinbarten
sustainable development goals
(SDGs) stehen,
168
um langfristig tragfähige
Entwicklungen zu unterstützen. Besonders wichtig ist dabei die Förderung einer CO
2
-neutralen
Wirtschaft.
Ein noch festzulegender Anteil der Mittel sollte nicht auf den „wirtschaftlichen“ Strukturwandel
beschränkt sein, sondern dafür verwendet werden, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten,
Lebensqualität und weiche Standortfaktoren zu stärken und weiterzuentwickeln.
Mögliche Entschädigungen für Energieversorger wegen kürzerer Kraftwerkslaufzeiten sind nicht aus
den für die Reviere vorgesehenen Strukturfördergeldern zu finanzieren.
Passgenauigkeit und Revierbezug
Die Strukturentwicklungsstrategie muss auf das jeweilige Revier zugeschnitten sein. Die Reviere
haben unterschiedliche Bedürfnisse, was die Instrumente angeht. Besonderes Augenmerk ist dabei
auf die Tagebaurandgemeinden zu legen.
Projekte und Maßnahmen zur Strukturentwicklung sollten sich grundsätzlich an transparenten und
möglichst messbaren Kriterien zur Absicherung der Zweckrichtung, Qualität, Strukturwirksamkeit und
Nachhaltigkeit ausrichten.
Die Auswahl von Projekten, die geeignet sind, die Strukturentwicklung in den Revieren
voranzubringen, erfolgt vor dem Hintergrund der in Kapitel 2.4 ausgeführten Bewertungsmaßstäbe
sowie der nachfolgend genannten Kriterien:
Strukturwirksamkeit und positive Beschäftigungseffekte:
Der Beitrag des Projekts zur
Strukturentwicklung im jeweiligen Revier muss möglichst konkret und nachprüfbar die
direkten und indirekten Beschäftigungseffekte berücksichtigen sowie
Wertschöpfungseffekte, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Kompetenz- und
Kapazitätsaufbau, Qualifizierung und Fachkräftesicherung, Cluster- und
Innovationsmanagement, Bewertung von Kosten und Nutzen bzw. Wirk- und
Potenzialabschätzung bei Infrastrukturvorhaben, etc.
Finanzielle Nachhaltigkeit:
Die finanzielle Absicherung des Projektes ist nachzuweisen,
insbesondere bei institutioneller Förderung. Es sollten neben Investitionskosten auch die
Folge- und Betriebskosten betrachtet und entsprechende Konzepte der dauerhaften
Trägerschaft nachgewiesen werden, mit dem Ziel, dass Projekte sich perspektivisch selbst
tragen.
Ökologische und soziale Nachhaltigkeit:
Die Projekte leisten Beiträge im Zieldreieck
Ökonomie – Ökologie – Soziales. Sie berühren Zukunftsthemen und stehen im Einklang mit
der Entwicklung zu einer langfristig weitgehend treibhausgasneutralen Wirtschaft und
Gesellschaft.
Zukunftsbeitrag und Innovationsgehalt:
Der Beitrag zu den Zukunftsfeldern mit ihren Zielen
und Konzepteinhalten muss deutlich werden. Hierzu zählt auch die Modellhaftigkeit des
Projektes, seine Übertragbarkeit und gegebenenfalls Nachnutzungsfähigkeit.
168
Ein ähnliches Vorgehen ist bereits vorgesehen bei der Vergabe öffentlicher Mittel nach §97 GWB.
99
Regionale Bedeutsamkeit und Verankerung:
Um darzulegen, welche Bedeutung das Projekt
für das Revier und darüber hinaus hat, sind der überlokale Beitrag und die entsprechenden
Effekte des Projektes für die jeweilige Region zu belegen. Sofern vorhanden, sollten sich
Projekte aus dem jeweiligen Strukturprogramm des Reviers ableiten.
Vernetzung, Kooperation, Einbeziehung relevanter Akteure der Zivilgesellschaft
: Die
Vernetzung mit / der Einbezug von relevanten Akteuren und Institutionen innerhalb der
Region ist darzustellen; Projekte sollen dazu beitragen, die Akzeptanz des Strukturwandels
bei zu steigern.
Monitoring und Evaluierung
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ sieht es als notwendig an, die
Umsetzung der Strukturentwicklungsstrategien durch ein regelmäßiges Monitoring zu überwachen,
den Erfolg der Maßnahmen zu überprüfen und gegebenenfalls konsequent nachzusteuern (vgl.
Kapitel 6).
5.3. Maßnahmen zur Begleitung des Strukturwandels
Maßnahmen für Industrie und Mittelstand
Ein nachhaltiger Strukturwandel in den Regionen kann gelingen, wenn die vorhandene industrielle
und energiewirtschaftliche Grundlage der Reviere als Entwicklungspotenzial für die Zukunft genutzt
wird und die Innovations- und Investitionszyklen der vorhandenen industriellen Akteure
berücksichtigt werden. Es gilt, an die regionalen Industriecluster und betrieblichen Kompetenzen, die
Fähigkeiten der gut ausgebildeten Fachkräfte und die vorhandenen Stärken im Bereich Forschung
und Entwicklung anzuknüpfen, um technologische Innovationspfade zu öffnen und die
Transformation zu nachhaltigen Innovationsregionen zu ermöglichen.
Um eine langfristig tragfähige Wirtschaftsstruktur zu sichern, sind auch die Belange von Mittelstand
und Handwerk zu berücksichtigen, ohne die ein für Fachkräfte attraktives und lebenswertes Umfeld
nicht realisierbar ist und die für die industriellen Vorleistungen notwendig bleiben. Dies ist bei der
Fortentwicklung der Förderkulisse angemessen zu berücksichtigen. Für alle Reviere sollten
Förderprogramme mit besonderem Fokus auf die Zulieferer der Braunkohlewirtschaft entwickelt
werden, um auch diese bei der Entwicklung neuer Geschäftsfelder zu unterstützen und dem
Fachkräftemangel etwa im Handwerk zu begegnen.
Die Kommission sieht es als besondere Herausforderung an, dass trotz des Rückzugs der
Braunkohlewirtschaft regionale und bundesweite Wertschöpfungsketten erhalten bleiben bzw.
weiterentwickelt und neue angesiedelt werden. Um den Strukturwandel nachhaltig erfolgreich zu
meistern, wird es auf Grund des jeweiligen regionalen Gewichts der Braunkohlewirtschaft notwendig
sein, neue Wertschöpfungsketten durch industrielle Großinvestitionen anzusiedeln. Die Kommission
ist sich bewusst, dass Großinvestitionen in den Regionen nur gelingen können, wenn die Regionen
entsprechende regulatorische Rahmenbedingungen erhalten.
Die Rahmenbedingungen für Investitionen in solche Arbeits- und Ausbildungsplätze sind daher
wirtschaftsfreundlich und investitionsanreizend auszugestalten, damit bestehende
Wertschöpfungsnetzwerke, die in den Regionen etabliert (z. B. Chemie, Papier, Aluminium, Stahl,
Energiewirtschaft) und bisher eng mit der Kohleverstromung verwoben sind, auch dort verbleiben
und mit eigenen Investitionen die regionale Entwicklung fördern, statt ihre Standortwahl zu
überdenken. Ziel muss es darüber hinaus sein, gerade in diesen Branchen zusätzliche Investitionen zu
generieren. Hierfür sind wettbewerbsfähige Strompreise und eine dauerhaft sichere
Energieversorgung unverzichtbare Grundlagen unseres Industriestandortes.
100
Um die Wertschöpfungsketten der Gipsindustrie zu erhalten, sind Maßnahmen zu ergreifen, um den
fortschreitenden Wegfall an REA-Gips durch eine zusätzliche umweltverträgliche Gewinnung von
Naturgips auszugleichen.
Um Effekte zur Unterstützung des Strukturwandels in den Braunkohlerevieren bewirken zu können,
ist ein jeweils spezifischer Maßnahmenmix erforderlich, der an verschiedenen Stellen der
Wertschöpfungskette ansetzt und eine ökonomische Teilhabe für verschiedene Zielgruppen
ermöglicht. Dazu gehört auch, dass insbesondere die kleineren Unternehmen in den Regionen dabei
gefördert werden sollten, zukunftsfähige Technologien und Dienstleistungen anzubieten. Lokale
Handwerksbetriebe generieren wichtige Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte vor Ort und
sind wichtige Multiplikatoren. Im Sinne einer klimapolitischen Zielsetzung wird auch ein an die
Bedarfe des lokalen Handwerks angepasster Ausbau sowie eine Diffusionsstrategie für Aus- und
Weiterbildungsangebote für Energiewende-Technologien und -Dienstleistungen, insbesondere
Systemlösungen, empfohlen.
Raumentwicklung, Infrastrukturausbau und –ausbaubeschleunigung
Raumentwicklung
Über Jahrzehnte verhinderten die großen Tagebaue mit ihrer Barrierewirkung eine
zusammenhängende Entwicklung des Raumes und die Herausbildung von vernetzten Infrastrukturen.
Der räumliche Wandel in den Revieren soll von Bund und Ländern unterstützt werden und ist so zu
gestalten, dass neue Standortqualitäten für Wohnen und Arbeiten entstehen. Der Strukturwandel
bietet die Chance zur Entwicklung von klimawandelresilienten (Bergbau-) Folgelandschaften mit
hoher regionaler Wertschöpfung.
Eine besondere Verpflichtung für Länder und Kommunen sieht die Kommission darin, rechtzeitig
ausreichende Flächen für Neuansiedlungen in den Regionen zur Verfügung zu stellen und diese
Flächen, unter Nutzung von Elementen zur Beschleunigung von Planung und Genehmigung, mit
allen notwendigen und modernen Infrastrukturen zu erschließen.
Dabei sollen auch infrastrukturelle, wirtschaftliche und ökologische Synergieeffekte durch die
Nachnutzung und Revitalisierung alter Industrie- und Kraftwerksstandorte genutzt werden. Auch
die Revitalisierung von Steinkohlekraftwerksstandorten für eine gewerbliche, industrielle oder
energiewirtschaftliche Nutzung birgt erhebliche Potenziale für die Ansiedlung neuer Unternehmen.
Digitale Infrastruktur
Die Kommission sieht es als eine wesentliche Voraussetzung für den Strukturwandel an, dass
strukturelle Schwächen in den betroffenen Regionen insbesondere in der Infrastruktur überwunden
werden. Infrastrukturpolitik ist eine wesentliche Säule der Strukturpolitik. Eine moderne und
leistungsfähige Verkehrs- und digitale Infrastruktur zur Erschließung und Anbindung vorhandener
sowie dringend benötigter neuer Flächen ist mittlerweile – auch angesichts der Flächenengpässe in
den Ballungsräumen – ein ganz wesentlicher Standortfaktor für Investitionsentscheidungen. Für eine
zukunftsfeste Perspektive der Reviere ist neben der Anbindung von Industrie- und Technologieparks,
Gewerbegebieten und wissenschaftlichen Einrichtungen flächendeckend ein hochmodernes digitales
Infrastrukturnetz auf Glasfaserbasis und die Ertüchtigung der Mobilfunknetze unabdingbar. Ziel kann
nur eine Versorgung mit gigabitfähiger Infrastruktur sein. Wo dies durch einen marktgetriebenen
Ausbau nicht erreicht wird, erscheint eine Unterstützung durch staatliche Eingriffe notwendig.
Voraussetzung dafür ist in Gebieten, die mit mindestens 30 Mbit/s, jedoch keiner gigabitfähigen
Infrastruktur versorgt sind, eine Anpassung der NGA-Definition durch die EU-Kommission
(sogenannte Aufgreifschwelle). Durch die Förderung eines revierweiten Managements könnte zudem
101
der Ausbau der Gigabitversorgung modellhaft beschleunigt werden. Der nächste Mobilfunkstandard
5G wird gegenüber dem jetzigen Mobilfunk völlig neue Anwendungen ermöglichen. Dafür sind
Technologien, Geräte und Anwendungen zu erforschen und zu entwickeln. Diese Chancen gilt es in
die Reviere zu tragen. Voraussetzungen dafür sind jedoch eine entsprechende Netzabdeckung zur
Erprobung und Anreize für diesbezügliche Ansiedlungen.
Die Digitalisierung ist eines der zentralen Elemente der jeweiligen Leitbilder bzw. Leitbildprozesse der
Reviere. Im Folgenden finden sich Vorschläge der Bundesländer mit Braunkohlewirtschaft für
konkrete Maßnahmen, die geeignet sind, den Ausbau der digitalen Infrastruktur in den Revieren zu
beschleunigen und so die nötigen Voraussetzungen für die Umsetzung der Leitbilder zu schaffen.
Insbesondere die bislang schlechter digital erschlossenen Gebiete im Rheinischen Revier und
der Lausitz sollten als zusätzliche 5G-Modellregionen ausgebaut werden und so die
Startbedingungen erhalten, auch außerhalb größerer Ballungsräume digitalen Fortschritt
durch Pilotprojekte zu etablieren.
Das Lausitzer Revier bietet hierbei zukunftsträchtige Ansatzpunkte als Modellregion für 5G.
Die Forschung, Entwicklung und Erprobung von neuen Mobilitätsanwendungen auf dem
Lausitzring bspw. durch die DEKRA (autonomes Fahren) würde wesentlich unterstützt. Im
Rheinischen Revier könnte ein 5G-Reallabor eingerichtet werden (Testzentrum 5G-
Anwendungen). Die Anwendungen sind mit Feldtests in Modellkommunen zu verbinden,
beispielsweise für autonom und hoch-automatisiert fahrende Straßenbahnen (A-Tram) oder
für autonomes Fahren.
Der Mangel an Fachärzten und qualifiziertem Pflegepersonal insbesondere in ländlich
geprägten Regionen nimmt zu. Hier bestehen Potenziale für die modellhafte Einführung von
E-Health im ländlichen Raum (etwa Telemedizin-Dienste, patienteneigene Vorrichtungen zur
Selbstversorgung, Gesundheitsportale).
Verkehrsinfrastruktur
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ist überzeugt, dass eine
leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche
Strukturentwicklung ist. Dies steigert die Attraktivität der Reviere als Wirtschaftsstandorte für
Unternehmensansiedlungen und ermöglicht so den Aufbau neuer und innovativer
Wertschöpfungsketten. Eine verbesserte Anbindung an die jeweiligen Metropolregionen und
Oberzentren macht die Regionen zudem lebendig und lebenswert und eröffnet neue
Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen vor Ort.
Um Infrastrukturprojekte in den vier Braunkohlerevieren schneller umsetzen zu können, sollen
zusätzliche Infrastrukturprojekte geplant und höher priorisiert werden. Denkbar wäre hierfür die
Einführung eines „Revierbonus“ unter dem Motto „Vorfahrt für die Strukturentwicklungsgebiete“.
Damit können strukturpolitische Zielsetzungen gegenüber bestehenden Kriterien priorisiert werden.
Zudem bestehen Engpässe bei der Planung von Infrastrukturvorhaben durch die öffentliche Hand. Es
sollte daher die Realisierung von Infrastrukturvorhaben in den Revieren genutzt werden, um – auch
als Modell für andere Regionen – die Beschleunigung durch die Finanzierung extern vergebener
Planungen zu erreichen. Hier sollen auch Infrastrukturprojekte zur Finanzierung aufgenommen
werden, die sonst typischerweise in Verantwortung der Länder und Kommunen finanziert werden.
Auch die Umpriorisierung bereits geplanter Maßnahmen wäre ein sinnvolles Instrument. Die
rechtliche Umsetzung sollte dabei das Ziel verfolgen, bei den konkreten Planungsprozessen für den
Ausbau der wichtigsten Bahnverbindungen ohne Zeitverzug im Laufe des Jahres 2019 zu beginnen.
102
Weitere mögliche Maßnahmen sind der Ausbau und die Ergänzung sowie die Verbesserung der
bestehenden Anbindung der Reviere an entwicklungsfördernde Zentren, zum Beispiel durch
Verkürzung der Taktzeiten im Schienenpersonennahverkehr und die Ertüchtigung der bestehenden
Verbindungen in die Metropolen. Die Kommission weist darauf hin, dass neben dem Ausbau von
Verkehrsinfrastrukturen mit Mitteln des Bundes auch eine Verantwortung der Länder besteht, die
entsprechenden Verkehrsleistungen zu bestellen.
Aus Sicht der Bundesländer sind die nachfolgenden Infrastrukturprojekte unabdingbar, um wirksame
Strukturentwicklungsimpulse zu entfalten:
Insbesondere für die ostdeutschen Reviere bietet eine gute infrastrukturelle Anbindung an
die urbanen Räume Berlin, Dresden, Leipzig, Jena, Chemnitz und Halle, die das
Pendlerpotenzial – also den Zugang zu Fachkräften – berücksichtigt, erhebliche Chancen.
In der Lausitz stellt die bestehende Verkehrsinfrastruktur eine besondere Herausforderung
dar. Neben der für den grundlegenden Strukturwandel langfristig notwendigen Impulse ist es
erforderlich, dass die Menschen in der Lausitz durch die Elektrifizierung der Strecke Dresden-
Görlitz inklusive des Abzweigs nach Kamenz, und den Ausbau/die Elektrifizierung der Strecke
Berlin-Cottbus-Görlitz als Schnellzug-Verbindung, den zweigleisigen Ausbau der Strecke
Cottbus-Lübbenau, den Ausbau Cottbus-Leipzig sowie Cottbus-Dresden und der
Elektrifizierung der Strecke Cottbus-Forst eine kurz- bis mittelfristig spürbare Verbesserung
der Anbindung erfahren. Dazu gehören u.a. der Umbau des Bahnhofs Königs Wusterhausen,
die sofortige Elektrifizierung des Streckenabschnitts Görlitz-Niesky sowie Görlitz-Grenze
Deutschland/Polen, um direkte Verbindungen von Wroclaw über Görlitz nach Berlin und
zurück zu ermöglichen und Görlitz in die Mitte eine internationalen Eisenbahnachse zu
rücken, eine direkte Tagesrandverbindung von Görlitz nach Berlin und zurück sowie eine
höhere Taktung auf der Strecke Dresden-Görlitz und auf den regionalen Verbindungen in der
Lausitz. Um die Taktzeiten in den Revieren generell verkürzen können, bedarf es einer
Aufstockung der Regionalisierungsmittel des Bundes, damit vorhandene Infrastruktur
intensiver genutzt werden kann. Eine kurzfristig umsetzbare Maßnahme wäre die
Organisation der „letzten Meile“, beispielsweise durch Modellprojekte zum vorreservierten
Verleih von Elektrorollern und Pedelecs (E-Bikes).
Für die Attraktivität des Mitteldeutschen Reviers ist eine gute Anbindung an den
Ballungsraum Halle-Leipzig mit kurzen Taktzeiten wichtig. Dabei sind engere Taktungen (wie
bspw. für die Strecke Chemnitz -Leipzig), der Ausbau des S-Bahnnetzes (bspw. Etablierung
einer neuen S-Bahn-Linie von Leipzig über Markranstädt nach Naumburg und alternierend
nach Merseburg sowie der Strecke Halle-Naumburg), die perspektivische Sicherung von
SPNV-Strecken (wie z. B. die Strecke Zeitz-Weißenfels) zur Schaffung von weiteren
Entwicklungsachsen für den ÖPNV sowie der Ausbau des PlusBus- und Rufbussystems
insbesondere in den Abendstunden und zu Schichtwechselzeiten ansässiger Unternehmen
voranzubringen. Auch der City-Tunnel Leipzig sollte einen Beitrag zur Verbesserung des
Schienenpersonennahverkehrs leisten. Grundvoraussetzung hierfür wäre die Aufrüstung der
Eisenbahnsicherungstechnik im Tunnel. Zudem würde die Elektrifizierung der
Bahnverbindungen Leipzig-Zeitz-Gera, Leipzig-Bad Lausick-Geithain-Chemnitz und Zeitz-
Weißenfels-Halle, der Bau der Verbindungskurve Großkorbetha für die Direktverbindung von
Merseburg nach Leipzig sowie der Ausbau von Zubringerachsen (bspw. die Strecke von
Merseburg nach Querfurt), die Anbindung von Grund- und Mittelzentren in
Mitteldeutschland an die Oberzentren Erfurt, Halle und Leipzig verbessern.
Ähnlich ist auch die Anbindung von Delitzsch an Bitterfeld und Leipzig zu verbessern sowie
die Strecke Leipzig-Grimma-Döbeln zu stärken. Der Einsatz von alternativen Antrieben im
SPNV ist ein möglicher Weg, wie die Anbindungen in der Region weiter verbessert werden
103
kann. Als unterstützende Maßnahme im Bereich Schienenwesen wäre für die beiden
ostdeutschen Reviere die Gründung und der Aufbau eines Deutschen Zentrums für
Schienenverkehrsforschung beim Eisenbahn-Bundesamt Außenstelle Dresden vorteilhaft, da
an die vorhandenen Potenziale der TU bzw. HTW Dresden angeknüpft werden kann.
Infrastrukturelle Verbesserungen wie die Ostverlängerung der B 6n von B 184 nach Sachsen,
der Ausbau der B 100 zwischen Brehna und Bitterfeld oder die verbesserte Anbindung des
Chemie- und Industrieparks Zeitz durch Verbindung der A 38 mit der A 4 schaffen attraktive
Rahmenbedingungen im Mitteldeutschen Revier. Für den südlichen Landkreis Görlitz sollte
das durch die Lage im Dreiländereck gegebene Potenzial mit dem Neubau/Fertigstellung der
B178n und deren Verlängerung über A4 hinaus in nördlicher Richtung genutzt werden. Die
überregionale Anbindung sollte des Weiteren über Weißenberg und Bautzen durch den
Ausbau der A4 auf sechs Fahrstreifen verbessert werden.
Die strukturschwachen Reviere in Mitteldeutschland und der Lausitz sollten enger verzahnt
und in überregionale Logistikketten eingebaut werden. Der Bau einer neuen Ost-West-
Straßenverbindung als Magistrale zwischen dem Mitteldeutschem und dem Lausitzer Revier
würde die infrastrukturellen Voraussetzungen für Unternehmensansiedelungen in diesen
Regionen deutlich verbessern. Außerdem ist der Ausbau der Autobahn 13 zwischen
Schönefeld und Autobahndreieck Spreewald erforderlich. Die direkt betroffenen Kommunen
in der Lausitz erwarten eine besondere Förderung und Unterstützung.
Für das Rheinische Revier implizieren die großen Herausforderungen einer räumlichen
Entwicklung auch die Möglichkeit einer zukunftsfähigen, ambitionierten und dynamischen
Raumentwicklung. Dabei benötigen sowohl die Tagebaurandkommunen als auch die durch
Neu- bzw. Umplanung vormals geplanter Abbaugebiete betroffenen Kommunen besondere
Unterstützung. Es soll eine Internationale Bau- und Technologieausstellung Rheinisches
Zukunftsrevier ausgerufen werden, die die Neuordnung des Raums, die Weiterentwicklung
ihrer Siedlungen als ORTE DER ZUKUNFT in einem MOBILITÄTSREVIER DER ZUKUNFT mit dem
Anspruch verknüpft, hier wegweisende Schritte in eine innovative und klimafreundliche
Zukunft mit hoher Lebensqualität zu gehen. Die Ausstellung soll gemeinsam mit den
Menschen der Region, mit den Kommunen und der Wirtschaft in einem
beteiligungsorientierten, hochqualitativen Prozess umgesetzt werden.
Es wird ein neuer Campus Rhein-Erft mit dem Profil Raumentwicklung und
Infrastruktursysteme, Infrastrukturmanagement, Geoinformatik
(Transformationsmanagement) gebaut, um diese Entwicklung zu unterstützen. Für das
MOBILITÄTSREVIER DER ZUKUNFT werden Projekte zur Umsetzung eines gesamtregionalen
Mobilitätskonzepts gefördert, die sich verändernden Mobilitätsbedürfnissen im
Individualverkehr, neuen Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur, Klimaschutz und
aktuellen technologischen Trends gleichermaßen gerecht werden. Dabei sollen
raumbezogene Maßnahmen mit der Stärkung von Innovationen an den Hochschulen und
Universitäten und in der Wirtschaft verknüpft werden, um neue Mobilität für die Straße, die
Schiene und in der Luft zu entwickeln und in der Praxis umzusetzen. Zu den Maßnahmen
gehört der digitale Knoten Köln, der Aufbau eines Netzes von Mobilstationen im Rheinischen
Revier, der Mobilitätshafen Kerpen sowie das Projekt „Mobiles Rheinland“, mit dem die
Personal- und Planungskapazitäten des Nahverkehr Rheinland deutlich beschleunigt werden
sollen.
Eine gute infrastrukturelle Anbindung des Rheinischen Reviers zu den umliegenden
Oberzentren und zur Entlastung dieser Oberzentren ist eine wesentliche Voraussetzung für
das Gelingen dieses Konzepts. Dazu gehört unter den Schienenverkehrsmaßnahmen die
Brücke Rheinspange Wesseling (mit Radspur), die Westspange Köln, das dritte Gleis Köln –
Aachen, der Ausbau der S-Bahn Mönchengladbach – Köln, die grenzüberschreitende
Schnellzugverbindung Eindhoven – Köln, die Engpassbeseitigung Mönchengladbach – Rheydt
104
– Odenkirchen, der zweigleisige Ausbau Kaldenkirchen – Dülken, die Schnellzugverbindung
Venlo – Mönchengladbach – Neuss – Düsseldorf („ROck-Projekt“), der Ausbau der
Regionalbahn zur Erft S-Bahn, die Umwidmung der RWE-Werksbahntrassen für den
Güterverkehr, der Lückenschluss Linnich – Baal, der Anschluss des FZJ an den
Schienenverkehr, die Euregiobahn Baesweiler / Anschluss Aldenhoven-Siersdorf, die Regio-
Tram Baesweiler – Würselen – Aachen, der Vollausbau und die Elektrifizierung der
Bördebahn Düren – Euskirchen sowie der Eifelstrecke Köln – Euskirchen.
Mit den notwendigen verkehrstechnischen Anbindungen und weiteren
Erschließungsmaßnahmen bieten sich im Helmstedter Revier sehr gute Bedingungen für eine
stufenweise Entwicklung eines rund 250 Hektar großen Gewerbegebietes mit idealer Lage
am Autobahnkreuz A2/A39. Damit könnte ein modellhaftes Gewerbegebiet der Zukunft
unmittelbar an einer zentralen europäischen Verkehrsachse entstehen.
Die bislang eingleisige Strecke zwischen Weddel (Braunschweig) und Fallersleben
(Wolfsburg) soll entsprechend bestehendem Baurecht bis 2023 zweigleisig ausgebaut
werden. Ein solches Projekt könnte durch bessere Erreichbarkeit der Arbeitsplätze in
Wolfsburg nachhaltig den Strukturwandel abfedern. Angesichts der absehbaren
Zweigleisigkeit der Weddeler Schleife, des ausgeweiteten Nahverkehrsangebots und der
Reisezeitverkürzung durch eine Direktanbindung Helmstedt – Wolfsburg ist mit einer
erhöhten Nachfrage zu rechnen.
Versorgungsinfrastruktur
Aus Sicht der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ gehört zur
Strukturentwicklung auch der Erhalt der vorhandenen Infrastrukturen. Schon heute stellt der
demografische Wandel in den Braunkohleregionen die kommunalen Energie- und Wasserversorger
aufgrund der Auswirkung auf die Aufrechterhaltung ihrer Infrastruktur vor enorme
Herausforderungen. Die Attraktivität der Regionen für die Anwohner muss daher auch durch eine
bezahlbare, effiziente und zukunftsfähige Wärmeversorgung gewährleistet werden.
Die in den Revieren auf den Energiesektor ausgerichtete Netzinfrastruktur und das über viele
Jahrzehnte aufgebaute Know-How in diesem Sektor sollte auch zukünftig bei der Umwandlung hin zu
einer Energiewirtschaft, die auf regenerativen Ansätzen beruht, eingebracht werden können. Mit
entsprechenden Reallaboren könnten neue Wertschöpfungsketten aufgezeigt werden und zu einer
Diversifizierung der Industrielandschaft beigetragen (Wasserstoffproduktion, Brennstoffzelle,
Batteriespeicher, Power-to-X, stoffliche Nutzung von Kohle). Dies kann auch für die
Weiterentwicklung der bestehenden Standorte der chemischen Industrie genutzt werden (stoffliche
und klimaneutrale Nutzung von CO
2
, Synthesegase auf Basis erneuerbarer Energien). Zudem sollten
die vorhandenen Potenziale der Energie- und Industrieregionen genutzt werden, um die
Transformation des Energiesystems und die industrielle Transformation mit der Sicherung und
Weiterentwicklung von Kompetenzen im Bereich von Forschung, Entwicklung und Innovation (FuEuI)
zu verbinden. Die Braunkohlereviere bieten sich dabei insbesondere als Modellregion für innovative
Projekte im Bereich Power-to-X an. Die Verbindung von Wasserstoff, Netzinfrastruktur und
anwendungsorientierter Forschung ist hierfür ein gutes Beispiel.
Alle Reviere haben sich das Ziel gesetzt, auch in Zukunft Energieregionen zu bleiben. Dazu haben die
Länder die folgenden konkreten Projekte benannt:
Im Lausitzer Revier geht es um Projektideen zur Errichtung einer Demonstrationsanlage für
hydrothermale Vergasung, die Machbarkeitsprüfung eines innovativen Rotationsspeichers
inkl. möglicher Pilotanlage, die Errichtung einer Pilotanlage für ein „Referenzkraftwerk-
Wasserstoff“, das potenziell wichtige Systemleistungen erbringen kann. Diese Projekte
105
sollten durch die Ansiedlung eines Fraunhofer Institutes für Energieinfrastruktur (Teil-Institut
an der BTU Cottbus-Senftenberg oder der Hochschule Zittau/ Görlitz), das sich mit
Energieinfrastruktur und Netzen beschäftigt, begleitet werden. Grundlegende Fragen und
Herausforderungen der Transformation des Energiesystems können so konkret angegangen
werden. Um die Lausitz als Energie-, Industrie- und Innovationsregion zu stärken und
weiterzuentwickeln, sollten solche Maßnahmen, die den industriellen Entwicklungspfad der
Reviere aufgreifen und transformieren, seitens des Bundes unterstützt werden.
Das Rheinische Revier weist mit seinen Kraftwerksstandorten, den von einer zuverlässigen
Energieversorgung abhängigen energieintensiven Unternehmen und seinen
Innovationskompetenzen eine hohe Lagekompetenz für die Investition in das durch die
Energiewende neu zu konzipierende Produkt „Versorgungssicherheit“ auf. Durch die Nähe
zwischen Energieangebot und energieintensiver Industrie kann das Rheinische Revier als
Energierevier der Zukunft einen zentralen Beitrag zur Netzstabilität und
Versorgungssicherheit für Europa leisten. Schlüsselprojekte sind das Wärmespeicher-
Kraftwerk Store-to-Power, die Ansiedlung eines neuen DLR-Instituts, der Aufbau eines
intelligenten regionalen Energiemanagements, Förderung einer Batteriezellproduktion
ebenso wie Aufbau eines neuen Fraunhofer Instituts für Geothermie und Energie-
Infrastruktur (Teil-Institut NRW für Digitale Energie) und eines Reallabors THG-reduzierte
Energie- und Rohstoffversorgung unter Einsatz von grünem Wasserstoff“ sowie eines
Innovation Center Düren.
Im Mitteldeutschen Revier sehen die Nutzungskonzepte der Braunkohleregionen für
Erneuerbare Energien eine teilweise direkte Nachnutzung der Bergbaufolgelandschaft vor.
Mit den Projekten Energiepark Amsdorf und Energiepark Profen sind neben der Errichtung
von Photovoltaik-Anlagen, Speicheranlagen sowie Windkraftanlagen auch Wertstoffhöfe
(einschließlich Phosphorrückgewinnung) und die Einrichtungen der Geothermie- bzw.
Erdwärmeversorgung in Verbindung mit Gewächshäusern und Kurzumtriebplantagen
vorgesehen. Bei der Sektorkopplung durch Power-to-X-Technologien kann an vorhandene
regionale Aktivitäten zum Thema grüner Wasserstoff – HYPOS-Projekt – angeknüpft werden.
Infrastrukturausbau und -ausbaubeschleunigung
Planungen, die erst in Dekaden realisiert werden können, werden den besonderen Anforderungen
des Strukturwandels in den Kohleregionen nicht gerecht. Um das Vertrauen in die
Entwicklungsfähigkeit und Zukunft der Regionen zu befördern, sollen innerhalb von fünf bis sieben
Jahren attraktive Rahmenbedingungen für die Ansiedlung von Unternehmen, für Fachkräfte und
Auszubildende geschaffen werden. Es sollen lokale, regionale und überregionale Vernetzungen
gestaltet sowie innovationsgetragene Entwicklungen befördert werden.
Das übergeordnete Ziel der im folgenden beschriebenen Maßnahmen ist es, Investitionen in die
Infrastrukturentwicklung deutlich zu beschleunigen, ohne dabei die erreichten Standards zum
Beispiel im Umweltrecht grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Kommission regt ferner an, die
Maßnahmen zur Beschleunigung von Planung und Genehmigung einerseits räumlich auf die Reviere,
und andererseits zeitlich auf die Dauer der Strukturförderung zu begrenzen.
Für ausgewählte Maßnahmen der Verkehrsinfrastruktur empfiehlt sich in Ergänzung zum
Bundesverkehrswegeplan 2030 eine Sonderregelung zur Verbesserung der verkehrlichen
Infrastruktur deutscher Braunkohleregionen, die die herkömmlichen Bedarfskriterien außer Kraft
setzt und das überwiegende öffentliche Interesse deutlich herausstellt. Auch Umpriorisierungen
bereits geplanter Maßnahmen sind ein sinnvolles Instrument. Die Bewertung der Projekte soll eine
klare strukturpolitische Ausrichtung haben und sich damit von der im Bundesverkehrswegeplan 2030
verwendeten Systematik unterscheiden. Eine Art „Strukturgesetz Braunkohleregionen“ des Bundes
106
sollte daher als Bedarfsgesetz fungieren und damit den vordringlichen Bedarf der darin geregelten
Maßnahmen ebenso festlegen wie deren bevorzugte Umsetzung im Rahmen eines eigenen
Sonderfinanzierungsprogramms.
Über das im November 2018 von Bundesrat und Bundestag beratene und am 8. November 2018 vom
Bundestag beschlossene „Gesetz zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im
Verkehrsbereich – Planungsbeschleunigungsgesetz“ hinaus sollten weitere Anpassungen der
Rechtsgrundlagen zur Beschleunigung von Planungen und Genehmigungen für die Braunkohlereviere
geprüft werden.
Dazu gehören die Prüfung und gegebenenfalls die geeignete Umsetzung der folgenden Maßnahmen:
•
Gesetzlich festgelegte Stichtage für die zu berücksichtigende und maßgebliche Sach- und
Rechtslage zur Beurteilung der Rechtsmäßigkeit eines Planfeststellungsbeschlusses;
•
Gesetzliche Verankerung der frühzeitigen Bürgerbeteiligung;
•
Aufnahme besonders herausragender Verkehrsprojekte in den Braunkohlerevieren in ein
Gesetz über konkrete Infrastrukturvorhaben (analog zum Gesetz zum beschleunigten
Neubau der Leverkusener A1-Rheinbrücke). Ein solches Gesetz müsste eine Öffnungsklausel
beinhalten für Maßnahmen, die sich noch nicht ausreichend konkret benennen lassen,
jedoch entsprechende Bezugskriterien aufweisen, da § 17e Bundesfernstraßengesetz die
Verkürzungen des Rechtsschutzes derzeit auf Vorhaben begrenzt, die wegen der Herstellung
der Deutschen Einheit, der Einbindung der neuen Mitgliedstaaten in die Europäische Union,
der Verbesserung der Hinterlandanbindung der deutschen Seehäfen, ihres sonstigen
internationalen Bezuges oder der besonderen Funktion zur Beseitigung schwerwiegender
Verkehrsengpässe im Anhang zum Gesetz aufgeführt sind;
•
Die Vorgabe für Eisenbahnen (Allgemeines Eisenbahngesetz) und Straßen (diverse
Straßengesetze) entfallen lassen, dass die gesicherte Finanzierung bei Planfeststellung
nachzuweisen ist (Verweis auf das Luftverkehrsgesetz, wo dies nicht erforderlich ist);
•
Eine einfache Regelung zur Förderunschädlichkeit eines vorzeitigen Baubeginns (z. B.
Nennung des Projekts in einer offiziellen Projektliste durch eine zu benennende
Verwaltungseinheit);
•
Ermöglichung der Abweichung von den Vorgaben des Haushaltsgrundsätzegesetz in Fragen
der Ausschreibung und Vergabe – soweit nicht europäische Normen einschlägig sind (wie bei
Sektorenauftraggebern).
Parallel zu den vorgenannten Punkten eines Bundesgesetzes wäre auf Landesebene ein
vorgreifendes Raumordnungsverfahren hilfreich. Sinnvoll scheint auch zu regeln, dass keine
prozentuale Begrenzung von Planungskosten im Verhältnis zu Baukosten zur Anwendung kommt.
Schwierige Beurteilungs- und Abwägungsfragen und z. B. artenschutzrechtliche Beurteilungen oder
die Genehmigung von Ausnahmen stellen die unteren Verwaltungsbehörden vor Herausforderungen.
Auch die anwachsende Anzahl gewünschter Vorhaben kann die Verwaltungsbehörden rein zeitlich
unter besonderen Druck setzen. Die Kommission empfiehlt deshalb auch, die jeweiligen
Verwaltungsbehörden personell entsprechend auszustatten, um die Verwaltungsabläufe zu
beschleunigen, und sie in die Lage zu versetzen, Anträge rasch und sorgfältig zu bearbeiten.
Daneben haben die Länder weitere Vorschläge zur Beschleunigung des Infrastrukturausbaus
unterbreitet:
•
Eine vereinfachte Prüfung und Entscheidung bei der Betroffenheit „geschützter Arten“ nach
EU-Recht zu ermöglichen (Unerheblichkeit bei mangelnder Populationsrelevanz).
107
•
Im Rahmen des nationalen Prozessrechts sollte die Klagebefugnis an die Wahrnehmung der
Mitwirkungspflicht im Planfeststellungsverfahren gekoppelt und Präklusionsvorschriften im
Gerichtsverfahren eingeführt werden. Wer Gründe kennt, die gegen ein Planungsvorhaben
sprechen, soll diese unverzüglich vorbringen.
•
Für Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs sollte ein Baustopp im Eilverfahren
ausgeschlossen werden, wenn mit einer Heilung der Fehler in einem ergänzenden
Planfeststellungsverfahren gerechnet werden kann.
•
Bei festgestellter Rechtswidrigkeit eines Planfeststellungsbeschlusses sollte eine Realisierung
von Teilen des Vorhabens zulässig sein, die von dem Fehler nicht betroffen sind.
•
Überdies sollte eine Verkürzung der Klageinstanz und Fristen bei Planfeststellungsverfahren
erfolgen – analog zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Zuge der VDE-
Projekte.
•
Abwägungsdirektiven vorgeben und somit den Interpretationsspielraum im Rahmen des
Planrechts und nachfolgender Klagen (Rechtsschutz) konkretisieren/einschränken.
Forschungseinrichtungen und Innovationsregionen
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ist überzeugt, dass der
Wissenschaftssektor eine zentrale Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung der Regionen spielt. Er ist
Grundlage für Innovationen und Aufbau von Fachkräftepotenzialen. Die Innovationskraft wiederum
ist ein wichtiger Gradmesser für die Fähigkeit, neue Wertschöpfungsketten zu schaffen.
Die Kommission befürwortet eine Verstärkung der Forschungsstandorte in den Revieren und den
Ausbau der Kooperation zwischen angrenzenden Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen sowie
die enge Kooperation mit der Wissenschaft und Wirtschaft. Das Ziel ist ein systematischer Wissens-
und Technologietransfer und daraus resultierend die Entwicklung neuer, verwendungsoffener
Technologien, die aktuelle Trends aufgreifen und sich durch Anschlussfähigkeit an die bestehenden
industriellen und energiewirtschaftlichen Kernkompetenzen auszeichnen
.
Weitere positive Impulse
wären zudem aus der Kombination einer Ansiedlung von Forschungseinrichtungen, der Etablierung
von Reallaboren, der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung und weiteren, zusätzlichen
Fördermöglichkeiten zu erwarten.
Um die Reviere zu wettbewerbsfähigen Innovationsregionen zu entwickeln, wurden in der
Kommission konkrete Überlegungen vor- und angestellt:
Die Möglichkeit, Clusterstrategien zu entwickeln, sollte unterstützt werden. Im Rheinischen
Revier erfolgt der Aufbau und die Nutzung von Clusterstrukturen für das ENERGIEREVIER DER
ZUKUNFT, das MOBILITÄTSREVIER DER ZUKUNFT, das Innovation Valley Rheinland und das
Feld der Bioökonomie, um in den kommenden zehn Jahren einen maximalen
Wachstumsimpuls aus der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft zu erreichen.
Es soll den Akteuren ermöglicht werden, dabei entstehende Initiativen mit
Innovationsbudgets in die Umsetzung zu bringen.
Aufgrund der sehr geringen Forschungs- und Entwicklungs (FuE)-Quote in den ostdeutschen
Revieren
169
und zum Aufbau von Innovationspotenzialen sollte die pilothafte Einführung
einer steuerlichen FuE-Förderung erfolgen, die bei den Personal- und Auftragskosten für
Forschung und Entwicklung ansetzt. Dafür ist auch die Förderung sozialer Innovationen zu
berücksichtigen.
169
Siehe auch Kapitel 3.4.
108
Es wäre zu prüfen, ob den Revieren durch eine Erhöhung der Förderintensitäten etwa in den
Bereichen der industriellen Forschung und der experimentellen Entwicklung besondere
Förderbedingungen eingeräumt werden sollen.
In diesen Regionen sollten zusätzlich zur Förderung durch FuE-Programme auch eine gezielte
Stärkung der vorhandenen öffentlichen Forschungsinfrastruktur und die Ansiedlung neuer
Forschungseinrichtungen in Betracht gezogen werden. Mit der Ansiedlung bzw. dem Ausbau
von öffentlichen Forschungseinrichtungen erhöht sich auch das Potenzial, an
Förderprogrammen im FuE-Bereich zu partizipieren. Der Ausbau der Forschungsinfrastruktur
an lokalen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen kann neben der
Erhöhung des Innovationspotenzials in den ostdeutschen Revieren auch dazu dienen,
Mittelzentren zu stärken, die in dünnbesiedelten Regionen eine wichtige Ankerfunktion für
die wirtschaftliche und demografische Entwicklung übernehmen können. Dies ist wegen der
deutlich geringeren Innovationskraft des Lausitzer und des Mitteldeutschen Reviers
erforderlich; so ist vor allem in der privaten Wirtschaft das Potenzial, Innovationsprozesse zu
initiieren und an Förderprogrammen zu partizipieren, begrenzt.
Ein Ausbau der öffentlichen Forschungsinfrastruktur in den ostdeutschen Revieren soll sich
an vorhandenen, perspektivischen und neuartigen (technologischen) Schwerpunkten der
regionalen Wirtschaft orientieren. Dies eröffnet Potenziale für Kooperationen zwischen
Wissenschaft und regionaler Wirtschaft und einen Transfer neuen technologischen Wissens,
durch den die Wettbewerbsfähigkeit der in den Revieren ansässigen Unternehmen gestärkt
werden kann.
Ein Ausbau der Forschungskapazitäten sollte mit einer entsprechenden Erweiterung der
Angebote im tertiären Bildungsbereich verbunden werden. Diese Bildungsangebote können
dazu beitragen, die Attraktivität der Regionen für junge Menschen, die einen tertiären
Bildungsabschluss anstreben, zu erhöhen. Sie leisten zudem einen Beitrag zur Sicherung des
regionalen Fachkräftepotenzials, wenn Absolventen nach Abschluss des Studiums eine
Beschäftigung im regionalen Arbeitsmarkt aufnehmen. Die Bleibewahrscheinlichkeit von
Hochschulabsolventen steigt, wenn sie schon während des Studiums Arbeitserfahrung in der
Studienregion sammeln und Kontakte zu potenziellen Arbeitsgebern aufbauen können.
170
Dies könnte durch entsprechende Maßnahmen in den Revieren, wie z. B. studienbegleitende
Praktika, unterstützt werden.
Stärkung der bestehenden Forschungs- und Transferaktivitäten zu Schlüsseltechnologien
Aus Sicht der Bundesländer sollten im Rahmen einer Forschungs- und Transferoffensive "Industrie-
Innovationszentren" zur Förderung von groß angelegten Kooperationsnetzwerken aus
Industrieunternehmen, digitalen Start-ups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen eingerichtet
werden.
Das „Innovationszentrum Moderne Industrie Brandenburg (IMI)“ und das durch das
Bundeswirtschaftsministerium geförderte Kompetenzzentrum „Mittelstand 4.0 Cottbus“ sind
komplementäre Forschungs- und Transfereinrichtungen an der BTU Cottbus-Senftenberg, die
die digitale Transformation der KMU-geprägten Unternehmen in Brandenburg seit einigen
Jahren erfolgreich unterstützen. Sie verbinden die technologischen Aspekte der
Digitalisierung mit den Veränderungsprozessen einer digitalisierten Arbeitswelt – aktiv
begleitet von Kammern, Verbänden und Gewerkschaften. Beide Einrichtungen sind in und
170
Dies zeigen Analysen des Wanderungsverhalten von Hochschulabsolventen in Deutschland, siehe
Homolkova, K.; Niebuhr, A.; van Rienen, V. (2016): Arbeitsmarkteintritt der Studierenden der Fachhochschule
Kiel. Analyse des Erwerbseintritts, der Mobilität und der frühen Erwerbsphase der Studierenden der
Fachhochschule Kiel im Zeitraum 2005 - 2014. IAB-Regional Nord 07/2016, Nürnberg.
109
über Brandenburg hinaus gut kommuniziert und könnten den Nukleus eines „Wertschöpfung
4.0-Campus“ in Cottbus bilden, der weitere relevante Institute, Unternehmen und Startups
anzieht. Das Projekt „Innovatives Lernzentrum Lausitz (ILL)“, welches entlang der
Bildungskette berufliche Zukunftsperspektiven u. a. durch Vermittlung von
Schlüsselkompetenzen eröffnet, sollte daher weitergehend verfolgt werden.
Weitere bestehende Ansätze, wie das in Görlitz geplante CASUS als internationales Zentrum
(als Teil des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf) und der Innovation Campus Görlitz
für Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die gemeinsam digitale Methoden für die
Systemforschung entwickeln, sollten weiter vorangetrieben werden. Erwartet werden eine
internationale Sichtbarkeit in relevanten Zukunftsthemen, die Steigerung der Attraktivität
der Region für akademische Fachkräfte und der Transfer digitaler
Systemforschungsmethoden in die Industrie.
Die Integration von erneuerbaren Energien in die Sektoren Strom, Wärme, Industrie und
Verkehr ist eine der wichtigsten Aufgaben zur weiteren Umsetzung der Energiewende. Die
bestehende Gasinfrastruktur und die Power-to-X-Technologie (PtX) können den
entscheidenden Schlüssel für das Gelingen der Sektorenkopplung und damit das Erreichen
der Klimaziele liefern. Insbesondere durch die Umwandlung von erneuerbarem Strom in
Wasserstoff bzw. Methan, chemische Ersatzstoffe oder erneuerbare Kraftstoffe, kann Strom
über die bestehende Gasinfrastruktur und Tankinfrastruktur langfristig gespeichert,
transportiert und sektorenübergreifend nutzbar gemacht werden.
Ein Forschungskonsortium wird beginnend ab 2019 gemeinsam mit einem Reallabor im
Lausitzer Revier verschiedene Speichertechnologien und Power-to-X-Verfahren
anwendungsnah erforschen und neue Erkenntnisse unmittelbar in die Lehre einfließen
lassen. Aufgrund der thematischen Ausrichtung besteht hier eine hohe Schnittmenge mit
dem Projekt HZwo INFRA in Görlitz. In dieser Kombination aus Forschung und praktischer
Anwendung wird bei diesem Thema hohes Potenzial gesehen, das als spürbarer Beitrag zur
Strukturentwicklung in der Lausitz weiter unterstützt werden sollte.
An allen Hochschulstandorten in der Lausitz sollte die Forschung zur Nutzung der Potenziale
der (industriellen) Energieerzeugung durch Wasserstoff in Verbindung mit der
Energieinfrastruktur und der Nutzung von erneuerbaren Energien gezielt unterstützt
werden, wobei mit der Ansiedlung eines entsprechenden Fraunhofer Institutes an der BTU
Cottbus-Senftenberg konkrete Pläne im Raum stehen. In Cottbus soll die wissenschaftliche
Exzellenz auf dem Gebiet des Systems Engineering in Deutschland durch den Aufbau eines
DLR-Institutes für „Next Generation Turbofans“ gesteigert werden.
In Nutzung der Expertise der BTU Cottbus und der Hochschule Zittau/Görlitz soll außerdem
ein DLR-Institut für CO
2
-arme Industrieprozesse geschaffen werden.
In der Lausitz hat zudem der Maschinenbau im Leichtbau und in der Energietechnik
Zukunftschancen, da diese Forschungsfelder elementar für die Sektorkopplung bzw. Wärme-
und Energiespeicherung und -effizienz sind. Die Hochschule Zittau-Görlitz mit dem Institut
für Prozesstechnik, Prozessautomatisierung und Messtechnik und dem Fraunhofer Institut
für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik sollten entsprechend weiterentwickelt
werden. Des Weiteren liegen Chancen im Bereich Maschinenbau in der Erforschung
optimierter Fertigungstechniken und Produktionsabläufen, z. B. durch Automatisierung und
Robotik, die durch Automatisierung im Braunkohleabbau bereits über Kompetenzen in der
Lausitz verfügen. Dieses Forschungsfeld ist ebenfalls für Logistiktechnologien relevant.
Auch im Bereich der innovativen Landnutzung ergeben sich erhebliche Potenziale für die
Lausitz. Hier sollte die Initiative des Geoforschungszentrums Potsdam mit sechs
einschlägigen Instituten der Leibniz-Gemeinschaft und Fraunhofer-Gesellschaft sowie
110
zahlreichen Praxispartnern vor Ort zugunsten eines interdisziplinären Zentrums für
Landinnovation an der BTU gefördert werden.
Das Rheinische ENERGIEREVIER DER ZUKUNFT setzt Impulse für Forschung und Entwicklung,
die die Geschäftsmodelle der Energiewirtschaft in das Energiesystem der Zukunft führen.
Dazu gehören Orte der Zukunft wie die Einrichtung einer Tiefengeothermie an einem
ehemaligen Kraftwerksstandort, ein CO
2
-freies Energieversorgungssystem am Campus
Melaten oder die Weiterentwicklung der Solarcity Jülich und die Gründung eines
Fraunhofer-Institutsteiles für digitale Energie. Dabei ist sowohl im Rheinischen Revier als
auch bundesweit besonders zu berücksichtigen, wie die energieintensive Industrie trotz
aufgrund der Energiewende steigender Energiepreise ihre Wettbewerbsfähigkeit behält. Die
hohe Bedeutung der Energiekosten für ihre Produktion führt zu besonderer Energieeffizienz.
Weitere Einsparmaßnahmen lassen sich oft nur mit Technologiesprüngen bewältigen. Im
Rheinischen Revier soll die Forschung auch der bestehenden Lehrstühle und Institute mit
Produktionskompetenz stärker für die Entwicklung von Transformationstechnologien und -
prozessen genutzt werden: Der Institutsverbund Campus Melaten/ Campus West an der
RWTH Aachen soll um einen Verbundansatz „Low Carbon Technologien“ mit einem neuen
Institut ergänzt werden. Im Rhein-Kreis Neuss werden mit dem Campus Changeneering für
die Sektoren Metall, Chemie und Gesundheit Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft
vernetzt und kooperativ Innovationen in den jeweiligen Bereichen aber auch CrossOver
unter besonderer Betrachtung der Digitalisierung vorangetrieben und ein Raum- und
Vernetzungsangebot für Gründer und Gründerinnen, Start-ups und Freelancer angeboten.
Die Universitäten, Hochschul- und Forschungseinrichtungen rund um das Rheinische Revier
besitzen eine ausgewiesene Exzellenz. Mit dem Brainergy Park Jülich kann ein wesentlicher
Beitrag zur Energieeffizienz geleistet werden. In der Konzentration hochinnovativer
Unternehmen und Forschungseinrichtungen wird ein Kompetenzareal mit Pioniercharakter
geschaffen, das als selbständiger Energiespeicher fungiert. Um die anstehende
Transformationsaufgabe zu bewältigen, muss es darum gehen, die Potenziale aus den
Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die Entwicklung der Region noch
wirkungsvoller nutzbar zu machen. Dazu sollen die Universitäten und Hochschulen Aachen,
Köln und Düsseldorf sowie das Forschungszentrum Jülich gemeinsam mit vielen weiteren
wissenschaftlichen Einrichtungen durch die Nutzung ihrer exzellenten Forschung im Rahmen
von Start-up Centern Impulse für Gründungen und Ausgründungen in die Region setzen.
Projekte sind das Exzellenz Start-up Center plus, die Einrichtung eines Blockchaininstituts
und der Aufbau einer New Business Factory.
Grundstoffindustrien und stoffliche Nutzung
Hierzu haben die Länder die folgenden Vorschläge unterbreitet:
Die Glasbranche ist in der mitteldeutschen Region ein zukunftsträchtiges Kernelement für
eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Um qualifizierte Aus- und
Weiterbildungsangebote im Bereich Glas/Keramik/Baustoffe direkt in der Region anbieten
zu können, könnte die Errichtung eines „Glascampus Torgau“ einen wichtigen Beitrag leisten
als hochqualifizierendes, akademisch ausgerichtetes Weiterbildungszentrum für Fachkräfte
der Glasbranche. Ziel ist die Sicherung und der Ausbau der technischen Glasindustrie im
Mitteldeutschen Revier mit überregionaler wirtschaftlicher Bedeutung.
Als Kohlenstoffträger kann die Braunkohle als Rohstoff für die chemische und
petrochemische Industrie dienen. Sie wird in Deutschland noch über viele Jahre abbaubar
sein. Die Klärung der Frage, ob, in welchem Umfang und unter welchen
111
Rahmenbedingungen dies möglich sein kann, bedarf weiterer Forschung.
171
Ein geeigneter
Ansatz unter Nutzung der vorhandenen Potenziale im Mitteldeutschen Revier wäre die
Schaffung eines Modellprojektes des Fraunhofer Institutes zur weiteren stofflichen Nutzung
der Braunkohle. In Mitteldeutschland findet bereits eine substanzielle und marktfähige
stoffliche Braunkohlennutzung statt. Im Lausitzer Revier ergibt sich unter Nutzung der
vorhandenen Potenziale die Möglichkeit der Schaffung eines Modellprojektes der TU
Bergakademie Freiberg zur stofflichen Nutzung der Braunkohle zur Herstellung
synthetischer Kraftstoffe bis hin zur Verwendung der Braunkohle im CO
2
-neutralen
Wertstoffbetrieb.
Die chemische Industrie und Kunststoffverarbeitung ist im Mitteldeutschen Revier eine
innovative Leitindustrie, die in Verknüpfung mit dem vorhandenen wissenschaftlichen
Know-how aktiv an der Gestaltung des Strukturwandels mitwirkt. Dieser Prozess kann durch
die Weiterentwicklung des Fraunhofer-Leitungszentrums Chemie- und Biosystemtechnik zur
Circular Carbon Economy unter entsprechender Einbindung aller regionalen Akteure und
damit verbundenen Transferaktivitäten den Transformationsprozess zu einer
Innovationsregion Mitteldeutschen Revier weiter befördern.
Vor dem Hintergrund der in Niedersachsen entstehenden Mono-Verbrennungskapazitäten
besteht auch Bedarf an Anlagen zur Phosphorrückgewinnung. Die Stoffströme der Aschen
sollten möglichst im eigenen Bundesland weiter verarbeitet und zur Phosphorrückgewinnung
genutzt werden. Dafür bietet der Standort Helmstedt eine gute Ausgangslage.
Im Rheinischen Revier sollen die lokalen Stärken in der Bioökonomie (z. B. BioSC 2.0), in der
Pflanzenforschung und der stofflichen Nutzung der Braunkohle (Zukunftsinitiative
Kohlenstoff) sowie klimaneutrale Kraftstoffe weiterentwickelt und wirtschaftlich genutzt
werden.
Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zur Digitalisierung
Wesentlich für die nachhaltige Entwicklung und die Zukunftsfähigkeit von Regionen ist es, dass
Unternehmen nicht nur auf die Anforderungen der Digitalisierung reagieren, sondern auch
entsprechende Geschäftsmodelle im Rahmen der Digitalisierung entwickeln können. Alle
zukunftsgetragenen Prozesse basieren auf der Erfassung und Nutzung großer Datenmengen. Eine
hauptsächlich von KMUs geprägte Unternehmenslandschaft wie in der Lausitz steht dabei vor
besonderen Herausforderungen. Die einzelnen Unternehmen können im Allgemeinen weder in die
Hardware noch in die spezialisierten Fachkräfte, wie z. B. Datenanalysten, in ausreichendem Maße
investieren. Insofern gilt es im Lausitzer Revier, mit Anbindung an die BTU Cottbus-Senftenberg
Dienstleistungszentren (data warehouses, data mining, data analysis) zur Unterstützung von KMU
bei der Digitalisierung anzusiedeln. Als Pilotprojekt sollte ein erstes Dienstleistungszentrum in
Cottbus errichtet werden.
Um an die vorhandenen Potenziale im Mitteldeutschen Revier anzuknüpfen, bietet sich die
Gründung einer staatlich anerkannten privaten Hochschule, um anfänglich Bachelor-Programme in
Elektrotechnik, Informatik und Wirtschaftsinformatik an. Mit dieser technischen Ausrichtung könnte
zudem das mit der Schließung der Telekom-Hochschule in Leipzig entstandene technische Defizit
ausgeglichen werden. Das ebenfalls neue aufzubauende Deutsch-Amerikanische-Institut (DAI) soll
idealerweise mit angebunden werden.
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Bislang unveröffentlichte Studie von Prof. Dr. Armin Grunwald, Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
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Wissenschaftliche Begleitung von Strukturwandel und Transformation
Die Kommission weist darauf hin, dass vor allem in den Braunkohleregionen die wissenschaftliche
(Vor-Ort-) Begleitung und das (Vor-Ort-) Monitoring des Strukturwandels als wichtiges Thema der
Wissenschaftslandschaft etabliert werden sollte. Die Länder haben hierzu folgende Vorschläge
entwickelt:
Im Rheinischen Revier soll die Ansiedlung eines Max-Planck-Instituts im Bereich der
Transformationsforschung wichtige Impulse setzen.
Mit der Einrichtung eines interdisziplinären Zentrums für Erforschung des Strukturwandels
und Biodiversität der Bergbaufolgelandschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-
Wittenberg kann der Strukturwandel wissenschaftlich begleitet und durch neue Impulse auf
der Grundlage einer wissenschaftlichen Analyse flankiert werden.
Gründung des Sächsischen Instituts für Energie- und Transformationsforschung (SIET) an der
Hochschule Zittau/Görlitz mit Sitz im Lausitzer Revier, um Ideen für den Strukturwandel zu
generieren und die eingeschlagenen Strategien regelmäßig zu überprüfen.
Experimentierklauseln, Reallabore und regulatorische Maßnahmen
Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat mehrfach empfohlen, dass die
Braunkohlereviere zu Innovationsregionen für die Bewältigung des Strukturwandels werden sollen.
Dabei gibt es sehr verschiedene Wege. Aus Sicht der Kommission kann dann von einer
Innovationsregion gesprochen werden, wenn die einzelnen Instrumente so zusammenwirken, dass
neue, innovative Wertschöpfungsketten in den Revieren entstehen. Die Kommission empfiehlt hier
insbesondere, auch Experimentierklauseln, Reallabore und regulatorische Maßnahmen in den Blick
zu nehmen.
Um diese Entwicklung zu erreichen, sollten Bund und Länder dafür Spielräume in den vorhandenen
Regelungen und Rahmenbedingungen schaffen, die im Einklang mit den erreichten Standards zum
Beispiel im Umwelt- oder Arbeits- und Tarifrecht stehen. Bei der Identifizierung und Umsetzung
möglicher Ausnahmen müssen Bund und Länder eng zusammenarbeiten. Es sind Maßnahmen zu
ergreifen, die es erlauben, in den Revieren Planungen zu beschleunigen, insbesondere im Hinblick auf
kürzere Genehmigungsverfahren.
In Ergänzung dazu eignet sich das von der Bundesregierung auch in ihrem neuen siebten
Energieforschungsprogramm angekündigte Instrument der Reallabore, mit denen Vorhaben mit
Pioniercharakter für die Energiewende auf den Weg gebracht werden sollen. Es ist zu prüfen, ob
einzelne Reallabore in den Revieren als künftige Innovationsregionen unter regulatorischen
Sonderbedingungen eingerichtet werden können. Vor dem Hintergrund, dass Power-to-Gas
zahlreichen Studien zufolge eine wichtige Rolle bei der Flexibilisierung der Stromversorgung spielen
und es in Zukunft einen erheblichen Ausbaubedarf von Power-to-Gas-Anlagen geben wird, sollte ein
besonderer Schwerpunkt in den Reallaboren der Strukturwandelregionen auf diese Technologie
gelegt werden. Ein weiterer Schwerpunkt sollte darüber hinaus die Schaffung von Reallaboren im
Bereich der „Grünen Fernwärme“ sein. Bei den Reallaboren sollten auch die Erfahrungen aus den
gegenwärtigen Sinteg-Projekten aufgegriffen werden.
Auch hier gilt, dass durch eine intelligente Kombination von regulatorischen Freiräumen und einer
unterstützenden finanziellen Förderung zum Beispiel über einen Fonds die Reviere zu Vorreitern und
Innovatoren für bestimmte Themen werden können.
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Die Reduzierung von unnötiger, das heißt sachlich nicht gerechtfertigter Bürokratie und
Verwaltungsaufwand sollte ein weiterer Baustein sein, um die Wirtschaft von unnötigem Aufwand zu
entlasten. Der Schutz der Beschäftigten, der Verbraucher/innen, der Umwelt oder der Erreichung
sozialer oder anderer Gemeinwohlziele darf dem dabei jedoch nicht untergeordnet werden.
Um die Strukturentwicklung auch europarechtlich zu flankieren, sollte durch die Bundesregierung mit
der Europäischen Union das Einvernehmen erzielt werden über
deutsche Sonderfördergebiete nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstaben a und c des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),
eine integrierte Neuausrichtung der EU-Struktur- und Forschungsförderung in neu
auszuweisenden Sonderfördergebieten (Modellregionen) jenseits der Einzellogiken der
heutigen unterschiedlichen Strukturfonds,
die Anpassung des EU-Beihilferechts für neu auszuweisende Sonderförderregionen
(Modellregionen) und
die Anpassung der Förde