Sächsisches Staatsministerium für Kultus (Hrsg.)
Der Sächsische Bildungsplan –
ein Leitfaden für
pädagogische Fachkräfte
in Krippen,
Kindergärten und Horten sowie
für Kindertagespflege
verlag das netz
Weimar . Berlin
Bitte richten Sie Ihre Wünsche, Kritiken und Fragen an:
verlag das netz
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13187 Berlin
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Projektgruppe:
Prof. Dr. Stephan Sting, Prof. Dr. Hans Gängler, Dr. Susanne Kleber, Bettina Klingner, Kristin Pfeifer
Der Sächsische Bildungsplan wurde im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und
Sport durch die Technische Universität Dresden, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohl-
fahrtswissenschaften im Rahmen eines Projekts erarbeitet. Die Erarbeitung wurde durch einen Bei-
rat begleitet.
Mitglieder des Beirats:
Wolfgang Brinkel, Dr. Gerd Drechsler, Katrin Ernst, Barbara Garthe, Maria Groß, Dr. Patricia Liebscher-
Schebiella, Wera Lindner, Helga Muhr, Falk Neubert, Gabriele Oehme, Friedhelm Piepmeyer, Dr. Kat-
rin Reichel-Wehnert, Lars Rhower, Angelika Scheffler, Arnfried Schlosser, Dr. Mathias Urban, Brigitte
Wende, Dr. Cornelia Wustmann
Herausgeber:
Sächsisches Staatsministerium für Kultus
Carolaplatz 1
01097 Dresden
ISBN 978-3-86892-059-8
An dem Text des Bildungsplans besteht kein Urheberrechtsschutz nach § 5 UrhG. Auf das Verände-
rungsverbot am Text des Bildungsplans entsprechend § 62 Abs. 1 UrhG und die Verpflichtung zur
Quellenangabe entsprechend § 63 Abs. 1 und 2 UrhG wird hingewiesen. Davon unberührt bleibt der
Urheberrechtsschutz der Leistungen des Verlages. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urhe-
berrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar.
© 2011 verlag das netz, Weimar · Berlin
Gestaltung: Jens Klennert, Tania Miguez
Druck und Bindung: Förster & Borries GmbH
Titelbild: Udo Lange, Pädagogische Ideenwerkstatt »Bagage« e.V. Freiburg i.Br.
Fotos: Ästhetische Bildung: Torsten Krey-Gerve, Mathematische Bildung: Elisabeth Niggemeyer,
alle anderen Fotos: Udo Lange
Printed in Germany
Weitere Infomationen finden Sie unter
3
Einführung
1
Grundlagen
1.1
Intention des sächsischen Bildungsplans
1.2
Ein neues Bild vom Kind
1.3
Kindheit im Wandel
1.4
Bildung neu denken
1.5
Spiel und Lernen zur Aneignung von Welt
1.6
Professionelles Handeln im pädagogischen Alltag
1.7
Professionelles Handeln im pädagogischen Alltag von Kindertagespflegepersonen
2
Bildungsbereiche
2.1
Somatische Bildung
2.1.1 Fachliche Einführung
2.1.2 Leitbegriff Wohlbefinden
2.1.3 Inhalte des Bereichs Körper, Bewegung, Gesundheit
2.1.4 Anregungen zum Weiterdenken
2.1.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
in der Kindertagespflege
2.1.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
2.2
Soziale Bildung
2.2.1 Fachliche Einführung
2.2.2 Leitbegriff Beteiligung
2.2.3 Inhalte des Bereichs Soziales Lernen, Differenzerfahrungen,
Werte und Weltanschauungen, Demokratie
2.2.4 Anregungen zum Weiterdenken
2.2.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
in der Kindertagespflege
2.2.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
2.3
Kommunikative Bildung
2.3.1 Fachliche Einführung
2.3.2 Leitbegriff Dialog
2.3.3 Inhalte des Bereichs nonverbale Kommunikation, Sprache, Schriftlichkeit
und Medien
2.3.4 Anregungen zum Weiterdenken
2.3.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
in der Kindertagespflege
2.3.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
2.4
Ästhetische Bildung
2.4.1 Fachliche Einführung
2.4.2 Leitbegriff Wahrnehmen
2.4.3 Inhalte des Bereichs Musik, Theater und Tanz, bildnerisches Gestalten
2.4.4 Anregungen zum Weiterdenken
Inhalt
5
9
12
15
18
21
24
28
32
37
41
43
44
46
53
54
58
61
63
64
66
73
74
77
79
81
82
84
90
91
93
95
97
99
100
107
4
2.4.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen in
der Kindertagespflege
2.4.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
2.5
Naturwissenschaftliche Bildung
2.5.1 Fachliche Einführung
2.5.2 Leitbegriff Entdecken
2.5.3 Inhalte des Bereichs Natur, Ökologie, Technik
2.5.4 Anregungen zum Weiterdenken
2.5.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
in der Kindertagespflege
2.5.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
2.6
Mathematische Bildung
2.6.1 Fachliche Einführung
2.6.2 Leitbegriff Ordnen
2.6.3 Inhalte des Bereichs Entdecken von Regelmäßigkeiten und Entwicklung
eines Zahlenverständnisses, Messen, Wiegen und Vergleichen,
Vorstellungen über Geometrie
2.6.4 Anregungen zum Weiterdenken
2.6.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
in der Kindertagespflege
2.6.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im Hort
3
Kontexte
3.1
Didaktisch-methodische Überlegungen
3.1.1 Räumlichkeiten und Materialien
3.1.2 Wahrnehmen, Beobachten und Reflektieren
3.1.3 Dokumentieren
3.1.4 Projektarbeit
3.2
Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern
3.3
Aufgaben des Trägers der freien und öffentlichen Kinder-
und Jugendhilfe und Integration ins Gemeinwesen
3.3.1 Aufgaben des Trägers
3.3.2 Integration ins Gemeinwesen
3.4
Kooperation am Übergang zur Grundschule
3.5
Kooperation von Kindertagespflege und Kindertageseinrichtungen
3.6
Kooperation von Hort und Grundschule sowie Vorbereitung des Übergangs
an weiterführende Schulen
4
Anhang
Die religiöse Dimension der Lebens- und Welterfahrung von Kindern
Was ist mit dem Bildungsbereich religiöse Grunderfahrungen und
Werteentwicklung gemeint?
5
Literatur
108
110
113
115
117
118
122
124
128
131
133
135
136
140
141
144
147
150
150
151
153
154
157
161
161
163
166
170
173
177
179
181
189
5
»Bildung ist ein Prozess, der mit der Geburt beginnt, grundsätzlich indivi-
duell und lebenslang verläuft.« (Sächsisches Staatsministerium für Sozia-
les/Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2003, S. 2) Das Herausstel-
len des Prozesscharakters von Bildung hat auch im frühkindlichen Bereich
zu Diskussionen über den Bildungsauftrag und über die zukünftigen Bil-
dungsaufgaben geführt. Menschen werden mit der Geburt zu »Einwande-
rern in ein unbekanntes Land«, dessen Erkundung und Aneignung den
Kern des Bildungsprozesses ausmacht. Die Reise in dieses neue Land ist
eine Herausforderung, die Mut erfordert und zugleich Möglichkeiten bie-
tet, täglich neue Entdeckungen zu machen. Hindert uns die Angst vor
Missgeschicken und Fehlern daran, Neuland zu betreten, dann bleiben wir
ohne Erkenntnisgewinn. Fehler, Irrtümer und Irritationen können als Moti-
vation und Ansporn für das Weiterlernen, für die Suche nach neuen und
geeigneteren Wegen dienen.
Sucht man nach Möglichkeiten zur Unterstützung kindlicher Bildungspro-
zesse, dann ergibt sich zunächst die Frage, wie sich Kinder auf die sie
umgebende Welt einstellen und welche Strategien sie entwickeln, um
dieses Neuland zu erobern – auf ihre individuelle Art und Weise. Dazu
benötigen sie Mütter, Väter, Erzieherinnen und Erzieher, Tagesmütter und
Tagesväter bzw. Menschen aus ihrer Umgebung, die ihnen als Begleiterin-
nen und Begleiter bei dieser »Eroberung« zur Seite stehen. Erzieherinnen,
Erzieher, Tagesmütter und Tagesväter haben die Aufgabe, mit Hilfe ihrer
pädagogischen Arbeit einen Ausschnitt des ›Neulands‹ auf eine bildungs-
und entwicklungsförderliche Weise zu gestalten, was neben Betreuung
Einleitung
und Erziehung gezielte Aktivitäten zur Anregung von Bildungsprozessen
einschließt. Deren Gestaltung erfordert einen Rückbezug auf die bereits
erworbenen, eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, aber auch
eine Auseinandersetzung mit den veränderten Bedingungen des Aufwach-
sens von Kindern und eine genaue Beobachtung der Wege, die jedes Kind
von sich aus einschlägt. Zugleich ist eine fachliche Unterstützung erforder-
lich, die Impulse für die Reflexion und Neugestaltung der pädagogischen
Arbeit gibt. Der vorliegende Bildungsplan soll hierzu Anregungen geben
und eine Orientierungshilfe bieten. Bei der Organisation der täglichen Bil-
dungsarbeit stehen pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen
und Kindertagespflege vor ähnlichen Lern- und Bildungsprozessen wie die
sich bildenden Kinder. Sie müssen ausprobieren und experimentieren, was
Irrtümer und Fehler unvermeidlich macht. »Fehler sind ein Mittel, um den
richtigen Weg durch ein System, eine Struktur, ein Netz zu finden. Wir kön-
nen nicht lernen, wenn wir keine Fehler machen dürfen.« (Spiegel/Selter
2003, S. 36).
Lernen so gefasst bedeutet, dass die Verantwortung für das Lernen dem
Lernenden – unabhängig davon, ob es sich um Kinder oder Erwachsene
handelt – zurück übertragen wird. Es geht um eine Lernkultur, die den
gegenseitigen Austausch von Erkenntnissen, Erfahrungen und Meinungen
ermöglicht. Ganz gleich ob zwischen pädagogischen Fachkräften, Eltern
oder Kindern: Bildung vollzieht sich im Dialog und in der Eigenverantwor-
tung der Sich-Bildenden. Die Arbeit der Eltern und der pädagogischen Fach-
kräfte besteht in einer qualifizierten Anregung, Begleitung, Unterstützung
und Absicherung der kindlichen Bildungsbestrebungen, wofür im Alltag
Ideen und Material sowie zeitliche und räumliche Ressourcen gefragt sind.
Im Bundesmodellprojekt »Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtun-
gen« wurde von der selbsttätigen Weltaneignung und Kompetenzentwick-
lung des Kindes ausgehend, Bildung in einem »doppelten Sinn« als
Selbstbildung definiert: »Bildung durch Selbsttätigkeit und Bildung des
Selbst als dem Kern der Persönlichkeit. Bildung – so verstanden – wäre
also der Anteil des Kindes an seiner eigenen Entwicklung.« (Laewen/
Andres 2002a, S. 61). Kinderkrippen, Kindergärten, Horte und Kindertages-
pflegestellen sind demnach eigene Bildungsräume, die darüber hinaus
gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag eine Betreuungs- und Erziehungsfunk-
tion wahrzunehmen haben. In § 2 Abs. 2 des Sächsischen Gesetzes zur
Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen (SächsKitaG) steht deshalb:
»Der ganzheitliche Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag dient vor
allem
1. dem Erwerb und der Förderung sozialer Kompetenzen wie der Selbstän-
digkeit, der Verantwortungsbereitschaft und der Gemeinschaftsfähigkeit,
der Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Menschen, Kulturen und
Lebensweisen sowie gegenüber behinderten Menschen und
2. der Ausbildung von geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Fertig-
keiten, insbesondere zum Erwerb von Wissen und Können, einschließ-
lich der Gestaltung von Lernprozessen.«
Der Sächsische Bildungsplan knüpft an aktuelle Forschungsergebnisse und
gesetzliche Rahmenbedingungen in Sachsen an und hat in der nunmehr
dreijährigen Erarbeitungsphase die verschiedensten Institutionen und
6
Einleitung
Berufsgruppen zusammengeführt. Sächsische Kindertageseinrichtungen
und Kindertagespflegestellen sollen allen Kindern – unabhängig von
Geschlecht; Alter; sozialer, religiöser, ethnischer und kultureller Herkunft;
physischen und psychischen Besonderheiten; Sozialisations- und biogra-
phischen Erfahrungen – soziale Übergänge eröffnen und Unterstützungs-
formen bieten, die ihnen einen Einstieg in das gesellschaftliche Leben mit
seinen Herausforderungen und eine Ergänzung zu ihrer privaten Lebens-
umgebung ermöglichen. Erzieherinnen, Erzieher, Tagesmütter und -väter
erfüllen in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion, indem sie die-
ses Bildungsverständnis in ihren beruflichen Alltag integrieren und Kin-
dern durch geeignete Anregungen und Räume, Materialien sowie Gelegen-
heiten zum selbsttätigen Tun, Bildungsprozesse ermöglichen. Im Übergang
von der Kindertagespflege in die Kindertageseinrichtung sowie von der
Kindertageseinrichtung in die Schule wird diese Bildungsperspektive fort-
gesetzt und als gemeinsame Aufgabe von Schule und Kindertageseinrich-
tung in das curriculare Lernen integriert.
Der Bildungsplan ist in drei Kapitel geteilt: Grundlagen, Bildungsbereiche
und Kontexte.
1. Grundlagen
Dieses Kapitel beinhaltet grundlegende Aussagen zum neuen Bildungsver-
ständnis und zum neuen Bild vom Kind, die die aktuelle pädagogische
Arbeit in Kindertageseinrichtungen bestimmen. Dabei ist es notwendig,
sich mit den gegenwärtigen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern
auseinander zu setzen. Spiel und Lernen gelten als die kindlichen Aneig-
nungstätigkeiten von Welt und werden als zentrale Prozesse herausge-
stellt, an denen sich pädagogische Fachkräfte in ihrem professionellen
Handeln orientieren sollen.
2. Bildungsbereiche
Die sechs formulierten Bildungsbereiche stellen zum einen in sich abge-
schlossene Einheiten dar, die durch einen speziellen Leitbegriff zusam-
mengefasst werden. Zum anderen stehen sie miteinander in Verbindung
und sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten.
Die Grundideen der einzelnen Bildungsbereiche werden in den letzten
beiden Abschnitten für die Kindertagespflege und den Hort ergänzt, wobei
die inhaltlichen Ausführungen zur Kindertagespflege für die gesamte
Altersstufe von Kindern unter drei Jahren Anregungen bieten. Sofern älte-
re Kinder in der Kindertagespflege betreut werden, können die weiteren
Ausführungen des Bildungsplanes genutzt werden.
Erzieherinnen, Erzieher, Tagesmütter und -väter werden aufgefordert,
nicht nur in altersspezifischen Mustern zu denken, sondern vielmehr die
individuell zutreffenden Bildungsthemen der Mädchen und Jungen zu
erfassen.
3. Kontexte
Das dritte Kapitel umschließt ebenso wie die Grundlagen die sechs Bil-
dungsbereiche, denn qualitativ gute Arbeit in Kindertageseinrichtungen und
Kindertagespflegestellen ist vor allem abhängig von der Gestaltung anre-
gender Lernumgebungen, der Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern,
7
Einleitung
der Bereitstellung geeigneter Rahmenbedingungen und der Vernetzung ins
Gemeinwesen. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit der Grundschule setzt
der Bildungsplan den bisher eingeschlagenen Weg der neuen Grundschul-
lehrpläne und der »Gemeinsamen Vereinbarung des Sächsischen Staatsmi-
nisteriums für Soziales und des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus
zur Kooperation von Kindergarten und Grundschule« konsequent fort. Der
Kooperation zwischen Kindertagespflege und Kindertageseinrichtung so-
wie zwischen Schule und Hort wird abschließend im Zusammenhang mit
aktuellen Entwicklungen an diesen Schnittstellen Aufmerksamkeit ge-
schenkt.
Einleitung
8
1. Grundlagen
Der Bildungsplan soll eine thematisch-methodische Orientierungshilfe und
ein Instrument für die Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte so-
wie zur Ausgestaltung des Bildungsauftrages von Kindertagespflege, Krip-
pen, Kindergärten und Horten sein.
Ein ganzheitliches und demokratisches Bildungsverständnis, in dem das
Kind als Akteur seiner eigenen Entwicklung im sozialen Miteinander ver-
standen wird, ist Grundlage der Bildungsarbeit mit Kindern bis zu zehn
Jahren.
Lesehinweis:
Im Bildungsplan heben kleine Kästchen besondere Aussagen des Textes
hervor, die an der entsprechenden Stelle vertieft werden.
1. Grundlagen
11
1.1
Intention des sächsischen Bildungsplans
Der Bildungsplan ist Orientierungshilfe für die tägliche Praxis von pädagogi-
schen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen sowie von Kindertagespflege-
personen. Er fordert gleichzeitig auf, über Bildung und Erziehung in Zeiten
massiver gesellschaftlicher Veränderungen gemeinsam nachzudenken. Das
Wissen um die heutigen Lebensbedingungen von Kindern und neue Erkennt-
nisse der frühkindlichen Forschung bilden die Grundlage für das professio-
nelle Handeln von Erzieherinnen und Erziehern in Kindertageseinrichtungen
und Kindertagespflegepersonen. Der Sächsische Bildungsplan leistet einen
Beitrag zur Professionalisierung des pädagogischen Handelns und stellt
zugleich die Eigenständigkeit der Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen
im Alter bis zu zehn Jahren heraus. Die sächsische Kooperationsvereinbarung
zum Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule und die
Empfehlung zur Kooperation von Grundschule und Hort (vgl. SMK/SMS
2007) werden aus dieser Perspektive zum Bindeglied für die Zusammenar-
beit zwischen den Institutionen Familie, Kindertagesbetreuung und Schule.
Kinder wachsen heute unter sehr unterschiedlichen Bedingungen auf. Viel-
falt und Heterogenität müssen deshalb stärker denn je in den Fokus der Auf-
merksamkeit rücken. Krippen, Kindergärten, Horte und Kindertagespflege-
stellen sollen sich zu Orten entwickeln, an denen alle Kinder Gelegenheit
haben, Anerkennung und Lerngelegenheiten zu finden und gleichberechtigt
an allen Prozessen im Alltag beteiligt zu sein. Die pädagogische Arbeit mit
Kindern erschöpft sich nicht darin, die Betreuung für Kinder bis zu zehn Jah-
ren zu sichern. Das soziale Miteinander in einer Kindergruppe eröffnet neue
Interaktionsfelder, Lebens- und Bildungsräume, die Mädchen und Jungen
aktiv mitgestalten, individuell nutzen und für sich erfahrbar machen können.
Diese wichtigen Sozialräume beeinflussen und begleiten Mädchen und Jun-
gen bei der Entwicklung ihrer Identität. Kindertageseinrichtungen und Kin-
dertagespflegestellen sind Orte, die bestehende Geschlechterverhältnisse
sowohl reproduzieren als auch mitgestalten. Aus diesen Gründen ist es
wesentlich, sowohl sensibel mit Unterschiedlichkeiten – zum Beispiel in
Bezug auf Herkunft oder Geschlecht – umzugehen, als auch die Stärken der
Mädchen und Jungen wahrzunehmen, um gerechte Bildungschancen für alle
bieten und umsetzen zu können. Kindertageseinrichtungen und Kindertages-
pflegestellen sind gerade durch die Berücksichtigung von Differenzen auf
gleichberechtigte Teilhabe ausgerichtet und nehmen die Entwicklung einer
demokratischen Gesellschaft in den Blick (vgl. SMS 2006, Abschnitt 1.2).
Als verbindlicher Rahmen soll der Bildungsplan die pädagogische Praxis in
sächsischen Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen qualita-
tiv voranbringen, während er zugleich genug Spielraum bietet, eigene Ideen
einzubringen und zu verwirklichen. Erzieher und Erzieherinnen, Tagesmütter
und -väter benötigen bewusste Ziele und Begründungen für ihr Handeln, um
allen Kindern die Möglichkeit zu geben, Entwicklungspotenziale zu entfalten.
Diese Ziele können zwei Formen annehmen: zum einen den Charakter einer
normativen Zielformulierung, die darin mündet, das Erreichen der Ziele durch
die Kinder zu prüfen, und zum anderen den Charakter von Richtungszielen,
die das Handeln von pädagogischen Fachkräften leiten. Mit Letzterem wird
das Tun der Fachkräfte überprüfbar und pädagogische Praxis evaluierbar. Die
Grundlagen
12
Professionell handeln
auf der Grundlage
neuer Forschungs-
ergebnisse
Kindheit im Wandel
Gerechte
Bildungschancen
für alle sichern
Bildung neu denken
Pädagogisches
Handeln reflektieren
Formulierungen im Bildungsplan tragen den Charakter von Richtungszielen,
die das Handeln von pädagogischen Fachkräften in der Kindertagesbetreu-
ung unterstützen und zur Reflexion des eigenen Tuns beitragen können.
In diesem Zusammenhang wird sichtbar, dass eine stärkere Unterstüt-
zung auf der Handlungsebene, zum Beispiel durch Aus-, Weiter- und Fort-
bildung erfolgen muss und ein erhöhter Forschungsbedarf besteht. Fremd-
und Selbstevaluation, Beobachtung und Analyse der Bildungsprozesse
von Kindern sowie deren Dokumentation sind neue Herausforderungen.
Hier werden die Unterstützung der Fachberatung für Kindertageseinrich-
tungen sowie von Beratungsstellen für Kindertagespflege unerlässlich.
Wenn Kinder aktive Gestalter ihres Bildungsprozesses sind, dann müssen
sie zukünftig auch viel stärker an der Dokumentation ihrer Bildungs- und
Lerngeschichten mitwirken dürfen. Erzieherinnen, Erzieher und Kinderta-
gespflegepersonen sollen mit Hilfe von Dokumentationsverfahren in die
Lage versetzt werden, gemeinsam mit den Mädchen und den Jungen
Erfahrungen und Lerngeschichten zu reflektieren, um ihnen zu zeigen,
dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Lernprozess durchlaufen
haben. Geeignete und innovative Formen der Dokumentation zu finden,
stellt die Forschung vor die Aufgabe, gemeinsam mit der Praxis unterstüt-
zende Instrumente zu entwickeln (vgl. SMS 2006, Abschnitt 3.1).
Dem Teamgedanken kommt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle
zu, denn Teamarbeit und Leitungsstil sind Ausgangspunkte einer demokrati-
schen Kultur in Kindertageseinrichtungen und für die Sicherung von Kontinui-
tät und Qualität der pädagogischen Arbeit. Qualitätssicherung ist zwar zu-
nächst eine Aufgabe der Leitung und des Trägers, aber sie ist auch Aufgabe
jedes/jeder Einzelnen. Der fachliche Dialog, der in diesem Bildungsplan be-
sonderes Gewicht erhält, ist ein notwendiges Instrument, um alle Fachkräfte
– auch externe Fachleute – zur Kooperation anzuregen (vgl. SMS 2006, Ab-
schnitt 1.6). Ähnliches gilt, wenn es um die Zusammenarbeit mit Eltern geht.
Das Gespräch auf »gleicher Augenhöhe«, in dem Mütter und Väter als Exper-
tinnen und Experten für die Bildung ihrer Kinder mit eigenen Ideen, Gedanken
und Interessen angesehen werden, ist ebenso grundlegend wie die Aktivie-
rung von Eltern zur Beteiligung an den Belangen der Kindertageseinrichtung.
Der auszugestaltende Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen muss sich
im jeweiligen pädagogischen Konzept niederschlagen und für Eltern transpa-
rent sein (vgl. SMS 2006, Abschnitt 3.2). Eine dialogische und forschende
Grundhaltung muss auch in der täglichen pädagogischen Arbeit in der Kin-
dertagespflege handlungsleitend werden (vgl. SMS 2006, Abschnitt 1.7).
Eltern haben nach § 5 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) ein
Wunsch- und Wahlrecht, das auf der einen Seite die Trägerpluralität erhält
und auf der anderen Seite die Träger motiviert, qualitativ gute Arbeit zu lei-
sten. Der Verantwortung für pädagogische Qualität in jeder einzelnen Kinder-
tageseinrichtung sollte der Träger durch entsprechende Standards und Rah-
menbedingungen Rechnung tragen. Die inhaltliche Ausgestaltung liegt je-
doch in den Händen der pädagogischen Fachkräfte. In dem Zusammenhang
ist die Kooperation mit externen Professionellen wie Fachberater/innen, Phy-
siotherapeut/innen, Logopäd/innen, Psycholog/innen, Ergotherapeut/innen und
anderen Berater/innen und Expert/innen im Interesse der Kinder und Eltern
zu fördern (vgl. SMS 2006, Abschnitte 3.3 und 3.6). Erwartungen und Wün-
sche der Eltern sollten erfragt und so weit als möglich berücksichtigt werden.
Grundlagen
13
Beobachtung,
Dokumentation,
Projektarbeit
Zusammenarbeit
mit Müttern und
Vätern sichern
Mit Trägern
zusammenarbeiten,
sich professionell
vernetzen
Die Zusammenarbeit mit der Schule, die in der sächsischen Vereinbarung
zur Kooperation von Kindertageseinrichtung und Schule und in der Emp-
fehlung zur Kooperation von Schule und Hort (vgl. SMK/SMS 2007) veran-
kert ist, schließt ein, dass auch hier fachliche Diskurse ermöglicht werden,
welche gleichberechtigt sind und sensibel auf die jeweiligen Veränderun-
gen in den Bereichen reagieren können.
Der Bildungsplan schafft die eigenständige Arbeitsgrundlage für Erzieherin-
nen und Erzieher in Krippe, Kindergarten, Kindertagespflegestellen und Hort.
Die neuen Lehrpläne der Grundschule bilden die Grundlage für die Arbeit der
Lehrerinnen und Lehrer. Diese neuen Inhalte und Grundüberlegungen sind
stärker als bisher ein wichtiger Bestandteil gemeinsamer Fort- und Weiter-
bildung von Erzieherinnen, Erziehern und Lehrerinnen und Lehrern. Päda-
gogische Fachkräfte beider Institutionen sind aufgefordert, Brücken zu
schlagen und Übergänge zu stützen. Kindertageseinrichtungen, Horte und
Grundschulen in Sachsen nehmen die Themen der Kinder auf und schaffen
geeignete Lernumgebungen. Es werden im Bildungsplan bewusst keine
Kompetenzkataloge formuliert, die Kinder bis zu einem bestimmten Alter
erreicht haben müssen – zum Beispiel um eingeschult werden zu können.
Denn Grundschulen in Sachsen erkennen die Heterogenität der Schulan-
fängerinnen und Schulanfänger an und nutzen sie gerade in der Schulein-
gangsphase als wichtigen Motor für die Bildung einer Klassengemeinschaft
(vgl. SMS 2006, Abschnitt 3.4 und 3.5). Ebenso wichtig ist es, den Übergang
von der Kindertagespflege in die Institution Kindertageseinrichtung zu
begleiten und zu unterstützen. Tagesmütter, Tagesväter, Erzieherinnen und
Erzieher sind in dieser Situation gefordert, auf die veränderte Betreuungs-
situation einzugehen, um den Kindern und den Eltern diesen Übergang zu
erleichtern (vgl. SMS 2006, Abschnitt 3.6).
Der pädagogischen Vielfalt, die sich in Sachsen nach der politischen
Wende 1989 entwickelt hat, soll Rechnung getragen werden. Der Bildungs-
plan richtet sich an pädagogische Fachkräfte, die gegenwärtig und zukünf-
tig mit bis zu zehnjährigen Kindern arbeiten. Er soll einen Gedanken- und
Meinungsaustausch über Bildungsinhalte und Bildungsprozesse in den
jeweiligen pädagogischen Konzepten anregen und begleiten und sich
ebenso in die aktuellen Entwicklungen im Rahmen der »Nationalen Quali-
tätsinitiative« einordnen bzw. mit den dort formulierten Zugängen passfä-
hig sein. Der durch das Bundesmodellprojekt »Zum Bildungsauftrag in Kin-
dertageseinrichtungen«, die sächsische Vereinbarung »Zur Kooperation
von Kindergarten und Grundschule« und die Empfehlung zur Kooperation
von Schule und Hort (vgl. SMK/SMS 2007) vielerorts in Sachsen angereg-
te Gedanken- und Meinungsaustausch um das Bildungsverständnis im
frühkindlichen Bereich soll aufgenommen werden, um Praktikerinnen und
Praktiker herauszufordern, Fragen zu stellen und eigene Überlegungen zu
formulieren. Es geht um einen fachlichen Diskurs im Team über Inhalte und
Auffassungen vom gelingenden Bildungsprozess, der den eigenständigen
Auftrag dieses Teilbereiches der Kinder- und Jugendhilfe verdeutlicht und
das pädagogische Handeln von Erzieherinnen, Erziehern, Tagesmüttern
und -vätern leitet. So kann die Tätigkeit pädagogischer Fachkräfte in der
Kindertagesbetreuung zu einer elementaren Bildungsarbeit werden.
Grundlagen
14
Kooperation an
Übergängen fördern
Austausch über
Bildungsinhalte und
-prozesse anregen
und begleiten
1.2
Ein neues Bild vom Kind
Neue Perspektiven auf kindliche Fähigkeiten und die kindliche Aneignung
von Welt verändern das Denken und Handeln gegenüber Kindern. Zugleich
ist deren Aufwachsen von massiven gesellschaftlichen Umbrüchen gekenn-
zeichnet. Jürgen Mansel zum Beispiel nimmt in seinem Buch »Glückliche
Kindheit – schwierige Zeit?« die veränderten Bedingungen des Aufwach-
sens und damit den Wandel der Kindheit in den Blick. Er fragt danach,
wie der gesellschaftliche Wandel die Lebenswelt von Kindern tangiert. Neu
entwickelte bzw. perfektionierte Technologien und ebenso die Veränderun-
gen in den Sozialbeziehungen infolge der Individualisierungsschübe, der
Auflösung tradierter Lebensstile und der Pluralisierung von Lebensverläu-
fen verlangen den Individuen Neuorientierungen und Anpassungsleistun-
gen ab, um sich in der ausdifferenzierten materiell-dinglichen Umwelt und in
komplexer werdenden sozialen Lebenszusammenhängen zurechtzufinden.
Individuen fügen sich jedoch nicht nur in gesellschaftliche Gegebenhei-
ten ein, sondern müssen befähigt werden, diese zu gestalten und zu ver-
ändern. Diese Perspektive nimmt in den Blick, dass die Lebensphase
Kindheit eine eigenständige Bedeutung hat. Es geht nicht in erster Linie
um den zukünftigen Erwachsenen als Arbeitskraft und als politisch bewuss-
ten und mündigen Bürger, der seine Kompetenzen nutzt und seine indivi-
duellen Interessen in einer demokratischen Gesellschaft verwirklicht. Es
interessiert vor allem das Kind im »Hier und Jetzt« mit seinen aktuellen
Bedürfnissen und Entwicklungserfordernissen (vgl. Honig/Leu/Nissen 1996,
S. 15f.).
Die Analyse der aktuellen Lebensbedingungen von Kindern fördert nicht
nur Erkenntnisse über Unterschiede in Bezug auf Geschlecht, Alter, sozia-
le, religiöse, ethnische und kulturelle Herkunft, sondern auch physische
und psychische Besonderheiten, Sozialisations- und biographische Erfah-
rungen. Unter dem Aspekt des Wandels von Lebensbedingungen als Bedin-
gungen des Aufwachsens besitzt sie auch Relevanz für die frühkindliche
Pädagogik. Erst vor diesem Hintergrund wird eine pädagogische Praxis
möglich, die die Lebenslagen von Kindern reflektiert, die über stützende
oder belastende Lebensbedingungen informiert ist und die eine »Politik
für Kinder« einfordert. Darüber hinaus macht die Einsicht in die Geschich-
te von Kindheit eine Diskussion um frühkindliches Lernen und um das
damit verbundene Bild vom Kind notwendig. Ein Blick in die Vergangen-
heit zeigt, dass das jeweils vorherrschende Bild vom Kind immer Auswir-
kungen auf pädagogische Konzepte hatte, die entweder dieses Bild mit
trugen oder sich – wie die Reformpädagogik um 1900 – einer anderen
Sicht auf das Kind verpflichtet fühlten. Durch die gegenwärtige Verände-
rung des Blicks auf Kinder rücken der Alltag und die Kultur von Kindern
und die Kindheit als gesellschaftliche Lebensform in den Mittelpunkt des
Interesses.
Kinder sind aktive und gestaltende Mitglieder von Gemeinschaften und
Staaten. In diesem Sinn wird in der UN-Kinderrechtskonvention erklärt,
dass auch Kinder das Recht haben, sich frei zusammenzuschließen und
ihre Meinung auszutauschen. In den Artikeln 12 bis 15 wurde die Berück-
sichtigung des Kinderwillens, die Meinungs- und Informationsfreiheit, die
Grundlagen
15
Glückliche Kindheit –
schwierige Zeit?
Analyse der aktuellen
Lebensbedingungen
von Kindern
UN-Kinderrechts-
konvention
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und die Vereinigungs- und
Versammlungsfreiheit verankert. Die Bundesrepublik Deutschland hat die-
se Kinderrechte mit der Unterzeichnung des »Übereinkommens über die
Rechte des Kindes« am 6. März 1992 akzeptiert. »Die Vertragsstaaten si-
chern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das
Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten
frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen
und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.« (Artikel 12)
Das einzelne Kind kann mit seinen Bedürfnissen und Rechten als »sozia-
ler Akteur« oder als »Akteur seiner Selbst« beschrieben werden. Diese For-
mulierungen meinen, dass jedes Kind die Rolle als »Hauptfigur seiner oder
ihrer eigenen Entwicklung« innehat und (Mit-)Produzent seiner Entwick-
lung ist (vgl. Honig/Lange/Leu 1999, S. 9). Nur das Kind selbst kann ler-
nen. Das heißt jedoch nicht, dass es ein isoliertes, auf sich selbst bezo-
genes Dasein des Individuums gibt, denn mit der Geburt wird das Kind in
eine Gemeinschaft hinein geboren, zu der der Andere genauso gehört wie
das eigene Selbst. Deshalb benötigt jedes Kind Gelegenheiten, mit allem,
was die Kultur und das Zusammenleben ausmacht, in Berührung zu kom-
men, um sich sein Bild von der Welt konstruieren und im Dialog mit ande-
ren abgleichen zu können (vgl. Piaget 2003). Jedes Kind ist ein Individu-
um, das eine ganz eigene Weltsicht hat und seine individuelle Identität
ausprägt, die mehr ist als die Zugehörigkeit zu einem Altersjahrgang, einer
Gruppe von Menschen mit besonderen Merkmalen wie Behinderung,
Geschlecht, Ethnizität usw. Jedes Kind ist einmalig und aus diesem Grund
besonders. Deshalb benötigt jedes Kind bestimmte, individuelle Unterstüt-
zungsleistungen zur Entfaltung seiner Potenziale im Miteinander. Das setzt
jedoch voraus, dass diese Potenziale erkannt, wertgeschätzt und nutzbar
gemacht werden.
Diese Sichtweise erfordert, Kinder ernst zu nehmen, ihrer Sicht und ihrer
Meinung zur kindlichen Lebenswelt Beachtung zu schenken. Für die Aus-
bildung kindlicher Identität sind dies notwendige Rahmenbedingungen.
Ich-Identität kann nur entstehen, wenn das Kind »allmähliche und wohl-
gelenkte Erfahrungen der autonomen und freien Wahl« machen kann,
wenn es Vertrauen erfährt und seinem Drang nachgehen kann, die Dinge
zu betasten, zu erforschen, spielend zu erproben und von ihnen Besitz zu
ergreifen, wobei es das Tempo und die Reihenfolge der Wiederholungen
selbst bestimmen darf (vgl. Erikson 1996, S. 81). In diesem Zusammen-
hang spielt auch die Entwicklung geschlechtlicher Identität der Kinder eine
große Rolle. Kinder entwickeln Vorstellungen von Weiblichkeiten und
Männlichkeiten und setzen sich aktiv damit auseinander, ein Mädchen
oder Junge zu sein. Die Ausprägung der Ich-Identität hängt von histori-
schen und soziokulturellen Bedingungen ab, die unterschiedliche Wahl-
möglichkeiten zulassen. In der Kindheit erhält das körperliche Selbst seine
kulturelle Bedeutung, die notwendig ist, damit in der Phase des jungen
Erwachsenseins die Vielzahl sozialer Rollen zugänglich wird und zu bewäl-
tigen ist. Kinder können ihre Identität nur entfalten, wenn sie nicht von
der Umwelt abgesondert werden; wenn sie nicht darauf verwiesen sind,
das Groß-Sein lediglich zu spielen und wenn sie Gelegenheit bekommen,
»ein kleiner Partner in einer großen Welt zu sein.« (Erikson 1999, S. 232)
Grundlagen
16
Das Kind als sozialer
Akteur
Potenziale erkennen,
wertschätzen und
nutzbar machen
Entfaltung der
kindlichen Identität
durch Interaktion mit
der Umwelt
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Mädchen und Jungen sozi-
ale Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen, die ihnen eine aktive
Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit ermöglichen und
zulassen.
Diese »kleinen Partner« nehmen die Welt, ihre eigene innere und äußere
Wirklichkeit auf individuelle Art und Weise wahr. Dies kommt am ehesten
in den unterschiedlichsten kindlichen Ausdrucksformen zum Vorschein: in
Mimik, Gestik und im eigenen kreativ-künstlerischen oder musischen
Schaffen. »Viele Erwachsene haben den Zugang zu diesen Innenformen
ihrer Erfahrung verloren. Durch verschiedene Einflüsse wie einseitige Ge-
wichtung eines naturalistischen Kunstverständnisses, Betonung von Ratio-
nalität und Ausklammern von Emotionen u.a. haben sie den Mut verloren,
sich so unmittelbar ihrem Inneren zu öffnen (...). Aus Kinderbildern kom-
men uns bildnerische Wirklichkeitsempfindungen entgegen, und vielleicht
ist es die Suche nach unserem eigenen Weltbild, welche die Begegnung
mit den Kindern zu einem immer wieder neu beeindruckenden Erlebnis
werden lässt.« (Meili-Schneebeli 2000, S. 18f.)
Die Auseinandersetzungen um geeignete Lernumgebungen für Kinder
beginnen mit dem Blick pädagogischer Fachkräfte auf das neue Bild vom
Kind und auf die kindliche Individualität: Was sind unsere Erwartungen an
kleine Kinder? Wie lernt und entwickelt sich das Kind? Woher kommt die
kindliche Identität? Was sind die Ziele, Bedürfnisse, Wünsche und Rechte
eines Kindes? Die Antworten auf diese Fragen sind – oft unbewusst –
Reflexionen unserer Werte, unserer Sehnsüchte für die nächste Genera-
tion, unserer Anschauungen über die kindliche Entwicklung und unserer
kulturellen Perspektive. Dieses Bild wird eine Linse, durch die man schaut,
mit der man ein Kind interpretiert und entscheidet, wie man als Er-
zieher/in oder Eltern reagiert (vgl. Nimmo 1998, S. 295f.). Eine Strategie
für die Wahrung gleicher Bildungschancen für alle Kinder in einer plurali-
stischen Gesellschaft wird sein, die Vorstellung von Kindheit dahingehend
zu erweitern, dass der daraus resultierende veränderte Blick auf Kinder
soziale Institutionen und die darin tätigen pädagogischen Fachkräfte in
ihrem Handeln leitet.
Grundlagen
17
Das neue Bild vom
Kind dient als Grund-
lage für die Suche
nach geeigneten
Lernumgebungen
1.3
Kindheit im Wandel
Kindertageseinrichtungen sind Lebensorte, an denen das individuelle Tä-
tigsein in soziale Bezüge eingebettet ist und in denen eine ganzheitliche
Aneignung von Welt ermöglicht werden soll. Alle Kinder sollen gleicherma-
ßen die Möglichkeit erhalten, von Beginn an ihr Leben gestalten zu kön-
nen und Erwachsene an ihrer Seite zu wissen, die sie als Mädchen und
Jungen auf ihrem Lebensweg begleiten.
Kinder setzen sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinander, die durch beste-
hende Geschlechterverhältnisse strukturiert ist und die – wenn auch oft
subtile und »unsichtbare« – Ausgrenzungen und Benachteiligungen von
Frauen und Männern, Mädchen und Jungen mit sich bringt. Kinder orien-
tieren sich an diesen ihnen vorgelebten Mustern von Frau- und Mann-Sein
und richten danach ihr jeweiliges Verständnis von Geschlecht aus (vgl.
Focks 2002, S. 20ff.). Pädagogische Fachkräfte in sächsischen Kindertages-
einrichtungen sind aufgefordert, durch eine geschlechtssensible pädagogi-
sche Arbeit alle Mädchen und Jungen in ihren individuellen Wesens- und
Interessenlagen wahrzunehmen, um Benachteiligungen entgegenzuwirken
und die Chancengleichheit zu fördern.
Als Teil der Kinder- und Jugendhilfe sind Kindertageseinrichtungen Bestand-
teile eines weit verzweigten Netzes von Unterstützungsmöglichkeiten, das
im Zusammenwirken mit Müttern, Vätern und anderen Sorgeberechtigten
Kindern so weit wie möglich gleiche Startchancen ermöglichen soll, indem
Benachteiligungen und Beeinträchtigungen rechtzeitig erkannt werden und
eine gezielte, an den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten ansetzen-
de Förderung eines jeden Kindes die Persönlichkeitsentwicklung unterstüt-
zen soll. Wenn jedes Kind in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen wird,
erhält es die Chance, akzeptiert und seinen individuellen Bedürfnissen
entsprechend unterstützt zu werden. Die Erwachsenen sind dafür verant-
wortlich, dass – frei nach Comenius – alle Kinder alles lernen können. Zur
kindlichen Welt gehören Kinder mit besonderen Bedürfnissen, mit unter-
schiedlichsten bereits erworbenen Kompetenzen und verschiedenen kultu-
rellen und religiösen Hintergründen. Verschiedenheit verweist auf Vielfalt
und ist ein Bildungspotential für alle Kinder.
Chancengerechtigkeit für alle Kinder zu gewährleisten, kann heute nicht
mehr bedeuten, von einer Gleichheit der Kinder auszugehen und sie mit
homogenen Angeboten zu konfrontieren. Die Veränderungen von gesell-
schaftlichen Rahmenbe dingungen des Aufwachsens haben zu einer Plura-
lisierung und Differenzierung der Lebenswelten geführt, wodurch das Aus-
maß an gemeinsam geteilten Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkei-
ten im Sozialisationsprozess verringert worden ist. Dies gilt sowohl für
Wert- und Normorientierungen als auch für die Gestaltung des Alltags und
für den Erwerb von Kompetenzen. Kindertageseinrichtungen sind für viele
Kinder die ersten öffentlichen Orte, an denen sie Kindern und Erwachse-
nen aus anderen sozialen Milieus, aus anderen Kulturen, mit anderen Lern-
voraussetzungen, mit anderem Geschlecht – und zum Teil sogar anderen
Kindern überhaupt – begegnen. Kindertageseinrichtungen werden mit der
bestehenden Heterogenität der Entwicklungsvoraussetzungen und Le-
bensorientierungen konfrontiert und müssen sich damit in einer sozial
Grundlagen
18
Verschiedenheit ist ein
Bildungspotenzial
Differenzierung der
Lebenswelten
produktiven, entwicklungsfördernden Weise auseinandersetzen. Erzieher/-
innen müssen an den vorhandenen Differenzen der Kinder ansetzen und
ihre Bildungsarbeit als Differenzbearbeitung begreifen.
In den Differenzen der Bildungsvoraussetzungen lassen sich drei verschie-
dene Dimensionen unterscheiden: eine soziokulturelle, eine strukturelle
und eine interaktive Dimension (vgl. Sting 2004). Die Lebenswelten der
Kinder unterscheiden sich in soziokultureller Hinsicht, was zum Beispiel
Fragen der alltäglichen Umgangsformen, der Lese- und Mediennutzungsge-
wohnheiten, der Religionsausübung und des Ernährungs- und Gesundheits-
verhaltens betrifft. Das jeweilige Milieu, der kulturelle Hintergrund, aber
auch Geschlecht oder sozialer Status beeinflussen die soziokulturelle Orien-
tierung. Die daraus resultierenden Unterschiede führen dazu, dass den Kin-
dern die Alltagsgestaltung in der Kindertageseinrichtung mehr oder weniger
vertraut ist. Die pädagogischen Fachkräfte müssen verschiedenartige Vorer-
fahrungen der Kinder so weit wie möglich in die alltägliche Arbeit einbezie-
hen, ohne sie auf einheitliche Verhaltensmodelle zu reduzieren.
Die Vielfalt kann durch wechselseitiges Voneinander-Lernen zu einer Er-
weiterung der je eigenen Handlungsmöglichkeiten führen. Dazu müssen
Kinder und Erwachsene als verschiedenartig wahrgenommen und erlebt
werden können. Zugleich gilt es, Gelegenheiten für eine bildungswirksa-
me Aneignung von gesellschaftlich notwendigen kulturellen Gütern und
Kompetenzen zu schaffen. Beispielsweise machen Kinder schon im Klein-
kindalter sehr unterschiedliche häusliche Erfahrungen im Umgang mit
Lesen und Schreiben sowie im Hinblick auf Vorlese-Situationen und Ge-
schichtenerzählen, die den Zugang zur Schriftkultur wesentlich beeinflussen
(vgl. Elias 2003). Diese verschiedenen häuslichen Lesekulturen müssen
mit den gesellschaftlichen Ansprüchen an Lesefähigkeit und Leseinteres-
se verknüpft werden. In ähnlicher Weise müssen zum Beispiel die unter-
schiedlichen Ernährungsgewohnheiten der Kinder und ihrer Familien wahr-
genommen und respektiert werden, aber zugleich Erfordernisse einer
gesunden Ernährung vermittelt werden.
In struktureller Hinsicht hängen die Bildungsvoraussetzungen der Kinder
von den Chancen zum Erwerb von sozialem Status und sozialer Anerken-
nung ab. Diese können sowohl durch soziale Benachteiligungen als auch
durch individuelle Beeinträchtigungen reduziert werden. In vielen Familien
machen Kinder Erfahrungen des Scheiterns, des Misserfolgs und der Unzu-
länglichkeit, die zukunftsbezogene Bestrebungen und das Engagement für
die Verbesserung der eigenen Lebenssituation wenig Erfolg versprechend
erscheinen lassen. Ebenso erleben sie Konflikte und Krisen (zum Beispiel
Trennungen oder Krankheiten), die zu psychischen und sozialen Belastun-
gen führen können und von jenen Kindern bewältigt werden müssen (vgl.
Böhnisch 1992). Schließlich müssen sich einige Kinder mit persönlichen
Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen auseinander setzen, die von ihrer
sozialen Umwelt in unterschiedlichem Maß respektiert werden.
Für Erzieherinnen und Erzieher ist es wichtig, die unterschiedlichen Le-
benssituationen der Kinder sensibel wahrzunehmen und gerade im Falle
von Belastungen und Beeinträchtigungen positive Bildungserfahrungen zu
Grundlagen
19
Bildungsarbeit ist
Differenzbearbeitung
Nicht allen Kindern
ist der Alltag in der
Kindertageseinrichtung
gleichermaßen vertraut
Voneinander-Lernen
erweitert die eigenen
Handlungsmöglich-
keiten
ermöglichen. Der Aufbau von Selbstbewusstsein, Selbstwert und Vertrau-
en in die Wirksamkeit der eigenen Bemühungen ist bei besonders belaste-
ten und beeinträchtigten Kindern fundamental, um die Motivation für Bil-
dungsaktivitäten und Selbstbildungsprozesse herzustellen und aufrechtzu-
erhalten. Schon kleine Erfolge und Leistungen müssen zu dem Zweck mit
Hilfe von Beobachtung wahrgenommen werden und eine entsprechende
Anerkennung und Wertschätzung erfahren. Gerade im Falle von häuslichen
und individuellen Belastungen müssen die vorhandenen Kompetenzen und
Ressourcen der Kinder betont und zum Ansatzpunkt der Bildungsarbeit wer-
den, um die Spirale von Abwertung und Demotivierung zu durchbrechen.
Im Hinblick auf die interaktive Dimension ist zu beachten, dass Bildungs-
prozesse in Interaktionsbeziehungen und Gruppenprozesse eingebettet
sind. Bildung ist zwar primär Selbstbildung der Kinder, doch ist Selbstbil-
dung kein isoliertes Geschehen. Gerade in Kindertageseinrichtungen fin-
den vielfältige Interaktionen zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Kin-
dern und Erzieher/innen sowie unter Kindern allgemein statt. Um Teilhabe
und Integration zu ermöglichen und ein positives Bildungsklima herzustel-
len, sollten diese wechselseitigen Beziehungen auf Vertrauen, Respekt und
Anerkennung basieren. Zur Förderung der kindlichen Partizipation ist es
oft notwendig, in Entscheidungsprozessen den Kindern mehr zuzutrauen,
als von ihnen erwartet wird, damit sie an ihren Aufgaben wachsen können.
Ebenso ist für Erzieher/innen eine Haltung des Vertrauens in die eigenen
Fähigkeiten wichtig, damit sie bereit sind, sich in dialogischen Bildungser-
fahrungen mit Neuem und Unbekanntem auseinanderzusetzen und den
Kindern Freiräume für Selbsterfahrungen und Mitwirkung zu ermöglichen.
Ein zentrales Feld für Bildungserfahrungen sind die Beziehungen der Kin-
der untereinander. Kindertageseinrichtungen sind für die meisten Kinder
der erste Ort der Gruppenerfahrungen mit Gleichaltrigen. Das Sich-Arran-
gieren mit gleichberechtigten Anderen, das Aushandeln von Gruppenre-
geln, Gruppenstatus und der Umgang mit Konflikten enthalten zentrale
soziale Lern- und Bildungsgelegenheiten, für die der erforderliche Freiraum
bereitgestellt werden muss. Gleichzeitig lernen sich die Kinder untereinan-
der als geschlechtliche Wesen kennen. Sie interagieren als Mädchen oder
Jungen und erwerben vielfältige geschlechtliche Erfahrungen, die sie in ihr
Selbstbild integrieren. Kindheit ist heute in einem hohen Maß »institutio-
nalisiert«. Kinder haben nur wenig Orte und Räume für eigenständige
Erfahrungen und nicht pädagogisch kontrollierte Aktivitäten. Auch Kinder-
tageseinrichtungen sind pädagogische Orte; doch ist es sinnvoll, das Be-
dürfnis der Kinder nach Selbsttätigkeit und freiem Spiel mit Gleichaltrigen
anzuerkennen und dafür ausreichend Anlässe bereitzustellen. Sobald
jedoch der Eindruck entsteht, dass Kinder mit ihrer Position in der Grup-
pe und durch Konflikte mit anderen Kindern überfordert sind, benötigen
sie von Seiten der Erzieher/innen Unterstützung. Die bestehende Vielfalt
von Lebenssituationen und Lebensorientierungen stellt schon Kindergrup-
pen vor die Anforderung, mit Differenzen umzugehen, Andersartigkeit
anzuerkennen und Abwertungs- und Ausgrenzungsbestrebungen zu ver-
meiden. In dieser Hinsicht bieten sich für Erzieherinnen und Erzieher zahl-
reiche Möglichkeiten, soziale Bildungsprozesse anzuregen und zu fördern
(vgl. Abschnitt 2.2).
Grundlagen
20
Wertschätzung, Selbst-
bewusstsein und
Bildungsmotivation
bedingen einander
Bildungserfahrungen
in Beziehungen der
Kinder untereinander
1.4
Bildung neu denken
Der diesem Bildungsplan zugrunde liegende Bildungsbegriff orientiert sich
am Gedanken der Selbstbildung. Bildung wird als ganzheitlicher, umfas-
sender Prozess aufgefasst, der auf die Gesamtentwicklung der Person in
ihren unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen
bezogen ist. Bildung ist demnach mehr als Lernen. Bildung beschreibt
Prozesse und fragt zugleich nach den Zielen, Inhalten und Ergebnissen
dieser Prozesse. Bildung ist einerseits auf die Entwicklungspotenziale und
selbst gesetzten Ziele der sich bildenden Kinder angewiesen. Sie ver-
knüpft diese andererseits mit gesellschaftlichen Anforderungen und Erwar-
tungen, die erfüllt werden sollen. Bildung kann nicht vermittelt werden,
sie ist Selbstbildung in sozialen Kontexten, in denen pädagogische Fach-
kräfte als Bezugspersonen und Begleiter/innen von Bildungsprozessen
eine wichtige Rolle einnehmen.
Sich selbst bilden braucht begünstigende Bedingungen und muss vielfäl-
tige Unterstützung erfahren (zum Beispiel durch anregende Lernumgebun-
gen und geeignete Lernarrangements, in denen Materialien frei zugänglich
sind und die Anderen als Interaktionspartner geschätzt werden). Lernen
muss einen persönlichen und damit biographischen Sinn ergeben und das
für alle: für Säuglinge und Kleinkinder bis hin zu Erwachsenen. Zudem
müssen in Bildungsprozessen »Handeln, Empfinden, Fühlen, Denken,
Werte, sozialer Austausch, subjektiver und objektiver Sinn miteinander in
Einklang gebracht werden (...).« (Schäfer 2003, S. 15) Selbst- und Weltbil-
der werden in Bildungsprozessen zu einem spannungsvollen Gesamtbild
verknüpft. Dabei geht es nicht um eine »richtige« oder »falsche« Beschrei-
bung von Phänomenen aus der die Kinder umgebenden Welt, sondern um
eine Beschreibung mit Begriffen aus ihrem eigenen Erfahrungshintergrund.
Diese Prozesse sind notwendig, da Kinder so animiert werden, neue Fra-
gen zu stellen und im Austausch mit anderen neue Erfahrungen und Sicht-
weisen zu erleben und auszubilden. Kinder lernen, ihr bisheriges Können
zu nutzen, es zu verändern und zu erweitern.
Die Ergebnisse der Hirnforschung haben die Erkenntnis hervorgebracht,
dass es keine isolierten Funktionen und Kompetenzen gibt. Wahrnehmen
und Fühlen, Denken, soziales Verhalten und Sprechen, Phantasie und Kre-
ativität sind komplexe Fähigkeiten, deren Förderung die Beachtung eben
dieser Komplexität zwingend voraussetzt. Sie sind vielfältig zusammenge-
setzt und diese Zusammensetzung kann sich ändern. Das heißt, die glei-
che Leistung kann auf unterschiedlichen Wegen entstehen. Diese komplex
zusammengesetzten Fähigkeiten eines Menschen sind jedoch nicht von
Geburt an vorhanden. Sie werden erst im Laufe der Entwicklung ausgebil-
det und nicht unwesentlich durch Anregungen aus dem Umfeld mitbe-
stimmt. Um Kompetenzen fördern zu können, bedarf es somit Situationen,
in denen Fähigkeiten und Können von Kindern unterschiedlich herausge-
fordert werden, damit sich vernetzte Denkstrukturen entwickeln können
(vgl. Singer 2003).
Das Bildungsverständnis, das diesem Leitfaden für pädagogische Fach-
kräfte zugrunde liegt, erkennt das kindliche Wissen und Können an und
Grundlagen
21
Bildung ist Selbst-
bildung in sozialen
Kontexten mit
vielfältiger Unter-
stützung
Lernen muss einen
persönlichen Sinn
ergeben
Die gleiche Leistung
kann auf unter-
schiedlichen Wegen
entstehen
misst ihnen einen hohen Stellenwert bei. Die Suche nach Erklärungen, bei
denen Kinder aus allem schöpfen können, was sie umgibt – einschließlich
ihrer eigenen Erfahrungen und subjektiven Modelle bilden dabei die
Grundlage. Wie Kinder Probleme lösen, hängt davon ab, welche Möglich-
keiten ihnen dabei zur Verfügung stehen. Diese ergeben sich zu einem gro-
ßen Teil aus den Erfahrungen, die sie in ihrem sozialen Umfeld und in
ihrem Alltag machen. Der Blick hat sich in diesem Zusammenhang weniger
auf vermeintliche Defizite oder Mängel zu richten als auf die Wertschät-
zung der Vielfalt individueller Lernwege von Kindern.
Und das gilt nicht nur für Kinder, die allein zu zweit, zu dritt oder zu viert
an einem Thema arbeiten, das sie gerade beschäftigt oder die gemeinsam
miteinander in anderer Form interagieren. Auch für das Team einer Kinder-
tageseinrichtung bedeutet dies, dass die individuellen Erfahrungen, die im
fachlichen Dialog miteinander verglichen werden – zum Beispiel wenn es
um die Beobachtung und Dokumentation von Bildungsgeschichten der
Kinder geht – anerkannt und wertgeschätzt werden. Jede/r hat ihre/seine
Perspektive auf ein Kind und im Vergleich dieser verschiedenen Beobach-
tungen kann man sich dem jeweiligen Mädchen oder Jungen in der
Gesamtheit ihrer Persönlichkeit nähern. Die Wahrnehmung der Stärken
eines Kindes legt die Basis, stellt jedoch zugleich nur einen Ausschnitt des
Blicks auf das Kind dar und birgt die Gefahr von Fehlinterpretationen in
sich. Es ist notwendig, das Mädchen oder den Jungen in der gesamten
Lebenslage zu sehen: in der Familie, im Wohnumfeld, in der Stellung in
der Geschwisterreihe oder zu den Großeltern, in einer Stadt oder auf dem
Land aufwachsend, sich in einem Land fremd fühlend – also in der Vielge-
staltigkeit des sozialen und kulturellen Umfeldes. Auch im Team ist es not-
wendig, die Stärken jeder/jedes Einzelnen zu entdecken und sie für die
Gestaltung des pädagogischen Alltags für alle zufrieden stellend nutzbar
zu machen.
Erzieher/innen, aber auch Mütter, Väter und andere Erwachsene sind mit-
verantwortlich dafür, welche Gelegenheiten jedes Kind hat, sich selbst zu
bilden und aktiv zu werden. Jeder einzelne Erwachsene ist wichtiger Teil
des Interaktionsprozesses, in dem die Selbstbildungsprozesse der Kinder
herausgefordert und unterstützt werden. Dies impliziert nach Laewen
(2002a) die Gestaltung der Umwelt der Kinder und die Gestaltung der
Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind. Die entscheidende Frage
bleibt jedoch, wie Kinder die Angebote der Erwachsenen aufgreifen und in
welchem Maß jedes einzelne Kind an Aushandlungsprozessen beteiligt ist.
Zur Gestaltung der Umwelt von Null- bis Sechsjährigen gehört u.a. die
Architektur der Kindertageseinrichtung und die Anlage des Freigeländes,
im engeren Sinne die Raumgestaltung und die materielle Ausstattung einer
Einrichtung, aber auch die Gestaltung von Zeitstrukturen und Situationen
zur Aneignung von Welt. Aufgabe der Erzieherin/des Erziehers wäre es aus
dieser Sicht, zum Beispiel knifflige Lernsituationen zu schaffen und Kinder
nach Lösungen suchen zu lassen, auch wenn sie/er die Antwort schon
kennt. Für diese Bildungsarbeit gilt es, im pädagogischen Alltag zeitliche
und finanzielle Ressourcen zu erschließen. Ebenso müssen Zeiten für die
Vor- und Nachbereitung, für den Austausch mit Fachberater/innen, aber
auch für die Dokumentation der Bildungs- und Lerngeschichten sowie für
Grundlagen
22
Kindertageseinrich-
tungen legen das
Fundament für
lebenslanges Lernen
Die Stärken jedes
einzelnen Menschen
wahrnehmen und
wertschätzen
Lernumgebungen
gestalten
Knifflige Lernsitua-
tionen schaffen;
zeitliche und
finanzielle Ressourcen
erschließen
die eigene Fort- und/oder Ausbildung zur Ermöglichung einer qualifizier-
ten Arbeit bereitgestellt werden.
Die Interaktion zwischen Erwachsenem und Kind, zwischen Kindern unter-
einander und zwischen Erzieher/innen und anderen Erwachsenen basiert
auf dem Respekt voreinander, auf dem Blickkontakt während der Interak-
tion, auf der Wahrnehmung des Umgangs der Kinder miteinander, auf
Humor und Freude sowie auf Gefühlen, Sprache und der Unterstützung
des Forschens und Entdeckens. Diese »dialogische Grundhaltung« findet
ihren Niederschlag nicht nur im Alltag einer Kindertageseinrichtung, son-
dern zum Beispiel auch in Entwicklungsgesprächen mit Müttern und
Vätern. Der fachliche Dialog im Team, mit anderen Expert/innen oder
Erwachsenen aus dem Umfeld einer Kindertageseinrichtung erfolgt eben-
so auf dieser Basis.
Erwachsene werden somit ihrer Verantwortung nicht enthoben, wenn Bil-
dung als Selbstbildung und aktive Selbsttätigkeit eines Kindes aufgefasst
wird. Im Gegenteil: Die Lebenswelt von Mädchen und Jungen und die
Erfahrungen, die sie darin machen, sind prägend für das jeweilige Selbst-
bild. In einer sensiblen Reaktion auf die veränderten Bedingungen des
Aufwachsens liegt die besondere Verantwortung von pädagogischen Fach-
kräften. Wie sich Erzieher/innen verhalten, hat Auswirkungen auf die Kin-
der, denn sie orientieren sich am Erwachsenen als »kompetenten Ande-
ren«. Das Handeln der Erwachsenen in der Interaktion mit Kindern ist
damit unmittelbar bildungswirksam, wobei die Frage, wie Kinder die vor-
gelebten Handlungsmuster annehmen und reproduzieren, nur individuell
beantwortet werden kann.
Die Selbsttätigkeit der Kinder ist also eingebettet in soziale Gruppen, in
gestaltete und gestaltbare Räume, in den Austausch mit anderen Men-
schen und in den fachlichen Dialog von pädagogischen und anderen Fach-
kräften.
Grundlagen
23
Interaktion basiert
auf gegenseitigem
Respekt voreinander
1.5
Spiel und Lernen zur Aneignung von Welt
Spiel im Alltag ist die Hauptaneignungstätigkeit der Kinder im Alter zwi-
schen null und sechs Jahren. Aber auch für ältere Kinder ist der spieleri-
sche Zugang zur Welt entscheidend für ihre Entwicklung, denn Spielen ist
Lebensbewältigung (Oerter 1993 und 2002) und Kultur hat ihren Ursprung
im Spiel (vgl. Huizinga 1994). Im Spiel inszenieren Kinder sich selbst, ihre
Erfahrungen, Potenziale, Stärken, aber auch Probleme, Schwächen und
Konflikte. Dabei erproben und formulieren Mädchen und Jungen auch ihre
Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit (vgl. Focks 2002). Erzie-
her/innen müssen deshalb wahrnehmen, was Kinder spielen und wie sie
spielen, um zu erkennen, was jedes Kind im Spiel lernt, und ihre Wahr-
nehmungen unter einem geschlechtssensiblen Blickwinkel reflektieren.
Das kindliche Spiel selbst kann unter dieser Perspektive als wichtiger und
eigenständiger Lernprozess gesehen werden, in welchen auch pädagogi-
sche Fachkräfte involviert sind. Sie werden zu aktiven Beobachter/innen,
die mit allen Sinnen das Spielgeschehen verfolgen. Sie leiten nicht an,
sondern nehmen teil und liefern gegebenenfalls Spielanstöße. Sie nehmen
die individuellen Prozesse und Themen der Kinder wahr, dokumentieren
und reflektieren diese. Durch Erwachsene inszenierte Beschäftigungsein-
heiten und Spielangebote verfehlen ihr Ziel, wenn Spiel und Lernen als
unabhängig voneinander in unterschiedlichen Situationen gedacht wer-
den, denn im Spiel erschließen sich Kinder die sie umgebende Welt und
lernen dabei.
»Spiel könnte ein Modell für alle Formen von sozialen und sachlichen
Beziehungen abgeben, in denen Räume der Freiheit im Verhältnis zwischen
Subjekt und Welt verwirklicht werden.« (Schäfer 1995, S. 175) Spiel ist
demnach für das Individuum als eigener Entwicklungs- und Lebensbereich
wichtig, der in seiner Wirkung auf die gesamte Persönlichkeit Beachtung
finden muss. Das Subjekt kann im wahrsten Sinne des Wortes »Spiel-
Räume« finden, wenn es sich mit den inneren und äußeren Einflüssen –
mit der Wirklichkeit – auseinandersetzt.
Spiel aktiviert und ist selbst Aktivität, Spiel regt dazu an, sich mit seiner
Umwelt (Natur und Kultur, anderen Menschen) auseinander zu setzen. Kre-
ativität und Phantasie scheinen das Fundament zu bilden, auf dem Indivi-
duen in der Lage sind, allein oder gemeinsam Probleme zu lösen und/oder
einfach nur Freude am Tun zu entwickeln. Kommunikations- und Aushand-
lungsprozesse sind Voraussetzung und Ergebnis von Spielphasen in Kin-
dertageseinrichtungen sowie in familiären Zusammenhängen; zum Teil
sind sie sogar das Spiel selbst. Spiel kann aus diesem Grund nicht auf
eine ergänzende, einübende oder Erholungsfunktion beschränkt werden.
Es hat einen ganz eigenen Stellenwert in den ersten Lebensjahren und
darüber hinaus. Spielen findet an Orten und in Situationen statt, in denen
Spielräume vorhanden, erreichbar und gestaltbar sind.
Eine Einengung der Spielphantasien wird nicht zuletzt vorgefertigtem
Spielzeug, der immer dichter werdenden Besiedelung, der Mediatisierung
von Kindheit oder dem Leistungsdruck angelastet. Dies trägt neben vielen
Grundlagen
24
Der spielerische
Zugang zur Welt ist
entscheidend für die
Entwicklung eines
jeden Menschen
Spielräume eröffnen
Kreativität, Phantasie
und Freude am Tun
Spielerisches
Erkunden neuer
Räume
anderen Faktoren mit dazu bei, dass Kinder häufig nicht mehr in der Lage
sind, aus Materialien wie Papier und Holz kreativ Neues entstehen zu las-
sen. Demgegenüber ermöglichen es Materialien, die eine vielfältige sinn-
liche Wahrnehmung zulassen (zum Beispiel Geruch, Struktur, Oberfläche
und Farbe von Holz), den Kindern, eigene Ideen an den Gegenstand he-
ranzutragen und diese spielerisch und ausprobierend umzusetzen.
Elektronisches Spielzeug ist in seinen Funktionen oft begrenzt, das heißt,
man kann es anschauen, hinter sich herziehen oder auf einen Knopf drü-
cken. Angesichts der Eingeschränktheit dieser Gegenstände können Kin-
der schnell das Interesse verlieren. Es sei denn, der Gegenstand geht ent-
zwei und kann auseinander genommen werden.
Die Balance zwischen gegenständlicher Anregung und aktiver Umgestal-
tung mit Kindern gemeinsam zu finden und dem Wechselverhältnis von
Spiel und Umweltgegebenheiten Rechnung zu tragen, erweist sich als He-
rausforderung für die pädagogische Praxis in Kindertageseinrichtungen.
Begründer der frühkindlichen Pädagogik wie Friedrich Fröbel, Rudolf Stei-
ner, Maria Montessori, Loris Malaguzzi oder andere in jüngster Zeit ent-
standene Konzepte haben sich intensiv mit dem Zusammenhang von Spiel
und Lernen und der daraus resultierenden erzieherischen Rolle beschäf-
tigt. Alle Autor/innen stellen die Bedeutung des kindlichen Spiels als wich-
tige Tätigkeit dar, bei der Kinder lernen und sich bilden.
Das kindliche Spiel ist ein Ausdrucksmittel, in dem alle Sinne angespro-
chen werden, die zur Selbst- und Fremdwahrnehmung dienen. Kinder
unterscheiden Spiel, Arbeit und Lernen nicht voneinander. Für sie hat alles
spielerischen Charakter und ist veränderbar. Daraus resultierende pädago-
gische Situationen haben einen hohen Stellenwert. Bleibt der spielerische
Charakter für Kinder und Erzieher/innen erhalten, sind sowohl angeleitete
als auch freie Spiele sinnvoll. Kinder und Erwachsene können daher viel
voneinander lernen, wenn sie gemeinsam in einer Atmosphäre der Aner-
kennung und emotionaler Zugewandtheit leben. Auf diese Weise können
Kinder vielfältige Unterstützung erfahren und lernen, sich zu äußern, Freu-
de zu erleben, mit Reaktionen auf ihr Verhalten umzugehen und sich in
ihrer Persönlichkeit zu entwickeln.
Es gilt, diese Lust zu erhalten, auch wenn das Kind spürt, dass das Ler-
nen mit Mühe und Anstrengung verbunden sein kann. Entscheidend ist
vor allem die Freude, welche gleichermaßen von Erwachsenen und Kin-
dern empfunden wird, wenn sie gemeinsam spielen, erfinden, miteinan-
der reden usw. (vgl. Göhlich 1992, S. 5). Spiel und Lernen bilden eine Ein-
heit und beides kann nicht als voneinander getrennt aufgefasst werden.
Lernen und Bildung im Sinne des Bildungsplans gehen in weiten Teilen
mit den Formulierungen im Sächsischen Schulgesetz (§5) und den Lehr-
plänen für die Grundschule konform: Einbeziehung von Elementen spiele-
rischen Lernens, Gestaltungsprinzip »entdeckendes und ganzheitliches
Lernen«, Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit, keine Einengung der
Spielphantasien durch schulische Leistungsorientierung, vielfältige Gestal-
tungsmöglichkeiten, fächerübergreifender Unterricht und Projektarbeit.
Mädchen und Jungen wollen zeigen, was sie können und wofür sie sich
interessieren, und dafür sollten sie auch Gelegenheiten bekommen. Päda-
gogen und Pädagoginnen in Kindertageseinrichtung und Grundschule
Grundlagen
25
Die Trennung nach
Spiel, Arbeit und
Lernen ist künstlich
Auseinandersetzung
mit der Welt auf viel-
fältige Art und Weise
anregen
Jedes Kind sollte sich
mindestens einmal
am Tag als Könner
erleben
kommt bei diesen Prozessen eine hohe Verantwortung zu, um allen Kin-
dern gleiche Entwicklungschancen zu eröffnen und sie an allen Entschei-
dungen, die ihr Leben betreffen, zu beteiligen. Dadurch wird eine kontinu-
ierliche, ganzheitliche und nachhaltige Förderung der Persönlichkeit eines
jeden Kindes möglich.
Wenn Erwachsene das Interesse der Kinder an ihrer Umwelt, an ihrer Fami-
lie und an anderen Menschen wecken bzw. erhalten können, dann wird
Lernen – auch für Erwachsene – zu einem persönlichen Prozess, der in
soziale Bezüge eingebettet ist und der sich in einer alltäglichen, dialogi-
schen Lernkultur vollzieht. Im Spiel werden keine Lerninhalte vermittelt,
sondern es wird sensibel zu beobachten sein, welche Interessen Kinder
haben und an welchen Themen sie gerade interessiert sind, um geeigne-
te Unterstützungsmöglichkeiten für ihren individuellen Lern- und Bildungs-
prozess zu finden.
»Ich glaube, dass wir am besten lernen, wenn wir, nicht andere, entschei-
den, was, wann, wie, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen wir zu
lernen versuchen sollten; wenn wir, nicht andere, letzten Endes die Leute,
die Materialien und Erfahrungen auswählen, von denen und mit denen wir
lernen; wenn wir, nicht andere, beurteilen, wie leicht oder schnell oder gut
wir lernen und wann wir genug gelernt haben; und vor allem wenn wir die
Ganzheit und Offenheit der uns umgebenden Welt und unsere eigene Frei-
heit, Kraft und Tauglichkeit in ihr spüren.« (Holt 1999, S. 84) Lernen ist
dementsprechend ein ganzheitlicher Prozess der Umweltaneignung, der
Verarbeitung von Sinneseindrücken und Erfahrungen und der Konstruktion
eines subjektiven Bildes von der Welt. »Denken bedeutet, dass neue
Erkenntnisse in vorhandene Strukturen eingearbeitet werden. Dieser Pro-
zess beginnt mit der Geburt und setzt sich ein Leben lang fort.« (Sommer
1999, S. 30)
Spiel und Lernen wurden in verschiedenen Epochen und pädagogischen
Strömungen sehr unterschiedlich aufgefasst (vgl. Flitner 1972). Die kind-
lichen Spielwelten wurden und werden durch sehr viele gesellschaftliche
Faktoren beeinflusst, die massiven Veränderungen unterworfen sind und
denen Kindertageseinrichtungen Rechnung tragen müssen, gerade wenn
es um die Auswahl von Spielmaterialien, von unterschiedlichen Spielfor-
men oder um die Gestaltung von Räumen geht. Darüber hinaus wird es
notwendig sein, einen fachlichen Dialog darüber zu führen, welchen Stel-
lenwert das Freispiel im Verhältnis zu anderen Aktivitäten (Projektarbeit
etc.) im Tageslauf hat.
Kinder sollten vielfältige Materialien und Räume vorfinden, die sie allein
oder gemeinsam mit Spielgefährt/innen erkunden und verändern können.
Wenn Kinder im Spiel sich selbst oder andere, ihr eigenes und auch das
andere Geschlecht inszenieren können, erwerben sie Fähigkeiten, um Ent-
scheidungen zu fällen, um selbstständig handeln und Verantwortung über-
nehmen und mit sich selbst und anderen auseinander setzen zu können.
Vor allem in selbstgewählten Spielsituationen kann partnerschaftliches
Miteinander – zu dem auch eine Streitkultur gehört – erprobt werden (vgl.
Abschnitt 2.2). Merkmale professionellen Handelns in Kindertageseinrich-
Grundlagen
26
Interesse wecken
und erhalten
Lernen als ganzheit-
licher Prozess der
Umweltaneignung
Vorhandene Lernum-
gebungen auf ihre
Bildungsanregungen
überprüfen
tungen sind vor diesem Hintergrund die Beobachtung und Dokumentation
der kindlichen Tätigkeiten, die Reflexion von Spielsituationen und ande-
ren Begebenheiten sowie der fachliche Dialog, um zu erfahren, welche
Entwicklungschancen sich für jedes Kind daraus eröffnen (vgl. Abschnitt
1.6 und 3.1).
Grundlagen
27
1.6
Professionelles Handeln im pädagogischen Alltag
Das erwachsene Verständnis für Kinder ist geprägt durch eigene Erfahrun-
gen und eigenes Wissen. Neue Perspektiven auf kindliche Fähigkeiten und
deren Aneignung von Welt verändern die Interaktion von Erwachsenen und
Kindern. Das bedingt, dass pädagogische Fachkräfte ihr Verhältnis zu den
ihnen anvertrauten Kindern ständig reflektieren und ihren Blick für die ver-
änderten Bedingungen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft schärfen
müssen. Dieses Umdenken ist Bestandteil der Diskussion um ein veränder-
tes Bildungsverständnis und eine andere Lernkultur über alle Generatio-
nen hinweg. Ein gemeinschaftliches Miteinander von Erwachsenen und
Kindern und das gemeinsame Lernen voneinander kennzeichnen den täg-
lichen Umgang in einer Kindertageseinrichtung. Die Umgebung, in der Kin-
der und Erwachsene lernen können, ist geprägt durch eine dialogische
Grundhaltung, in der ein kontinuierlicher Gedankenaustausch gepflegt
wird und Kinder, Kolleg/innen, Mütter und Väter mit ihren Bedürfnissen
und Fähigkeiten anerkannt und einbezogen werden.
Das setzt voraus, dass pädagogische Fachkräfte ihre Verantwortung für die
Ermöglichung der Teilhabe aller Kinder und für die Entwicklung demokra-
tischer Strukturen in Kindertageseinrichtungen erkennen. Teilhabe umfasst
zwei sich wechselseitig bedingende Aspekte: zum einen die Beteiligung an
der Ausgestaltung der Kindertageseinrichtung und zum anderen das Enga-
gement im politischen Raum. Pädagogische Fachkräfte sind zum Beispiel
dafür verantwortlich, wie mit ihren Konzepten und in ihrem Alltag die Mit-
sprache der Kolleg/innen, der Eltern, anderer Erwachsener und der Kinder
realisiert werden kann und wie offen diese Konzepte auch gegenüber Ver-
änderungen in der Gesellschaft sind.
Partizipation braucht Erwachsene,
•
die Kinder achten (Menschenbild),
•
die in der Lage sind, die konkreten Themen von Kindern zu erfassen
(Beobachtung und Analyse),
•
die in der Lage sind, die Anforderungen so zu gestalten, dass sie den
Lebenserfahrungen der Kinder entsprechen (Methodenkompetenz),
•
die bereit sind, Macht abzugeben (Reflexion),
•
die bereit sind, sich auf offene Situationen einzulassen (Mut und Ver-
trauen),
•
die geduldig mit sich und den Kindern sind (Geduld),
•
die Fehler als wertvoll schätzen (Fehlerfreundlichkeit) und
•
die jederzeit ihre Verantwortung behalten (Verantwortung)
(vgl. Knauer 2004).
Kinder wachsen innerhalb gesellschaftlich vorgegebener Bedingungen auf,
die weibliche und männliche Rollen- und Verhaltensentwürfe nach kultu-
rell zugewiesenen Regeln und Mustern formen und strukturieren. Nicht sel-
ten existieren traditionelle Auffassungen darüber, wie Mädchen und Jungen
sein sollten. Diese äußern sich u.a. auch in stigmatisierenden Begriffen wie
zum Beispiel »Heulsuse« oder »Zappelphilipp«. Damit sind bestimmte
geschlechtsspezifische Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf das
Verhalten von Kindern verbunden. So wird Mädchen sein eher mit Anpas-
sung, Ruhigsein, Geduld und Emotionalität etikettiert und Junge sein mit
Grundlagen
28
Fachlichen Dialog
über das veränderte
Bildungsverständnis
pflegen
Beteiligung in Kinder-
tageseinrichtungen
sichern
Kraft, Stärke, Lautsein, Aggression und Unruhe. Die unterschiedliche, ent-
lang von Geschlechterrollenklischees verlaufende Wahrnehmung von Mäd-
chen und Jungen beeinflusst geschlechtstypische Interaktionsabläufe zwi-
schen Erzieher/innen und Kindern. So werden eventuell Jungen, weil sie
zum Beispiel durch ihr lautes Spiel auffallen, größere Freiheiten und
Gestaltungsspielräume zugestanden oder sie erhalten mehr Zuwendung
(auch in Form von Schimpfen oder indem nonverbal für »Ruhe gesorgt«
wird!) als Mädchen, die unauffällig in der Puppenecke spielen oder in der
Bastelecke malen.
Ein geschlechtsbewusster pädagogischer Zugang beinhaltet, dass Mäd-
chen und Jungen Gelegenheit haben, sich jenseits von Rollenklischees
entwickeln zu können. Einer geschlechtsreflektierenden pädagogischen
Perspektive geht es dabei »weder um Rollentausch noch um vermeintli-
che Gleichmacherei von Mädchen und Jungen. Ziel ist, Mädchen und Jun-
gen eine Vielfalt von geschlechtlichen Ausdrucksmöglichkeiten anzubieten
und sie in ihrem Eigen-Sinn zu fördern, statt sie auf das zu reduzieren,
was gerade als typisch männlich und typisch weiblich gilt.« (Focks 2002,
S. 111) Eine geschlechterbewusste Pädagogik als professioneller Arbeits-
ansatz erfordert in diesem Zusammenhang von Erzieherinnen und Erzie-
hern den Willen und die Fähigkeit, sich mit der eigenen erzieherischen
Praxis und der eigenen geschlechtlichen Rolle auseinanderzusetzen. Das
wird möglich, indem zum Beispiel Erzieherinnen und Erzieher aufdecken,
mit welchen geschlechtsspezifischen Vorstellungen und Erwartungen sie
Kinder konfrontieren und inwieweit ihr Verhalten und Handeln die Bil-
dungs- und Lernkompetenzen von Kindern beeinflussen (vgl. Kasüschke
& Klees-Möller 2004).
Fühlen sich Kinder ebenso wie Eltern und Erzieher/innen ernst- und ange-
nommen, dann kann sich Wohlbefinden einstellen, das als Grundlage für
ein eigenverantwortliches und interessengeleitetes Lernen angesehen
wird, welches auf ein »inneres Ziel« des Kindes ausgerichtet ist. Dazu be-
darf es kleiner Gruppen und erwachsener Bezugspersonen, die verlässli-
che Bindungspersonen sein und als konstante Ansprechpartner/innen zur
Verfügung stehen müssen.
Erst die Wahrnehmung des individuellen Könnens eines Kindes, einer Kol-
legin bzw. eines Kollegen ermöglicht eine Wertschätzung der geleisteten
Arbeit, die wiederum zur Vervollkommnung von Begabungen und Talenten
anregt, ohne die Ausbildung anderer Fähigkeiten zu vernachlässigen. Um
die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Kindes wahrnehmen
und fördern zu können, bedarf es der Beobachtung, Dokumentation und
Reflexion von Lernprozessen bei Kindern. Bei der Arbeit mit Kindern in
einer Gruppe ist es sinnvoll, kleine Beobachtungseinheiten von ca. fünf-
bis zehnminütiger Dauer zu versuchen, sich Notizen zu machen und mit
den Worten und Aktionen der Kinder die Beobachtung zu beschreiben. Die
Notizen sollten so verfasst sein, dass sie verständlich und präzise formu-
liert sind, ohne die Beobachtungen gleich zu interpretieren. Die Diskussio-
nen der Beobachtungsnotizen im Team sind fester Bestandteil nicht nur
für die Planung und Reflexion der Arbeit, sondern genauso wichtig für die
professionelle Entwicklung der Erzieher/innen (vgl. Abschnitt 3.1).
Grundlagen
29
Geschlechtsbewusster
Umgang mit Kindern
Wohlbefinden in
Kindertageseinrich-
tungen sichern
Wahrnehmung
individueller Fähig-
keiten in Kindertages-
einrichtungen sichern
Der fachliche Austausch von Erzieherinnen und Erziehern untereinander ist
wichtiger Teil des Veränderungsprozesses in einer Kindertageseinrichtung.
Er setzt voraus, dass Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden und
dass Teambesprechungen innerhalb der Arbeitszeit möglich sind, in denen
nicht nur die Arbeit koordiniert wird, sondern auch zu unterschiedlichen
Themen gearbeitet werden kann. Das gemeinsame Treffen, Diskutieren und
Beraten, ohne sich Fehler oder Defizite vorzuhalten, ist Element professio-
nellen Handelns und schließt den Abgleich des eigenen pädagogischen
Konzepts mit den Inhalten des Bildungsplans ein. Die Reflexion der eige-
nen Vorstellungen von Kindern und die Sicht auf Kinder als Verantwortli-
che für ihre eigene Entwicklung, eröffnen den Blick auf die einmalige per-
sönliche, historische und kulturelle Identität eines jeden Kindes.
Erzieher/innen sind wie Kinder soziale Akteure und Mitproduzent/innen
ihrer eigenen Entwicklung – zum Beispiel im Hinblick auf ihr professionel-
les Handeln. Das setzt nicht nur unterstützende Rahmenbedingungen vor-
aus, sondern auch, den Kindern und Eltern zuzuhören und mit ihnen in
einen Dialog zu treten. Das betrifft ebenso das kollegiale Miteinander im
Team und die Beratung mit externen Professionellen, wobei insbesondere
Fachberater/innen die inhaltlichen Auseinandersetzungen moderieren, Frei-
räume in und außerhalb der Einrichtung entdecken und so die Entwicklung
eines Teams und damit einer Einrichtung unterstützen können. Die Koope-
ration mit externen Fachleuten muss koordiniert und transparent gehalten
werden und ist immer nur als Unterstützungsleistung gedacht, nie als
Ersatz des eigentlichen pädagogischen Handelns, denn die Gestaltung des
pädagogischen Alltags ist Sache von Erzieher/innen und Kindern unter Ein-
bezug anderer Erwachsener.
Ein veränderter Arbeitsstil und die veränderte Rolle der Erzieherin/des
Erziehers ist das Ergebnis eines langen Prozesses individueller und ge-
meinschaftlicher Studien und fachlicher Reflexion. Die professionelle Rolle
kann nur definiert werden im Verhältnis der pädagogischen Fachkräfte
zueinander und hängt zusammen mit dem Bild vom Kind als sozialem
Akteur – und konsequent gedacht auch mit dem Bild vom dem Lehrer/der
Lehrerin, von der Schule und der Familie. Es handelt sich nicht um ein ein-
heitliches Bild, sondern um variable und plurale Bilder. Schule hat sich
gewandelt und auch Familienformen sind einem Wandel unterworfen. Der
Wandel von Schule und Familie führt zur Notwendigkeit, sich mit der Tra-
dition des eigenen Berufes und den verschiedenen pädagogischen Kon-
zepten der frühkindlichen Erziehung und Bildung zu beschäftigen. Darüber
hinaus wird die professionelle Rolle der Erzieherin/des Erziehers von den
organisatorischen Bedingungen ihres Handlungsfeldes bestimmt. Um die
Qualität frühkindlicher Bildung in sächsischen Kindertageseinrichtungen zu
sichern, ist es notwendig, die administrativen, technischen, pädagogi-
schen, sozialen und politischen Bedingungen im System der Kindertages-
einrichtungen zu sichern und zu koordinieren. Dabei kommt dem Träger
einer Kindertageseinrichtung große Bedeutung zu.
Das alles zusammen bildet die notwendige Grundlage professioneller und
fachlich kompetenter Arbeit pädagogischer Fachkräfte. Sie tragen jeden
Tag dafür Sorge, dass Kinder nicht nur gut betreut, sondern auch ihren
Grundlagen
30
Fachlichen Dialog in
Kindertageseinrich-
tungen sichern
Erzieher/innen sind
Mitproduzent/innen
ihrer eigenen fachli-
chen Entwicklung
Ein veränderter
Arbeitsstil ist Ergebnis
eines langen Prozesses
Rahmenbedingungen
bestimmen die Qualität
frühkindlicher Bildung
mit
Respekt, Humor,
Vertrauen als Basis
des Miteinanders
Neigungen entsprechend gefördert werden, um ihre Identität ausbilden
und ihre Fähigkeiten entfalten zu können. Zusammenfassend kann die
Rolle der Erzieher/innen in den kindlichen Aneignungsprozessen von Welt
als partnerschaftlich, fördernd und begleitend beschrieben werden. In
einer Atmosphäre der Anerkennung und emotionalen Zugewandtheit
begegnen sich Kinder und Erwachsene mit Respekt und Humor. Das Ver-
trauen ineinander, das sich jedoch nicht von selbst ergibt, trägt maßgeb-
lich zum Gelingen von Interaktionsprozessen bei und bildet die Basis für
die kindliche Entwicklung in ihrer Ganzheit. Diese Entwicklung kann
jedoch nicht gefördert werden, indem einzelne Bildungsbereiche, wie sie
im nächsten Kapitel beschrieben sind, einfach abgearbeitet werden. Im
Gegenteil: Erzieher/innen sind aufgefordert, die vorhandenen Lernumge-
bungen daraufhin zu überprüfen, ob sie dem kindlichen Drang nach Welt-
aneignung in seiner Komplexität und den aktuellen Themen der Kinder
entsprechen. Dabei müssen sie Kinder wie Eltern gleichermaßen beteili-
gen. Entsprechen die vorhandenen Gegebenheiten den Ansprüchen nicht,
muss gemeinsam – auch mit Unterstützung des Trägers – nach Lösungen
gesucht werden (vgl. Kapitel 3).
Grundlagen
31
1.7
Professionelles Handeln im pädagogischen Alltag von
Kindertagespflegepersonen
All das, was im Kapitel »Grundlagen« beschrieben wird, trifft auch auf die
pädagogische Arbeit von Tagesmüttern und Tagesvätern zu. Allerdings gibt
es Besonderheiten in dieser Form der Kindertagesbetreuung, auf die im
Folgenden eingegangen wird.
Kindertagespflege ist eine familiennahe Form der Betreuung von Kindern,
vorrangig für Kinder bis zu drei Jahren, ganz gleich, ob die Kindertagespfle-
geperson die Kinder in ihrem Haushalt, in dem Haushalt der Familie des
Kindes oder in anderen kindgerechten Räumlichkeiten betreut. In Sachsen
dürfen in einer Kindertagespflegestelle maximal fünf Kinder im Alter bis zu
drei Jahren betreut werden. Mit dieser Form der Kinderbetreuung sind so-
mit andere pädagogische Rahmenbedingungen als in Kindertageseinrich-
tungen vorzufinden. Dies beginnt schon damit, dass Mütter und Väter in
der Regel die Kindertagespflegeperson auswählen, mit der sie sich über die
Art des Umgangs mit Kindern, über Betreuungszeiten, Essgewohnheiten,
Vorstellungen über das Sauberwerden und andere Fragen einigen können.
Auch ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindertagespflegeperso-
nen von der Möglichkeit täglicher Kommunikation beispielsweise über das
Befinden der Kinder beim Bringen und Abholen geprägt.
Eltern wissen an der Betreuungskonstellation Kindertagespflege zum Bei-
spiel die Familiennähe, die geringe Anzahl der betreuten Kinder und die
größere Flexibilität in den Betreuungszeiten, den engen Kontakt zu einer
Bezugsperson, das individuelle Eingehen auf die Kinder und auf ihre eige-
nen Befindlichkeiten zu schätzen (vgl. Keimeleder u. a. 2001, S. 11), ganz
gleich ob Kindertagespflege als alleinige Betreuungsform oder als ergän-
zende Betreuung zu Kinderkrippe oder Kindergarten genutzt wird. Die
Besonderheiten der Kindertagespflege zeigen sehr deutlich, dass an die
pädagogische Arbeit von Tagesmüttern und Tagesvätern hohe Anforderun-
gen gestellt werden:
•
Kindertagespflegepersonen haben eine Fortbildung nach dem DJI-Curri-
culum zu absolvieren und sind verpflichtet, sich regelmäßig weiterzubil-
den. Die Eignung der Kindertagespflegeperson und die Rahmenbedin-
gungen in der Kindertagespflegestelle werden vor Beginn und dann in
regelmäßigen Abständen vom örtlichen Träger der öffentlichen Jugend-
hilfe (Jugendamt) überprüft.
•
Der tägliche Umgang mit Kindern ist sowohl an der Bindungstheorie als
auch an der Forderung nach gewaltfreier Erziehung und der körperlichen
und seelischen Unversehrtheit von Kindern ausgerichtet. Dies erfordert
besondere Leistungen hinsichtlich der Dialogfähigkeit von Erwachsenen
(vgl. SMS 2006, Abschnitt 2.2.5).
•
Da eine gute Beziehung zwischen Kindertagespflegeperson und Kindern
im Mittelpunkt des täglichen Miteinanders steht, ist zu klären, auf wel-
che Art und Weise Tagesmütter und -väter diese Beziehung gestalten
möchten. Sie sollten täglich ihr Tun hinterfragen und reflektieren. Das
bedeutet Flexibilität und Anpassung an eine andere Bildungssituation
und an andere Bildungsbedingungen.
•
Eltern wie auch die Kindertagespflegepersonen selbst wollen ein familien-
nahes Umfeld. Mitunter bereitet jedoch die Konfliktbewältigung Probleme.
Grundlagen
32
Kinderbetreuung
zwischen zwei
Familiensystemen
Besonderheiten der
Kindertagespflege
Schutz davor kann die Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit
sowie eine zeitnah verfügbare Fachberatung bieten.
•
Kindertagespflegepersonen, die als Selbstständige familiennahe Betreu-
ung, Bildung und Erziehung anbieten, haben neben der Verantwortung
gegenüber dem Kind auch ein besonderes Maß an Eigenverantwortung
wahrzunehmen. Sie sind »Einzelkämpfer/innen« und benötigen deshalb
Vernetzungsmöglichkeiten, die auf ihre jeweiligen Bedürfnisse abge-
stimmt sind.
Kindertagespflege zeichnet sich durch kleine soziale Gruppen und eine
beständige Bezugsperson sowie einen intensiven Austausch aufgrund des
kontinuierlichen Dialogs aus. Das birgt jedoch auch Schwierigkeiten, die
durch das erweiterte Familiensystem und somit durch große Nähe von
Mutter, Vater und Kindertagespflegeperson begründet sind. Hier kann es
zu Konkurrenzsituationen (zum Beispiel zwischen Mutter und Tagesmutter)
kommen. Dieses Konfliktpotenzial kann insbesondere bei fehlender fach-
licher Beratung und Reflexion dazu führen, dass sich Spannungen entwi-
ckeln und zu Lasten des Kindes gehen.
Auch die Eingewöhnung der Kinder in die neue Umgebung (vgl. Laewen u.
a. 2003), mangelnde Verlässlichkeit seitens einiger Eltern, wenn sie bei-
spielsweise die »Öffnungszeiten« missbrauchen, oder andere Erziehungsvor-
stellungen der Mütter und Väter können das Verhältnis zu den Eltern und
mithin die Zusammenarbeit belasten (vgl. Deutsch-Heil/Malchow 1977, S.
87). Eine Kindertageseinrichtung ist bezüglich dieser Schwierigkeiten und
Problemkonstellationen ein neutraler Ort, an dem sich Mütter, Väter und Er-
zieherinnen und Erzieher begegnen. Hier definieren das pädagogische Kon-
zept der Einrichtung sowie die pädagogischen Fachkräfte die Art und Weise
der Arbeit.
Eine weitere Besonderheit, die durch Kindertagespflegepersonen oft als
Nachteil empfunden wird, ist die isolierte Tätigkeit von Tagesmüttern und
-vätern. In Institutionen muss die Arbeit im Team besprochen werden,
während es für sie innerhalb der Betreuungszeiten kaum Austauschmög-
lichkeiten mit anderen Tagesmüttern oder -vätern gibt. In der Kindertages-
pflege bedarf es deshalb – genauso wie in einer Kindertageseinrichtung –
fachlicher Unterstützung, die auf mehreren Ebenen angesiedelt ist: bei der
Erstellung des pädagogischen Konzepts, durch wirksame Fachberatungs-
angebote, durch fachlich begleiteten Erfahrungsaustausch zwischen Kin-
dertagespflegepersonen sowie in Form von Fortbildungsangeboten durch
verschiedene Träger (vgl. SMS 2006, Abschnitt 3.6; Sächsisches Landes-
amt für Familie und Soziales, 2003).
Die einzelnen Entwicklungsschritte der Kinder – und sind sie noch so klein
– dürfen nicht unterschätzt werden. In der Regel werden sie aus der Sicht
von Erwachsenen betrachtet, ohne dass sie sich des Ausmaßes für das
einzelne Kind bewusst sind (vgl. Kasten 2005). Jedes Kind absolviert von
Geburt an ein umfangreiches Lernpensum. Es lernt zu trinken, sich zu
recht zu finden, zu sprechen, zu gehen, zu laufen (vgl. Gopnik u. a. 2005).
Hier wird eine intakte, fruchtbare Beziehung zwischen der Kindertages-
pflegeperson und den Kindern wichtig, in der sich die Mädchen und Jun-
gen sicher und geborgen fühlen, um die besonderen Herausforderungen
Grundlagen
33
Probleme erkennen
und gemeinsam
bearbeiten
Beobachten und
Dokumentieren
bewältigen zu können. Gelingt es der Kindertagespflegeperson mit Kreati-
vität und Intuition eine gleichberechtigte und authentische Beziehung,
einen »emotionalen Dialog« (vgl. Grossmann 1999), mit Kindern aufzubau-
en, werden sie in die Lage versetzt, später die Verantwortung für ihre Bil-
dungsprozesse auch tatsächlich übernehmen zu können.
Wenn es dann der Kindertagespflegeperson oder einer anderen vertrau-
ten Person möglich ist, diese komplexen und überaus störanfälligen Pro-
zesse festzuhalten (zum Beispiel durch Fotos, Beobachtungsprotokolle
und Videoaufnahmen), können diese Dokumente bei einer Zusammenar-
beit mit den Eltern und einer Fachberatungsstelle hilfreich sein. In der Re-
gel wird die Kindertagespflegeperson eigene Beobachtungen und gegebe-
nenfalls dazu angefertigte Notizen, Zeichnungen oder andere kindliche
Ausdrucksformen als Grundlage für die meist täglichen individuellen El-
terngespräche nutzen (vgl. Jacobs 2006).
Bereits das Tagesmütter-Modell der 70er Jahre in den alten Bundesländern
hat seinerzeit wesentliche Motive für die Aufnahme einer Tätigkeit als Kin-
dertagespflegeperson formuliert:
•
Liebe zu Kindern,
•
sich mit Erziehungsfragen auseinander setzen,
•
anderen Eltern helfen,
•
unbefriedigende Situation vieler »Nur«-Hausfrauen, die sich mit (nur)
einem Kind nicht ausgelastet fühlen,
•
Erweiterung des Aufgabenbereiches in der eigenen Wohnung und zu-
sätzliche Geldeinnahme
•
oder das Ausüben des erlernten Berufs war nicht mehr möglich oder
nicht gewollt (vgl. Deutsch-Heil/Malchow 1977, S. 70).
Inzwischen sind angesichts der neuen Betreuungs- und Bildungsanforderun-
gen, der neuen Erkenntnisse über die Entwicklung von Mädchen und Jungen
sowie über eine qualitativ hochwertige Kindertagespflegestelle neue Motive
hinzugekommen. Die oben genannten ersten drei sind Grundlage für eine
den Kindern und Eltern zugewandte Haltung. Dies ist jedoch nicht ausrei-
chend. Tagesmütter und -väter sollen mit den Kindern, die sie betreuen »gut
im Dialog sein«. Sie sollen erkennen, dass Kinder – unabhängig von Alter,
Geschlecht oder Herkunft – Forscher und Forscherinnen und Erwachsene
»lediglich« ihre Assistenten sind, die
•
keine vorschnellen Lösungen bieten, sondern unterstützend eingreifen,
wenn das Kind um Hilfe bittet,
•
sich das Staunen über die kindlichen Erfindungen und den Eigen-Sinn
der Kinder bewahren und sich davon zu neuen Ideen inspirieren lassen,
•
die Entwicklungsfortschritte eines Kindes wahrnehmen, individuelle Ent-
wicklungsmöglichkeiten erkennen und das kindliche Entwicklungspro-
gramm unterstützen und
•
in ihrem täglichen Handeln vom »kompetenten Kind« ausgehen und für
jedes einzelne der ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen eine siche-
re Umgebung schaffen, damit jedes in Ruhe forschen und mit anderen
interagieren kann.
Ausgehend vom neuen Bildungsverständnis (s. Grundlagen des Sächsischen
Bildungsplans) müssen Bildungsangebote auf die aktuellen Bedürfnisse und
Grundlagen
34
Forscher/innen und
Forschungsassistent/
-innen begegnen sich
Interessen von Mädchen und Jungen eingehen und sie herausfordern. Dann
wirkt sich pädagogisches Handeln aktivierend und fördernd auf die kindliche
Aneignung von Welt aus (vgl. Weiß u. a. 2002, Abschnitt 24, S. 8).
Mädchen und Jungen benötigen für ihre Aktivitäten anregende Umwelten,
authentische Lebenswelten und vielseitige Erfahrungsräume. Im ganz nor-
malen Ablauf der Kindertagespflege ergeben sich daraus eine Fülle inte-
ressanter Ereignisse und Begegnungen, das heißt Bildungsthemen: zum
Beispiel das gemeinsame Einkaufen oder ein Gespräch mit Nachbarn,
Essen zubereiten, Tiere füttern oder im Garten tätig sein, Aufwaschen,
Wäsche waschen und aufhängen, die Fahrt mit der S-Bahn oder dem Bus,
der Spaziergang im Wald. »Für Kinder sind bei all diesen Gelegenheiten
»Welten« zu entdecken. Die Kindertagespflegeperson unterstützt die Kin-
der dabei am besten, indem sie für all diese Tätigkeiten ausreichend viel
Zeit einplant, die Kinder beteiligt, ihr Tun geduldig und interessiert beglei-
tet, ihnen zuhört und mit ihnen über die gemeinsamen Erlebnisse
spricht.« (Weiß u. a. 2002, Abschnitt 24, S. 7).
Die Liste der in einem Haushalt zu erledigenden Dinge, vorhandenen
Materialien und zu entdeckenden Lebensbereiche ließe sich beliebig ver-
längern: beim Spaziergang Symbole und Zeichen entdecken, mit dem
Hund um die Wette rennen, Klammern, Wäschekorb, Küchenutensilien
ausprobieren o. ä. Eine anregungsreiche Umgebung ist allein durch das,
was im Haushalt der Tagespflegeperson vorhanden ist, reichlich gegeben:
Bad, Küche, Wohnzimmer, Flur, Treppenhaus, aber auch im Außengelände
finden sich genügend Bereiche, die zum gemeinsamen Entdecken, Erkun-
den und sich Erproben einladen.
Kinder sind beim Spielen selten auf Hilfe angewiesen, das bedeutet für
eine Tagesmutter bzw. einen Tagesvater, dass sie/er sich (unter Berücksich-
tigung der Aufsichtspflicht) mehr Zeit für die Pflege des einzelnen Kindes
nehmen kann. »Sie lebt nicht in ständiger Spannung und Eile. Gelegent-
lich, wenn das Kind Hilfe braucht, hat sie eher Zeit, ihm zu helfen und es
zu beruhigen. Als Folge dessen entsteht zwischen ihr und ihren Pfleglingen
eine bessere Beziehung, die Kinder sind fröhlicher, aktiver und haben Lust,
sich auf ihren adäquaten Spielplätzen zu bewegen.« (Pikler 2001, S. 68f.).
Das Spiel hat nicht nur in der Altersphase bis zu drei Jahren einen hohen
Stellenwert. Die Frage, was wird gespielt und womit, findet ihre Beantwor-
tung in der räumlichen Ausgestaltung, der materiellen Ausstattung und
den Interessen der Mädchen und Jungen in einer Kindertagespflegestelle.
Darauf soll in den einzelnen Bildungsbereichen näher eingegangen wer-
den (vgl. SMS 2006, Kapitel 2, Abschnitt 1.5).
Alles das, was Armin Krenz in seinem Buch »Was Kinder brauchen« über die
aktive Entwicklungsbegleitung im Kindergarten geschrieben hat, trifft gene-
rell auf die unterschiedlichsten Formen der Kinderbetreuung zu. Sie sollen
Orte der Wertschätzung, des Vertrauens, der ungeteilten Zeit, der Akzeptanz,
der angstfreien Entwicklung, der Lebendigkeit und Entspannung, des Erle-
bens und lebensnaher Wirklichkeit, der erfahrbaren Demokratie und Emo-
tionen, der Freude und Orientierung, persönlichkeitsnaher und herzlicher
Grundlagen
35
Anregende Umwelten
im Alltag nutzen
Spielend das Tor
zur Welt öffnen
Kindliche Entwick-
lungen professionell
begleiten
Beziehungen, der Fragen und Experimente sein und Orte, an denen kind-
eigene Sexualität bejaht wird. Fachkräfte, die an diesen besonderen Entwick-
lungsorten arbeiten, sollten sich dessen bewusst sein (vgl. Krenz 2005).
Grundlagen
36
2. Bildungsbereiche
Die sechs Bildungsbereiche im Bildungsplan sind nach folgender Struktur
gegliedert:
1. Fachliche Einführung
2. Leitbegriff
3.Inhalte des Bereichs
4. Anregungen zum Weiterdenken
5. Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen in
der Kindertagespflege
6.Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen im
Hort
Nach jedem Leitbegriff bzw. nach jedem Inhalt des Bereichs folgen Be-
obachtungs- und Analysefragen. Die angeführten Fragen bilden keine ab-
geschlossenen Fragenkomplexe, sondern geben durch ihre Systematik
zentrale Fragerichtungen an, die bei der Planung der Bildungsarbeit
berück-sichtigt werden sollten und die durch eigene Fragen erweitert wer-
den können. Die Fragen haben daher einen exemplarischen Charakter und
beziehen sich jeweils auf folgende Aspekte: pädagogisches Handeln, Rah-
menbedingungen, Kinder und Eltern. Die Fragen zum Kästchen »Kinder«
sind nochmals in zwei Fragerichtungen unterteilt: in eine Frage, die an
Erzieher und Erzieherinnen zur Reflexion ihrer Arbeit gerichtet ist, und in
eine Frage, die direkt an das Kind gestellt ist. Nach den Anregungen im
vierten Punkt ist für die selbstständige Ergänzung der Fragen, für eigene
Ideen, Anmerkungen oder Literaturhinweise Raum.
39
2. Bildungsbereiche
Die fachliche Einführung, der Leitbegriff und die danach beschriebenen
Inhalte der jeweiligen Bildungsbereiche sind auch für die Bildungsarbeit
mit Mädchen und Jungen in der Kindertagespflege und dem Hort grundle-
gend. Die ergänzenden Inhalte für diese beiden Institutionen setzen Ak-
zente und sollen dazu dienen, Sie bei der Analyse Ihrer bisherigen Bil-
dungsarbeit zu inspirieren.
Wenn Sie beginnen, sich mit einem Bereich näher zu befassen, dann
scheuen Sie sich nicht, mit Kolleginnen und Kollegen, Tagesmüttern und
-vätern bzw. im Team über Ihre Eindrücke, Fragen und Anmerkungen zu
sprechen, diese schriftlich festzuhalten und gemeinsam in einen Dialog zu
treten. Diese Vorgehensweise trägt zum besseren Verständnis der Texte bei
und unterstützt Ihr professionelles Handeln.
2. Bildungsbereiche
40
2.1 Somatische Bildung
2.1.1 Fachliche Einführung
Dieser Bildungsbereich umfasst Bildungsaspekte, die den Körper, die Be-
wegung und die Gesundheit betreffen. Auch wenn es bisher keine einge-
führte Bezeichnung gibt, die diese Aspekte zusammenfasst, so sind sie im
pädagogischen Alltag doch nicht losgelöst voneinander zu betrachten.
Der Begriff »somatisch« leitet sich vom griechischen »soma« (Körper,
Leib) ab und umfasst in der klassischen Definition jene Dinge, die zum
Körper gehören. Unter »somatischer Kultur« wird die körperbezogene Ge-
staltung unseres Alltagslebens verstanden: Körperpflege, Hygiene, Körper-
haltung, Bewegung, Kleidung, Ernährung, Sexualität und Gesundheit sind
Bestandteile der somatischen Kultur. Die somatische Bildung nimmt dem-
entsprechend den Körper ins Blickfeld. Zugleich ist sie – wie die körperli-
chen Erfahrungen selbst – mit psychischen und emotionalen Prozessen
verschränkt und von sozial hervorgebrachten Traditionen, Moden, Ge-
wohnheiten und Lebensstilen in Bezug auf den Körper geprägt.
Der Bereich der somatischen Bildung steht am Anfang, da in den ersten
Lebensjahren die körperliche Pflege und Versorgung einen großen Teil der
Arbeit mit Kindern ausmachen. Dass die Kinder »gesund, satt und sau-
ber« sind, ist eine grundlegende Anforderung an die Kinderbetreuung, die
aller Bildungsarbeit voraus geht. Und erst die Befriedigung der elementa-
ren Grundbedürfnisse ermöglicht es Kindern, sich für neue Erfahrungen
und bildungswirksame Aktivitäten zu öffnen. Somatische Bildung meint
allerdings mehr als die körperliche Grundversorgung: Es geht darum, wie
43
Der Körper als
Medium von Welt-
und Selbsterfahrung
2.1 Somatische Bildung
der Körper zum Medium von Welt- und Selbsterfahrung gemacht und wie
die somatische Kultur im Sinne einer gesundheitsfördernden Lebensweise
gestaltet werden kann.
Die Förderung von Gesundheit orientiert sich am umfassenden Gesund-
heitsverständnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nach dem Ge-
sundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen ist, son-
dern ein »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
Wohlbefindens«. Die Herstellung und Erhaltung von Gesundheit wird zu
einer eigenständigen, positiven Bildungsaufgabe, die vom Körper ausgeht,
jedoch auch psychische und soziale Aspekte umfasst. Der Umgang mit
Gefühlen, Befindlichkeiten und Konflikten, die Erfahrungen des Angenom-
menseins, des Rückhalts in vertrauensvollen Beziehungen und der sozia-
len Anerkennung sind wichtige Einflussfaktoren von Gesundheit. Gesund-
heit entspringt der Balance von gesundheitsgefährdenden Faktoren und
Schutzfaktoren. Neben der Minimierung von Gefahren und Risiken gilt es,
die Herausbildung von Stärken, Kompetenzen und gesundheitlichen Res-
sourcen zu befördern, für die bereits im Alter von null bis sechs Jahren
wichtige Grundsteine gelegt werden können.
2.1.2 Leitbegriff Wohlbefinden
Als Leitorientierung für den Bereich der somatischen Bildung dient der
Begriff des Wohlbefindens. Diese Leitorientierung sensibilisiert Jungen und
Mädchen dafür, was ihnen gut tut und was nicht, und er sensibilisiert
Erzieher/innen für die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Kinder sowie
für ihre eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten. Wohlbefinden ist für
Kinder und pädagogische Fachkräfte eine Grundbedingung dafür, dass Bil-
dungsarbeit Spaß macht und erfolgreich sein kann. Die Orientierung am
Wohlbefinden schließt die subjektive Sicht der Beteiligten auf ihren eige-
nen Bildungsprozess und den ihres Gegenübers ein. Sie ermöglicht eine
Pädagogik »vom Kinde aus«, die das Kind in seiner Individualität und Ein-
zigartigkeit wahrnimmt und wertschätzt. Wohlbefinden wird dabei im um-
fassenden Sinn des WHO-Konzepts zur Gesundheitsförderung verstanden:
als Wohlfühlen im eigenen Körper, als psychisches Wohlbefinden im Hin-
blick auf die Anforderungen, die die Umwelt an das Kind stellt, und als
soziales Wohlergehen in sozialen Beziehungen und in Bezug auf die
Lebenslage des Kindes. Ein Kind, das heftige Konflikte zwischen den Eltern
erlebt hat, das an einer Magenverstimmung leidet oder das infolge des
Ablebens seines Haustiers traurig ist, wird wenig offen sein für neue Bil-
dungserfahrungen.
Die Bearbeitung dieser »kleinen« Leiden ist ebenso eine Voraussetzung
gelingender Bildungsarbeit wie die Förderung einer positiven Lebenshal-
tung, die der Gesundheitsforscher Antonovsky zur Voraussetzung der
»Salutogenese«, der Erhaltung und Förderung von Gesundheit, erklärt hat.
Er beschreibt diese Lebenshaltung als Kohärenzgefühl: als Vertrauen in
sich und die Welt, als Gefühl der Übereinstimmung zwischen Anforde-
rungen und Bewältigungsmöglichkeiten und als Gefühl der Sinnhaftigkeit
des eigenen Engagements in der Welt (vgl. Antonovsky 1997). Das Kohä-
Somatische Bildung
44
Gesundheit umfasst
körperliche, psychische
und soziale Aspekte
Wohlbefinden als
Grundbedingung
erfolgreicher
Bildungsarbeit
Kohärenzgefühl als
Vertrauen in sich
und die Welt
renzgefühl kann wiederum nur im Rahmen von Lebensbedingungen und
Lebenssituationen entstehen, die kohärente Lebenserfahrungen und
Erfahrungen des Wohlbefindens ermöglichen. Die Orientierung am Wohl-
befinden erfordert deshalb eine das einzelne Kind und dessen Handeln
überschreitende Sichtweise. Die sozial-ökonomischen Voraussetzungen
und die Ge staltung der sozialen und ökologischen Umwelt müssen die
individuums- und bildungsbezogenen Aspekte der Gesundheitsförderung
ergänzen.
Wohlbefinden zum Leitkriterium zu nehmen heißt nicht, dass Mädchen,
Jungen und Erzieher/innen sich zu jeder Zeit vollständig wohlfühlen sol-
len. Jeder Mensch bewegt sich auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit
und Krankheit, das körperliche Beschwerden, Behinderungen, Verstim-
mungen oder soziale Probleme einschließen kann. Die Orientierung am
Wohlbefinden führt gerade zur Berücksichtigung dieser Beeinträchtigun-
gen als Voraussetzungen und Einflussfaktoren für die Bildungsarbeit.
Wohlbefinden stellt eine relative Größe dar, die von der jeweiligen indivi-
duellen Situation abhängt. Es gibt eine Richtung vor, nach der zum Bei-
spiel auch ein Kind mit einer chronischen Erkrankung oder einer Behinde-
rung ein möglichst weitgehendes Wohlbefinden erreichen soll. Es bedeu-
tet sich mit Freude an gemeinsamen Aktivitäten beteiligen zu können, sie
als sinnvoll anzuerkennen und für Bildungserfahrungen motiviert zu sein.
Angebote müssen zu dem Zweck an die individuellen Ansprüche in Abhän-
gigkeit vom Alter, den Fähigkeiten und dem Entwicklungsniveau des Kin-
des angepasst werden, wobei weder die spezifischen Lebensbedingungen
noch der gesellschaftliche Kontext außer Acht gelassen werden können.
Grundannahme dabei ist eine ganzheitliche Orientierung der Entwick-
lungsförderung. Psychische und physische Bereiche verschmelzen mitei-
nander. Jede körperliche Verän derung beeinflusst auch die Persönlichkeits-
entwicklung von Jungen und Mädchen. Körper-, Bewegungs- und Wahr-
nehmungserfahrungen repräsentieren daher auch immer die Selbsterfah-
rung des Kindes (vgl. BZgA 2002a).
Die Orientierung am Wohlbefinden enthält schließlich auch spezifische
gesundheitsfördernde Aufgaben in der Bildungsarbeit mit Kindern. Deren
Ziel ist es, Kinder für ihren eigenen Körper und dessen Bedürfnisse zu
sensibilisieren und sie dazu zu ermuntern, sich aktiv und selbstverant-
wortlich zu beteiligen, um sich wohlzufühlen. Dazu gehört neben der
Unterstützung der Kinder die Vermittlung gesundheitsbezogenen Wissens
und die Vorbildfunktion gesundheitsfördernden Verhaltens Erwachsener.
•
Wie wird mit Beeinträchtigungen von Kindern und Kollegen/innen um-
gegangen?
•
In welcher Weise kann die Umgestaltung der Räumlichkeiten zur Steige-
rung des Wohlbefindens beitragen?
•
Durch welche Maßnahmen kann die Zufriedenheit mit der Arbeit in der
Einrichtung verbessert werden?
•
Welche Stimmung ist bei dem jeweiligen Kind zu beobachten?
•
Was tut dir besonders gut, was machst du am liebsten?
Somatische Bildung
45
Wohlbefinden schließt
Beeinträchtigungen
ein
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Kinder
•
Sind gegenwärtig besondere Belastungen im Familienleben zu erkennen?
2.1.3 Inhalte des Bereichs
Körper
Für Kinder ist der Zugang zur Welt weit weniger durch bewusstes Denken
bestimmt, als vielmehr durch ihren Körper, ihre Sinne und ihre Empfindun-
gen (vgl. Schuhrke 1991). Der Umgang mit dem eigenen Körper, ihn zu ver-
stehen und zu nutzen, ist für Heranwachsende einer der wichtigsten Bau-
steine der Entwicklung. Bereits als Säugling erkunden Kinder mit den eige-
nen Händen, Füßen und dem Mund ihre Umwelt. Vor allem durch ihre tak-
tilen Sinne – Tast-, Schmerz-, Temperaturempfinden etc. – werden kogniti-
ve Verarbeitungs- und Entwicklungsprozesse angeregt. Sie sind wichtige
Informationsquellen und übermitteln Reize aus der Umgebung. Der Körper
ist sozusagen die »Meldestelle« eines Kindes. Ebenso sind Identitäts-
bildung und die Entwicklung eines Selbstbildes ohne eine Vorstellung vom
eigenen Körper nicht möglich. Jeder Einfluss aus der Umwelt bewirkt daher
auch eine Verände rung des Selbstkonzeptes. Die Herstellung von Situatio-
nen, in denen schon im frühkindlichen Alter die Wahrnehmung des eige-
nen Körpers und der Umwelt mit allen Sinnen gefördert wird, stellt damit
ein grundlegendes Element der pädagogischen Arbeit dar. Die Anregung
des Körpers und der Sinne bietet zugleich Anreize zur kognitiven Weiter-
entwicklung. Des Weiteren befördert sie schon beim Säugling eine aktive,
welterkundende Haltung.
Der Ursprung für die gesunde Entwicklung des kindlichen Körpers liegt in
der Befriedigung der basalen Bedürfnisse durch Hygiene, ausreichende
und gesunde Nahrung, Bewegung, genügend Schlaf und eine angemesse-
ne Umgebung (zum Beispiel »mitwachsende« Stühle und Tische, Raum zur
Bewegung) und ein ausgeglichenes Lebensumfeld. Die Befriedigung der
Grundbedürfnisse ist Bedingung für das Wohlbefindens und damit Grund-
lage der somatischen Bildung. In seinen körperlichen Bedürfnissen bringt
das Kind seine Individualität zum Ausdruck: Es zeigt, wann es Hunger hat,
wie viel und was es essen möchte, wie viel Schlaf es braucht, welchen
Tagesrhythmus es ausbildet usw. Doch hier entsteht ein Konflikt mit den
organisatorischen Notwendigkeiten der Institution Kindertageseinrichtung
und mit dem Anliegen, gemeinsame Aktivitäten durchzuführen. Dazu ist
die Einhaltung gemeinschaftlicher Regeln und Rituale erforderlich, die
jedoch die Sensibilität für die je individuellen Bedürfnisse nicht blockieren
dürfen. Mit Hilfe von Abwägungen, Aushandlungen und Kompromissen gilt
es, eine Balance zwischen individuellen, gruppenbezogenen und institutio-
nellen Interessen zu finden, in der das Wohlbefinden der einzelnen Kinder
als Leitorientierung dient.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der somatischen Bildung ist die Körperhal-
tung, in der sich die Leistungsfähigkeit der Muskulatur und des Bewe-
gungsapparates widerspiegelt. Schuleingangsuntersuchungen bringen be-
reits bei 6-jährigen Kindern ein hohes Maß an Haltungsschwächen und
Somatische Bildung
46
Der Körper als
Meldestelle
Anregung des Körpers
und der Sinne bietet
Anreize zur kognitiven
Weiterentwicklung
Befriedigung der
basalen Bedürfnisse
ist Bedingung des
Wohlbefindens
Körperhaltung und
Wohlbefinden
Eltern
Koordinationsstörungen zum Vorschein. Langes Sitzen auf ungeeignetem
Mobiliar in schädigender Haltung, ausgelegene Betten und mangelnde
Bewegung begünstigen Haltungsveränderungen. Mit gezielter Kräftigung
der Haltungsmuskulatur und Schulung des Gleichgewichtssinns im Kindes-
alter (zum Beispiel Haltungsschule, Bewegen im Wasser, auf dem Trampo-
lin und mit Pedalos) sowie einer bewussteren Bewegungsweise kann
möglichen Schäden vorgebeugt werden. Hierbei geht es nicht um eine dis-
ziplinierende Haltungskontrolle, sondern um spielerische Anregungen zur
Förderung von Körper- und Haltungskompetenzen und zur Herausbildung
des Körperbewusstseins (vgl. Sachs-Amid 1994).
Der Zusammenhang zwischen Körper und Identität zeigt sich auch im Hin-
blick auf das Geschlecht. Das Wissen um das eigene Geschlecht wird
bereits mit zwei Jahren entwickelt. Es dient als Basis für die Entstehung
eines Körperbildes und einer Geschlechtsidentität (vgl. Schuhrke 1991).
Bis zum sechsten Lebensjahr lernen Kinder durch äußerliche und physi-
sche Merkmale zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. Sie erwer-
ben Kenntnisse vom biologischen Geschlecht (»sex«), die je nach kogni-
tivem Entwicklungsstand und familialem Kontext mit einem Wissen über
Zeugung, Schwangerschaft und Geburt eines Kindes einhergehen. Hier
kann zum Beispiel mit Hilfe von geeigneten Kinderbüchern Aufklärung
über soziale, sexuelle und biologische Aspekte geboten werden.
Das soziale Geschlecht (»gender«) wird durch Erwartungen der Gesell-
schaft bestimmt (vgl. BZgA 2002a, S. 33ff.). Durch diese Einflussnahme
der Umwelt erlernen Jungen und Mädchen Geschlechterrollen, die zu ihrer
Identitätsbildung beitragen. Sie werden mit Zuschreibungsprozessen und
Erwartungen konfrontiert, die mit ihrem sozialen Geschlecht zusammen-
hängen. Doch was geschieht, wenn Kinder die Erwartungen nicht erfüllen?
Was passiert, wenn sich Mädchen und Jungen ihrem jeweiligen Geschlecht
nicht angemessen verhalten? Wie wird mit vielfältigen Sexualitäten (zum
Beispiel Transsexualität, Homosexualität) umgegangen?
Es ist angesichts dieser Fragen unerlässlich, die Gedanken des Gender-
Mainstreaming aufzugreifen. Statt das Kind als »geschlechtsloses« Kind zu
sehen oder es in gesellschaftlich normierte Rollen zu drängen, sollte es in
seiner Vielfältigkeit, mit seinen individuellen Bedürfnissen aus der Situa-
tion heraus, erlebt werden. Aufgabe der Kindertageseinrichtung ist es,
Mädchen und Jungen bei der Entwicklung der eigenen Weiblichkeit bzw.
Männlichkeit und mithin in ihrer eigenen Identitätsentwicklung zu unter-
stützen und individuelle Unterschiede zuzulassen.
Der Umgang mit Ge schlecht, kindlicher Körperscham und Sexualität sowie
Akzeptanz und Toleranz gegen über dem Anderen wird bereits in frühen
Jahren geprägt. Kindertageseinrichtungen können dazu beitragen, in der
offenen und verdeckten Auseinandersetzung von Kindern mit ihrem Kör-
per Sicherheit zu geben. Angebote an Kinder – gleich aus welchem Bil-
dungsbereich – sollten sich auf kindliche Unterschiede einlassen und
davon ausgehen, dass sich Wohlbefinden in vielfältigen Formen und Aus-
prägungen einstellt.
Somatische Bildung
47
Das biologische
Geschlecht (»sex«)
und das soziale
Geschlecht (»gender«)
»Jungen sind anders,
Mädchen auch«
•
Wie können die verschiedenen Körpersinne der Kinder aktiviert werden?
•
Wie wird mit Fragen zur Geschlechtlichkeit und Sexualität umgegangen?
Welche Einstellungen existieren?
•
Welchen Platz haben die individuellen körperlichen Bedürfnisse im
Tagesablauf der Einrichtung?
•
Ist das Mobiliar an die jeweilige körperliche Entwicklung der Kinder an-
gepasst?
•
Wie wirken sich körperliche Veränderungen auf das Sozialverhalten des
Kindes aus?
•
Was macht dich zu etwas Besonderem, wodurch unterscheidest du dich
von anderen Kindern?
•
Sind beim Kind auffällige körperliche Veränderungen und Entwicklungen
zu erkennen?
•
Welche Erwartungen haben Mütter und Väter an ihre Töchter und Söhne
aufgrund ihres Geschlechts?
Bewegung
Kinder haben bereits ab der vorgeburtlichen Lebensphase ein natürliches
Bedürfnis nach Bewegung. Durch Bewegung können sie ihren eigenen Kör-
per kennen lernen, indem sie ver schiedene Befindlichkeiten unterschei-
den: Spannung und Entspannung, Ruhe und Hast, Stärke und Schwäche,
Anstrengung und Leichtigkeit sowie Schmerz und Wohlempfinden. Mittels
Mimik, Gestik und Haltung können sie ihren Emotionen und Empfindun-
gen Ausdruck verleihen. Mit Hilfe von Körperbewegungen treten Kinder mit
ihrer Umwelt in Kontakt, motorische und sensorische Erfahrungen sind von
Anfang an eng miteinander verschränkt. Bewegung ist deshalb ein zentra-
les Element des Bildungsprozesses und Voraussetzung für die Entwicklung
kognitiver, emotionaler, interaktiver, sozialer und sprachlicher Fähigkeiten.
Das Erleben der eigenen körperlichen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten,
von Nähe und Distanz zu anderen, von szenischen Vollzügen und Hand-
lungsabläufen bietet Kindern die Möglichkeit, neben motorischen auch
soziale Fertigkeiten zu erwerben und Grenzen bei sich selbst und bei ande-
ren zu testen. Wohlbefinden regt hierbei die Kreativität in Bezug auf den
eigenen Körper an und fördert die Bewegungslust (zum Beispiel neue
Bewegungsformen kreieren, auf den Händen stehen). Bewegungsspiele
können in Phantasie- und Rollenspiele übergehen, zur Erforschung der
materiellen Umwelt oder zur Einübung der Handhabung von Gegenständen
oder Techniken eingesetzt werden.
Die Förderung von Bewegung begünstigt zugleich die Ausbildung kogniti-
ver, emotio naler und sozialer Fähigkeiten: Grundelemente der Bewegung
wie Hüpfen, Laufen, Fangen, Tragen, Rollen, Greifen, etc. unterstützen die Ent-
wicklung der Muskulatur, die Koordinierung des Bewegungsapparates und
die kognitiven Verarbeitungsprozesse des Nervensystems (vgl. AGETHUR
2003). Während Erwachsene mittels Sprache in Kontakt treten, wird der
Kontakt zwischen Säuglingen und Kleinkindern großteils über Bewegun-
Somatische Bildung
48
Bewegung erzeugt
Kontakt mit der
Umwelt
Kontakt wird nicht
nur über Sprache
hergestellt
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
gen hergestellt. Ein Kleinkind im Sandkasten wird die Sandformen eines
anderen Kindes einfach zum Spielen nehmen, ehe es um Erlaubnis fragt.
Durch Bewegung kommt das Kind mit anderen Kindern und Erzieher/innen
in Kontakt; sie erproben soziale Interaktionen, beeinflussen durch moto-
rische Fertigkeiten ihren Status innerhalb der Gruppe und bilden ein
Gefühl für sich selbst und für Regeln des Zusammenseins aus. Bewegung
kann gleichermaßen zum Abbau oder Kanalisierung von Ag-gressionen
dienen; positive Bewegungserfahrungen ziehen angenehme körperliche
und emotionale Empfindungen nach sich, die wiederum die Aufnahmebe-
reitschaft und das Wohlbefinden des Kindes fördern.
In Abwendung vom »Sitzkindergarten« sollte es Kindern ermöglicht wer-
den, sich in Räumen und im Freien zu bewegen, zu toben und zu spielen.
Genügend Raum für Be wegung sowie spezifische Bewegungsmaterialien
wie Podeste, Klettergerüste, Höhlen, verschiebbares und stapelbares Mo-
biliar können Anregung bieten. Die alltäglichen, frei zugänglichen Be-
wegungsmöglichkeiten können durch bewegungspädagogische Einheiten
ergänzt werden, die die Entfaltung aller Sinne unterstützen oder zur
Übung von Motorik und Koordination beitragen (vgl. Herm 2001).
Erholungsphasen sind ebenso wichtig, wie aktive Phasen. Rückzugs-
möglichkeiten (Snoezel-Raum, Kuschelecken, Spielhäuser im Außengelän-
de) helfen den Kindern selbst zu entscheiden, was gerade wichtig für sie
ist. Dazu gehören ebenso Schlaf- oder Wachgruppen, die entsprechend
dem Ruhebedürfnis des jeweiligen Kindes ermöglicht werden sollte. Kin-
der entwickeln einen Lebensrhythmus und merken, wann »ihr Akku« leer
ist. Das Körpergefühl und das Entdecken eigener Bedürfnisse tragen eben-
so zur Entwicklung bei wie Aushandlungsprozesse mit sich und der
Umwelt.
•
Welche unterschiedlichen Bewegungserfahrungen können Mädchen und
Jungen im pädagogischen Alltag machen?
•
Welche Bewegungsspiele werden angeboten und muss das Repertoire
erweitert werden?
•
In welcher Weise regen Innen- und Außenräume der Einrichtung die Kin-
der zur Bewegung an?
•
Wie ist das Verhältnis von sitzenden und »bewegten« Tätigkeiten im
Tagesablauf einzuschätzen?
•
Welchen Bewegungsdrang zeigen Mädchen und Jungen und wie kann
dem Rechnung getragen werden?
•
Gibt es Kunststücke, die du vorführen kannst?
•
Welche Bewegungsmöglichkeiten haben Kinder außerhalb und in der
Wohnung?
•
Wird Mädchen und Jungen jederzeit genügend Freiraum für Bewegung
eingeräumt?
Somatische Bildung
49
Bewegungsräume statt
»Sitzkindergärten«
Kinder brauchen
Bewegung &
Entspannung
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Gesundheit
Gesundheitsförderung zielt auf die Aktivierung und Unterstützung körper-
licher, psychischer und sozialer Gesundheitsressourcen im Alltag von Kindern
(BZgA 2002b). Die Förderung der Sinneswahrnehmung, des Körperbewusst-
seins und der Bewegungsfähigkeiten sind dazu wichtige Elemente. Auch die
ökologischen Bedingungen einer Kindertageseinrichtung sind unter der Per-
spektive des Wohlbefindens zu betrachten: Ausreichend Licht, frische Luft,
gesunde Ernährung, ansprechende Räumlichkeiten mit kindgerechter Aus-
stattung und genügend Rückzugsmöglichkeiten und eine Tagesstruktur, die
eine Balance zwischen Aktivierung und Entspannung, zwischen gemeinsa-
men und individuellen Betätigungen etabliert, stellen Kriterien für die ge-
sundheitsförderliche Gestaltung von Kindertageseinrichtungen dar.
In psychosozialer Hinsicht ist ein Eingehen auf Belastungen und Krisen
der Kinder und eine Auseinandersetzung mit Konflikten und Anerken-
nungsproblemen unter den Kindern erforderlich, um Wege zur Stressbe-
wältigung aufzuzeigen. Die Herausbildung von vertrauensvollen Beziehun-
gen unter den Kindern sowie zwischen Kindern und Erwachsenen ist eine
Basis dafür, dass die Kindertageseinrichtung als Ort der emotionalen Stabi-
lität und der positiven Bearbeitung von Belastungen erlebt wird. Vertrauen
gilt als Grundlage der psychosozialen Gesundheit (vgl. Antonovsky 1997),
und stellt zugleich die Voraussetzung für eine zugewandte, weltoffene Ein-
stellung dar. Wohlbefinden und die Bereitschaft zur bildenden Welt-erfah-
rung hängen unmittelbar zusammen.
Neben diesen übergreifenden Zugängen zur Gesundheitsförderung ergeben
sich aus der Beschäftigung mit besonderen gesundheitsrelevanten The-
menfeldern Bildungsaufgaben in der Arbeit mit Kindern. Hygiene bzw. Kör-
perpflege ist ein wichtiges Anliegen von Kindertageseinrichtungen, das zu
einer gesunden Entwicklung beiträgt. Dazu gehören eine hygienische, ge-
sundheitsförderliche Einrichtung (zum Beispiel Sanitäranlagen) und die
Hilfe und Anleitung beim Erlernen von hygienischen Praktiken. Beim Topf-
und Toilettengang, Händewaschen, Wechseln der Kleidung, Zähneputzen
usw. geht es darum, den Kindern eine selbstständige Handlungsfähigkeit
zu vermitteln und den Sinn und die Bedeutung der persönlichen Hygiene
zu verdeutlichen. Statt abstrakter Disziplin sollen Jungen und Mädchen
den Nutzen und die Vorteile hygienischer Regeln erfahren, die mit ihren
individuellen Bedürfnissen in Einklang zu bringen sind. Auch bei der
Tagesstrukturierung ist die Balance zwischen Anspannungs-, Ermüdungs-
und Erholungsphasen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ent-
wicklungen und Bedürfnisse der Kinder herzustellen.
Gesunde Ernährung und die Förderung einer regelmäßigen, gesundheitsför-
derlichen Esskultur stellen eine weitere Bildungsaufgabe im Umgang mit Kin-
dern dar, die angesichts der Zunahme von Essproblemen (Adipositas, Buli-
mie und Magersucht besonders bei Mädchen) schon heute bedeutend ist.
Kindertageseinrichtungen können Mahlzeiten anbieten, die sich durch einen
hohen Anteil an Gemüse, Obst, Milch- und Vollkornprodukten sowie einem
geringen Anteil an Fleisch und Wurst auszeichnen. Auf diese Weise können
sie eine vollwertige Ernährung mit der Gestaltung von anregenden, erlebnis-
reichen Mahlzeiten unter Gleichaltrigen verknüpfen (vgl. AGETHUR 2003).
Somatische Bildung
50
Kriterien für die ge-
sundheitsförderliche
Gestaltung von Kinder-
tageseinrichtungen
Vertrauensvolle
Beziehungen als
Voraussetzungen für
Weltoffenheit
Hygiene im Einklang
mit individuellen
Bedürfnissen
Regelmäßige, gesund-
heitsförderliche
Esskultur pflegen
Der genauere Blick auf Mahlzeiten und die individuellen Bedürfnisse der
Kinder sollen im wahrsten Sinne des Wortes nicht unter den Tisch fallen.
Gesunde Ernährung als Baustein für die gesunde Entwicklung soll Spaß
machen. Gemeinsam mit anderen Kindern Mahlzeiten vorzubereiten (Es-
senszubereitung, Tisch decken), Regeln auszuhandeln (Dienste verrichten)
und diese einzuhalten (auf saubere Hände achten) fördert zum einen das
Miteinander in der Gruppe, zum anderen die Verantwortungsübernahme
jedes einzelnen Kindes. Darüber hinaus lernen sie von klein auf verschie-
dene Speisen, Geschmacksrichtungen und Konsistenzen kennen und ent-
wickeln daraus ihre eigenen Vorlieben. Dazu gehört ebenso, eigene
Bedürfnisse zu erkennen – »Wie viel kann ich essen und wie schnell oder
langsam mag ich essen?« – und zu erleben, wie ihre Entscheidungen
respektiert werden. Kinder mit besonderen Bedürfnissen oder Krankheiten
lernen, auf welche Gerichte sie verzichten sollten, um sich wohlzufühlen.
Abwechslungsreiche, vitamin-, mineralstoff- und ballaststoffreiche Nah-
rung sowie regelmäßige Mahlzeiten können das Bewusstsein für gesunde
Ernährung fördern. Kinder haben Spaß daran, selbstständig Gerichte zuzu-
bereiten und lernen dadurch spielerisch, was »gesund« ist. Mit einem
»Kinder-Kochstudio« oder mit Liedern, Geschichten oder Tischsitten ande-
rer Länder können Geschicklichkeiten im Umgang mit Hilfsmitteln erworben
sowie soziale und kulturelle Aspekte des Essens kennengelernt werden.
Esskultur bedeutet ebenso, Kindern die Möglichkeit zu Gesprächen wäh-
rend den Mahlzeiten mit selbstgewählten Nachbarn zu geben und gleichzei-
tig Rücksicht auf andere Kinder zu nehmen. Das gemeinsame Essen wird so
zu einem sozialen und sprachlichen Erlebnis. Das Wechselspiel von kindge-
rechter Verantwortung und Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse des
Kindes durchzieht den gesamten Bereich der somatischen Bildung, und es
verknüpft die somatische mit der kommunikativen und sozialen Bildung.
Der Umgang mit Emotionen stellt ein weiteres Bildungsthema dar, da Kin-
der besonders sensibel auf Umwelteinflüsse reagieren. Schon Kleinkinder
erleben in ihrer Entwicklung Belastungen und Krisensituationen, die vom
Abschied am Morgen über den Streit in der Familie, Krankheit oder wirt-
schaftliche Probleme bis zum Tod eines nahestehenden Menschen reichen
können. Die damit verbundenen Emotionen und Empfindungen werden
von den Kindern mit in die Einrichtung getragen. In diesen Fällen ist die
Sensibilität der Erzieher/innen gefragt, das Kind zu ermutigen, Angst, Trau-
er und Wut zuzulassen. Durch die Akzeptanz dieser Gefühle erlebt das
Kind Sicherheit in den sozialen Bindungen und eine positive Wertschät-
zung, die zur Stärkung des Selbstwertgefühls beitragen kann. Sichere
soziale Bindungen und ein positives Selbstwertgefühl sind Voraussetzun-
gen für die Ausbildung von Resilienz – der Widerstandsfähigkeit gegen
Belastungen und widrige Entwicklungsbedingungen. Gerade in der Verar-
beitung von Krisensituationen spielt die Zusammenarbeit von pädagogi-
schen Fachkräften und Eltern eine wichtige Rolle, um die emotionalen
Reaktionen des Kindes besser zu ver stehen und sichere, vertrauensvolle
Beziehungen zu gewährleisten.
Eine situationsangemessene Bewältigung von Belastungen und Stress gilt
als Grundlage der Sucht- und Gewaltprävention in Kindertageseinrichtun-
Somatische Bildung
51
Gesunde Ernähung =
gesunde Entwicklung
Gesundes Essen als
soziales und sprach-
liches Erlebnis
Ein positives Selbst-
wertgefühl stärkt die
Widerstandsfähigkeit
gen. Die Stärkung des Selbstbewusstseins, das Erlernen von Eigenverant-
wortung, das Zulassen von Entspannung sowie Zuwendung und Aufmerk-
samkeit, die den Aktivitäten der Jungen und Mädchen Bedeutung verlei-
hen, sind zentrale »Schutzfaktoren«, die der Entstehung von Suchtver-
halten vorbeugen. Das Aushalten und Aushandeln von Konflikten, das Ken-
nen lernen von Stärken und Schwächen, das Mitgefühl gegenüber anderen
Menschen und die Erfahrung von Recht und Unrecht werden als soziale
Ressourcen betrachtet, die eine ge waltfreie Konfliktregulierung befördern.
Kindliche Aktivitäten enthalten Unfallrisiken und Gefahren, die einer freien
Betätigung oft entgegenstehen. In der pädagogischen Arbeit müssen Si-
cherheitsaspekte ausreichend berücksichtigt werden, ohne den Tätigkeits-
drang der Kinder mehr als nötig einzuschränken. Hierzu ist eine Abwägung
zwischen Freiräumen und Risiken erforderlich. Kinder müssen für riskante
Situationen sensibilisiert werden und eigene Grenzen erkennen, wobei eine
direkte Konfrontation mit Gefahren zu vermeiden ist. Die räumliche Wahr-
nehmungsfähigkeit, das situative Einschätzungs- und Urteilsvermögen, Re-
aktionsvermögen und Geschicklichkeit in der Bewegung sind Vorausset-
zungen, um kritische Situationen handhaben zu können (vgl. AGETHUR
2003). Im Hinblick auf die Verkehrsteilnahme sind zum Beispiel Mobilitäts-
training und Verkehrserziehung hilfreich. Diese beginnen bereits auf dem
Weg in die Einrichtung. Viele Kinder erreichen diese mit dem Auto, wobei
ein gemeinsamer Fußmarsch mit Erwachsenen mehr Lernmomente bietet.
Zugleich ist das Vorleben eines angemessenen, risikobe wussten Verhal-
tens von Eltern und pädagogischen Fachkräften wichtig.
•
Wie wird mit Krisen von Mädchen und Jungen umgegangen?
•
Wie können Entspannungsphasen in die pädagogische Arbeit integriert
werden?
•
Wie sehen die hygienischen Bedingungen der Einrichtung aus?
•
Auf welche Weise wird das Essen in der Einrichtung ausgewählt und zu-
bereitet?
•
Was berichten Mädchen und Jungen vom Wochenende in der Familie?
•
Welche Nahrung macht dich fit und was macht dich schlapp?
•
Welche Ernährungsgewohnheiten gibt es zu Hause?
•
Von welchen gesundheitlichen Problemen ihrer Tochter bzw. ihrem Sohn
berichten die Eltern?
Somatische Bildung
52
Zwischen Freiräumen
und Unfallrisiken
abwägen
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
2.1.4 Anregungen zum Weiterdenken
AGETHUR – Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen e.V.,
2003: Gesunde Kindertagesstätte – erleben und gestalten. Arbeitsmate-
rialien für Erzieher zum Modellprojekt, Weimar.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2003: Entdecken, schau-
en, fühlen. Das Handbuch für Erzieherinnen und Erzieher. Bundeszen-
trale für gesundheitliche Aufklärung, Köln.
Herm, Sabine, 2001: Psychomotorische Spiele – für Kinder in Krippe und
Kindergarten. Hermann Luchterhand Verlag, Berlin.
Sachs-Amid, Fritzi, 1994: Kinder in Balance? Praxisorientierte Maßnahmen
zur Schaffung von Verhaltens-(Körper-)Bewußtsein und Haltungskompe-
tenz bei Vor- und Grundschulkindern. Asgard-Verlag, Sankt Augustin.
Walter, Melitta, 2005: Jungen sind anders, Mädchen auch. Den Blick schär-
fen für eine geschlechtergerechte Erziehung. Kösel Verlag, München.
Zauner, Renate, 1991: Kinder brauchen Bewegung. Otto Maier Ravensbur-
ger Buchverlag.
Hier ist Platz für Fragen, eigene Ideen und Literaturhinweise:
Somatische Bildung
53
2.1.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen in der Kindertagespflege
Wohlbefinden wurde bisher im somatischen Bildungsbereich immer wieder
als Grundbedingung erfolgreicher Bildungsarbeit und für eine ausgeglichene
körperlich-seelische Entwicklung hervorgehoben. Dies gilt auch und im
besonderen Maße in den ersten drei Lebensjahren. In dieser Entwick-
lungsphase nimmt die körperliche Pflege und Versorgung einen großen
Teil der Arbeit ein.
Der Initiative des Säuglings und Kleinkindes sowie seinen Signalen sollte
immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, als den eigenen Bestre-
bungen, dem Kind »etwas beibringen« zu wollen, da sich sonst Kinder an
Imitationen und mechanische Wiederholungen in praktisch allen Bereichen
des Lebens gewöhnen (vgl. Pikler 2001, S. 167f.). Entsprechende Bedin-
gungen sind beispielsweise in diesem Bildungsbereich das Ermöglichen
des freien Übens der aus eigener Initiative entstandenen Bewegungen,
eine Umgebung zum Anfassen und Begreifen oder eine das Wohlbefinden
fördernde Eingewöhnungsphase. Gerade für Kinder sind in der Phase der
Eingewöhnung Gefühle von Geborgenheit und Sich-Wohlfühlen elementar,
um sich in der ungewohnten Umgebung einleben zu können und offen für
neue Erfahrungen zu sein (van Dieken 2002, S. 38f.; Laewen u. a. 2003).
Alle Zeit, die zur Verfügung steht, sollte dafür genutzt werden, eine bes-
sere Beziehung zwischen Kindertagespflegeperson und Kind herzustellen.
Spannung, Hektik und Eile sind kontraproduktiv für die wachsende Selbst-
ständigkeit und Aktivität jedes einzelnen Kindes. Es geht um eine echte
Präsenz und ein bewusstes »in der Situation sein«.
Für Kindertagespflegepersonen gilt es, die Bedingungen ihrer Arbeit und
die pädagogische Umgebung für die Kinder auf stressauslösende Faktoren
zu überprüfen und mögliche Lösungswege zu ihrer Vermeidung zu finden.
Eine vertrauensvolle Beziehung (während der Körperpflege) zwischen dem
Kind und der Kindertagespflegeperson bestimmt das Ergebnis der täg-
lichen Pflegehandlungen wie beispielsweise das Waschen oder Baden, das
Füttern oder das Essen darreichen. Das bewusste Sprechen mit dem Kind
während des Beisammenseins animiert das Kind seinerseits Lautäußerun-
gen zu produzieren und sich an den Klang der fremden (Nicht-Mutter)Stim-
me zu gewöhnen (vgl. SMS 2006, Abschnitt 2.3.6). Sich Zeit-Lassen, über-
legte Bewegungen ausführen, die bewusste Zuwendung und Streichelein-
heiten, lassen eine Pflegesituation entstehen, in der sich Kind und Erwach-
sener aufeinander einstellen und die Signale genauer verstehen lernen
können. Kinder erfahren, dass sie liebevoll umsorgt und gepflegt werden
(vgl. Pikler 2001).
Neben der verbalen und nonverbalen Kommunikation kann in der intimen
Situation der Körperpflege auch die Körperwahrnehmung gefördert wer-
den. Ȇber den Hautkontakt (zum Beispiel Eincremen, Waschen, Strei-
cheln, An- und Ausziehen) erfährt das Kind Wertschätzung und Beziehung,
zugleich bedeutet dies auch die Wahrnehmungsförderung des großen Sin-
nesorgans ›Haut‹. (…) Krippenkinder sollten schon früh ermuntert werden,
sich auch selbst zu pflegen (soweit es ihnen möglich ist): zum Beispiel
Hände waschen, Zähne putzen.« (van Dieken 2002, S. 42). Elterngesprä-
Somatische Bildung
54
Wohlbefinden
Signalen und
Initiativen
Aufmerksamkeit
schenken
Körperwahrnehmung
fördern
che zum Austausch und zur Verständigung über die Selbstbildungsprozes-
se im Bereich Hygiene sind ebenso wichtig wie die Gestaltung des Sani-
tärbereichs in der Krippe oder in der Kindertagespflegestelle.
Das Bad sollte sowohl ein Ort für kommunikative und entsprechend
gestaltete Wickelsituationen sein, gleichzeitig Anregungen zum Spiel mit
Wasser bieten sowie Erwachsene und Kinder bei den Tätigkeiten der Kör-
perpflege und Hygiene unterstützen. Mädchen und Jungen erfahren so
ihren eigenen Körper als etwas Schönes und Wertvolles, mit dem sie sen-
sibel umgehen lernen. Zudem trägt das auf diese Weise entstehende
Selbstbild zur Entwicklung einer positiven Ich-Identität bei (vgl. SMS
2006, Abschnitt 2.2.6).
Die Kleidung der Kinder – egal ob für Innen- oder Außenaktivitäten – soll-
te nicht einengend sein und den Säuglingen bzw. Kleinkindern genug Bewe-
gungsfreiheit bieten. Angst vor Schmutz, Staub, Dreck und kleinen Schram-
men, den klimatischen Bedingungen und körperlichen Befindlichkeiten
sowie unangemessene Kleidung hemmen die körperliche Entwicklung. Sitz-
gelegenheiten und Tische müssen darauf geprüft werden, ob sie der physi-
schen Entwicklung der Kinder entsprechen, denn Kinder sollen, wenn sie
schon allein sitzen können, mit den Füßen den Boden berühren. Kann das
Kind noch nicht selbstständig sitzen, muss es in der Regel auch noch gefüt-
tert werden. Dies sollte in einer Atmosphäre erfolgen, in der die Konzentra-
tion ganz bei dem zu fütternden Kind liegen kann, das auf dem Schoß der
Pflegeperson sitzt. Tische und Stühle sollten nicht aus farbigen Kunststoff,
sondern möglichst aus unbehandeltem oder schadstofffrei behandeltem
Holz bestehen, das den Kindern auch taktile Erfahrungen ermöglicht (vgl.
SMS 2006, Abschnitt 2.4.2). Ebenso sollten Wickelunterlagen, Bodenbeläge
u. Ä. auf schädliche Stoffe überprüft und notfalls ausgetauscht werden.
Mit Hilfe von Körperbewegungen treten Kinder mit ihrer Umwelt in Kon-
takt. Dabei sind motorische und sensorische Erfahrungen von Anfang an
miteinander verschränkt. »Der Säugling von etwa zwei Monaten wird mit
seinen Händen vertraut. Durch das Verfolgen der spontanen Bewegungen
seiner Hände entwickelt sich die Koordination der Kopf-, Augen-, Arm- und
Handbewegungen, die die Grundlage zu späteren, komplizierten Tätigkeiten
der Hände bilden.« (Pikler 2001, S. 64). Bewegung ist deshalb ein zentra-
les Element des Bildungsprozesses und Voraussetzung für die Entwicklung
kognitiver, emotionaler, interaktiver, sozialer und sprachlicher Fähigkeiten.
Bei der Bewegungsentwicklung sollte das Kind eine Umgebung vorfinden,
in der es stufenweise lernt, sich selbstständig zu bewegen, sein Spielzeug
selbstständig zu suchen, seine Position und seinen Platz selbstständig zu
wechseln. »Wenn eine entsprechende persönliche Beziehung besteht und
wenn das freie Üben der aus eigener Initiative entstandenen Bewegung
ermöglicht wird, erfolgt die Entwicklung der Bewegungen vom Sich-auf-
die-Seite-Drehen bis zum sicheren Gehen im Allgemeinen ohne wesentli-
che Verspätung und regelmäßig, ohne den direkten, modifizierenden, för-
dernden und lenkenden bzw. verbietenden Eingriff der Erwachsenen.«
(Pikler 2001, S. 69f.). Bei Verdacht auf Entwicklungsverzögerungen sollten
die Sorgeberechtigten informiert werden, damit diese entsprechende Fach-
kräfte (beispielsweise Physiotherapeut/innen, Logopäd/innen) konsultieren
können.
Somatische Bildung
55
Körperpflege und
Hygiene
Angemessene
Kleidung
Bewegung
Freies Üben aus
eigener Initiative
Haben Mädchen und Jungen ausreichend Möglichkeiten, Übergangsbewe-
gungen eigenständig und im eigenen Rhythmus zu üben, während sie
wach sind, begünstigt dies eine gute Kondition. Denn Kinder suchen sich
nur die Positionen und (Grund-)Bewegungen aus, für die sie reif sind. Jede
nächstfolgende Stufe der Bewegungsentwicklung wird von den Kindern
aus eigener Initiative gesucht und individuell angeeignet, so dass ihre all-
gemeine Selbstständigkeit wachsen kann. Das heißt: Kinder nicht hochzie-
hen, sie nicht einengen oder in eine bestimmte Position bringen, sie nicht
drängen, dass sie sitzen, stehen oder laufen mögen, sondern statt dessen
geeignete Spielmaterialien und Klettergeräte anbieten, Bewegungsexperi-
mente zulassen und aushalten oder dem Bewegungsdrang beim Windeln
nachgeben. Auch im Stehen oder auf der Matte kann gewindelt werden,
um neue Erfahrungen und aktive Beteiligung zu ermöglichen.
Greifen oder Verstecken spielen können Säuglinge am besten, wenn sie
auf dem Rücken liegen. Ein Tuch beispielsweise kann Greifübungen dienen
oder gleichzeitig Trostspender sein.
Bei der Gestaltung der Umgebung sollte darauf geachtet werden, dass
genügend Platz für großräumige Bewegungen im Innen- und Außenbereich
vorhanden ist. Unterschiedliche Ebenen, Treppen, Stufen und Leitern kön-
nen zum Klettern genutzt werden. Gelegenheiten zum Schaukeln, Schwin-
gen, Kriechen, Krabbeln, Hüpfen, Kreiseln, Springen, Balancieren und Lau-
fen sollen bestehen und großflächiges Malen in verschiedenen Körperhal-
tungen ermöglicht werden. Fingerspiele und andere fein- oder grobmoto-
rische Aktivitäten wie Fädel-, Steck- und Legespiele oder das Erkunden
einer Taststrecke fördern neben der Bewegungsentwicklung der Mädchen
und Jungen ihre sensomotorische Entwicklung.
Gesunde Ernährung und die Förderung einer regelmäßigen, gesundheitsför-
derlichen Esskultur stellen eine weitere Bildungsaufgabe im Umgang mit Kin-
dern dar, die angesichts der Zunahme von Essproblemen schon heute
bedeutsam ist. Der genaue Blick auf Mahlzeiten, ihre Zubereitung und
Bestandteile und die individuellen Bedürfnisse der Kinder sollen im wahr-
sten Sinne des Wortes nicht unter den Tisch fallen (vgl. von der Beek 2006,
S. 127ff.). Gesunde Ernährung als Baustein gesunder Entwicklung soll Spaß
machen. Beim Essen – egal ob die Kinder selbstständig essen können oder
noch gefüttert werden – ist es wichtig, dass sich der Erwachsene Zeit nimmt
und abwarten kann. Das bedeutet etwa beim Füttern, den Löffel anfassen
lassen und dem Kind keinen zweiten Löffel geben oder das Essen mit den
Fingern zulassen, da es zugleich ein sinnliches Erlebnis ist oder auch den
»Rückfall« zur Flasche oder dem Gläschen zulassen, auch wenn das Kind
schon das Gläschen genommen hat bzw. mit dem Löffel essen kann. Das
Kind will aktiv mitmachen und sich am Geschehen beteiligen. Säuglinge, die
noch gestillt werden, benötigen eine besondere Zuwendung. Hier ist es
wichtig, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen.
Zum Einnehmen der Mahlzeiten sollten an einem Tisch für vier bis sechs
Kinder Sitzgelegenheiten vorhanden sein. Jedes Kind darf selbst entschei-
den, wie viel, was und wie lange es essen möchte. Tischdecken mit Vlies
o. ä. Tischschmuck und ein Geschirrschrank, aus dem sich ältere Kinder
selbst Teller und Besteck herausnehmen können sowie eine funktionale
Beleuchtung fördern Selbstständigkeit und eine ästhetische Esskultur (vgl.
Somatische Bildung
56
Bewegungsabläufe
eigenständig üben
können
Selbstbestimmtes
Essen
van Dieken 2002, S. 17). Größere Kinder sollten sich ihre Mahlzeiten
selbst nehmen können, um die Portionsgröße bestimmen zu lernen.
Die Möglichkeit zu schlafen, zu ruhen und zu entspannen muss für bis zu
dreijährige Kinder während des gesamten Tages gegeben sein, denn nach
einer Phase der Aktivität sind Ruhephasen zum Regenieren notwendig. Da
das Bedürfnis nach Spannung und Entspannung individuell verschieden
ist, ist es günstig, wenn Kinder nicht nur gemeinsam mit anderen zu einer
festgelegten Zeit schlafen. Dazu müssen entsprechende räumliche Bedin-
gungen geschaffen werden (vgl. von der Beek 2006, S. 143ff.). Die Berei-
che zum Schlafen und Ausruhen sollten Liegeflächen für mehrere Kinder
nebeneinander oder für einzelne Kinder bieten. Schlafgelegenheiten mit
»Umrahmung« können den Kindern als Ruhe- oder Rückzugsraum dienen.
Dezentes Licht beruhigt. Hängematte, Schaukelstuhl, Schaukelpferd und
Matten können außerhalb der Schlafzeiten für andere Formen der Ent-
spannung und ruhigen Konzentration genutzt werden.
Hier ist Platz für Fragen, eigene Ideen und Literaturhinweise:
Somatische Bildung
57
Schlafen, Ruhen,
Entspannen
2.1.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen im Hort
Die Herstellung und Erhaltung von Gesundheit wird im Sächsischen Bil-
dungsplan als eine eigenständige, positive Bildungsaufgabe beschrieben,
die vom Körper ausgeht, jedoch auch psychische und soziale Aspekte
umfasst. Der Umgang mit Gefühlen, Befindlichkeiten und Konflikten, die
Erfahrungen des Angenommenseins, des Rückhalts durch vertrauensvolle
Beziehungen und der sozialen Anerkennung sind wichtige Einflussfaktoren
von Gesundheit und Wohlbefinden. Neben der Minimierung von Gefahren
und Risiken gilt es, die Herausbildung von Stärken, Kompetenzen und
gesundheitlichen Ressourcen zu fördern, für die bereits im Alter bis zu
sechs Jahren wichtige Grundsteine gelegt wurden (vgl. SMS 2006, Ab-
schnitte 2.1.1, 2.1.2 und 2.1.5).
Die Orientierung am Wohlbefinden enthält spezifische gesundheitsfördern-
de Aufgaben in der Bildungsarbeit mit Kindern in Horten. Deren Ziel ist es,
Kinder für ihren eigenen Körper und dessen Bedürfnisse zu sensibilisieren
und sie dazu zu ermutigen, sich aktiv und selbstverantwortlich zu beteili-
gen, um sich wohl zu fühlen. Dazu gehören auch die Vermittlung gesund-
heitsbezogenen Wissens und die Vorbildfunktion durch gesundheitsför-
derndes Verhalten Erwachsener.
Der Übergang in den Hort und die Ablöseprozesse vom Hort müssen
aktiv und auf der Grundlage vertrauensvoller Beziehungen gestaltet wer-
den. Mütter, Väter, aber auch das Gemeinwesen und die Schule sind gefor-
dert, mit Mädchen und Jungen gemeinsam Wege zu finden, diese neuen
Lebensabschnitte als Herausforderung zu betrachten, die neue Lernerfah-
rungen ermöglichen (vgl. SMS 2006, Abschnitte 3.4 und 3.5). Auch mögli-
che Ängste der Kinder wie Schulangst, die Angst vor Versagen, Angst, von
anderen ausgelacht oder herabgesetzt zu werden, vor Misserfolg und man-
gelnder Anerkennung oder existentiellen Krisen, die bis zu Todesängsten
führen können, müssen bearbeitet werden (vgl. Baacke 1995, S. 168).
Der Umgang mit Geschlecht, kindlicher Körperscham und Sexualität
sowie Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem Anderen wird bereits in frü-
hen Jahren geprägt. Horte können dazu beitragen, in der offenen und ver-
deckten Auseinandersetzung, – Kindern mit ihrem Körper Sicherheit zu
geben. Angebote an Kinder – gleich aus welchem Bildungsbereich – soll-
ten sich auf kindliche Unterschiede einlassen und davon ausgehen, dass
sich Wohlbefinden in vielfältigen Formen und Ausprägungen einstellt (vgl.
SMS 2006, Abschnitt 2.1.3).
Die Lebenswelt von Kindern im Schulalter erweitert sich und differenziert sich
aus. Das Zentrum wird durch die Familie, das »Zuhause« gebildet, in dem sich
Kinder mit ihren wichtigsten und unmittelbaren Bezugspersonen aufhalten.
Der ökologische Nahraum, der unmittelbar an das familiäre Ge-schehen
angrenzt, ist die Nachbarschaft, das heißt der Stadtteil, das Dorf, die Wohn-
gegend, in dem das Kind erste Außenbeziehungen aufnimmt (zum Beispiel
im Laden einkaufen oder in die Kirche zum Gottesdienst ge-hen). Aus der Dif-
fusität dieses ökologischen Nahraums treten die Mädchen und Jungen nun in
Räume mit funktionaler Differenzierung wie Schule oder Hort ein, in denen
sie lernen müssen, bestimmten Erwartungen gerecht zu werden.
Somatische Bildung
58
Wohlbefinden
Bewegungsfreiheit
und vielfältige
Begegnungen
ermöglichen
Außerhalb dieser stark definierten Räume liegen die nicht alltäglichen
Sphären, die Kinder brauchen und reizen. So können Begegnungen mit
Menschen, ein alter Fabrikschuppen, der Urlaubsort oder das Kino sinnli-
che Auseinandersetzungen ermöglichen, die jenseits der Alltagsroutine lie-
gen. Diese Zonen der ökologischen Peripherie haben gerade für Kinder
zwischen sechs und zehn Jahren ungemeine Bedeutung, weil sie Abenteu-
er versprechen und sich vom Alltagsgeschehen abheben. »Je mehr Bewe-
gungsfreiheit, Kommunikations- und Handlungschancen die einzelnen
Zonen für Kinder bereithalten, desto stärker wird deren Entwicklung in
jeder Hinsicht gefördert.« (Baacke 1995, S. 90).
Das Verhalten im Straßenverkehr wird nicht erst mit dem Schuleintritt der
Kinder zum Thema. Bereits in frühen Jahren machen Mädchen und Jungen
Erfahrungen mit hohem Verkehrsaufkommen, Fahrzeugen wie Straßen-
bahn, Bus, Feuerwehr und Auto oder mit dem Verhalten als Fußgänger/in
bzw. Radfahrer/in. Selbstständigkeit und Identitätsentwicklung können
hier nur gefördert werden, wenn man Kindern Verantwortung für ihr eige-
nes Tun zugesteht, sie in ihrem Streben nach Selbstorganisation unter-
stützt, Regeln selbstständig aushandeln und einhalten lässt sowie ihren
Informations- und Wissensdrang stillen hilft. Dies erfordert selbstverständ-
lich auch Absprachen zwischen Eltern und Erziehern und Erzieherinnen
(vgl. Strätz u. a. 2003, S. 57).
Die körperlich-motorische Entwicklung, wie sie als Entwicklungsbereich d)
in der »Gemeinsamen Vereinbarung zwischen SMS und SMK zur Koopera-
tion von Kindergarten und Grundschule (Kooperationsvereinbarung)» be-
schrieben wurde, umfasst in der mittleren Kindheit raumgreifende Aktivitä-
ten, die gekennzeichnet sind von der Bewegungslust, die sich im wilden
»In-der-Welt-Sein«, durch Toben und extreme Körperbewegungen so-wie
in der Suche nach Ruhe und »Sich-Sammeln« zeigt.
Kinder lernen früher oder später Schwimmen, Roller- und Radfahren, Tau-
chen, Skaten und Schlittschuhlaufen, mit den Kniekehlen in Teppichstan-
gen hängen und Fußballspielen. Ein reiches Spektrum an Bewegungsfor-
men und -möglichkeiten im Hort muss sowohl Mädchen als auch Jungen
Gelegenheiten bieten, ihrer Bewegungslust zu frönen, ihren Körper zu
spüren und ihre Grenzen zu testen. Wohlbefinden geht unter dieser Per-
spektive nicht nur mit gesunder und vollwertiger Ernährung einher, son-
dern mit der Berücksichtigung individueller Zeitrhythmen und wechseln-
den Phasen der Spannung und Entspannung. Dies zeigt sich auch in der
flexibel gestaltbaren Zeit für Mahlzeiten oder Hausaufgaben. Zudem soll-
ten Er-wachsene den Drang der Mädchen und Jungen nach Bewegung
sowie ihr Bedürfnis nach Ruhe unterstützen. Nicht nur die Zeiten, sondern
auch die Räume sollten den individuellen Bedürfnissen der Kinder und der
Anregung aller Sinne Rechnung tragen, denn neben der Erweiterung des
Aktionsradius von Kindern im Schulalter besteht ihr Wunsch nach Rück-
zugsmöglichkeiten als zu berücksichtigende Dimension für das pädagogi-
sche Handeln (vgl. SMS 2006, Abschnitt 2.1.3; SMK/SMS 2007).
Angesichts dieser neuen Herausforderungen in der mittleren Kindheit
kommt der Befriedigung der kindlichen Grundbedürfnisse nach Sicherheit
Somatische Bildung
59
Bewegung ist Leben –
auch im Straßenver-
kehr
Basale Bedürfnisse
befriedigen –
eine Grundlage für
Wohlbefinden
(Schutz, Stabilität), Zugehörigkeit (Austausch und Teilhabe an Gemein-
schaft, Geborgenheit und emotionale Zuwendung in der Gruppe) und Wert-
schätzung (Stärke, Leistung und Anerkennung, Motivation und Ermutigung
der Kinder bei ihren Aktivitäten) große Bedeutung zu (vgl. Strätz u. a.
2003, S. 60). Auf dieser Basis können sich Einfühlungsvermögen, positi-
ves Selbstwertgefühl und Widerstandsfähigkeit entwickeln, denn Kinder
sind dadurch zur Rollenübernahme fähig. Allerdings – und das ist für diese
Phase markant – werden die Wertvorstellungen der Erwachsenen in Frage
gestellt und Widersprüche aufgedeckt. Die von den Kindern angenomme-
nen Normen und Werte sind noch nicht gefestigt, sondern sie entwickeln
sich stetig. Es ist eine Entwicklung, die sich von Konformität und Gehor-
sam hin zur Selbstständigkeit, Individualität und Autonomie vollzieht.
Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und neuen Erfahrungen wird
unterstützt, indem Erzieher und Erzieherinnen konkrete Alltagserfahrungen
und bedeutsame Situationen im Leben von Mädchen und Jungen als Aus-
gangspunkt nehmen, um Bildungsprozesse zu initiieren. Verlässliche
Bezugspersonen in Kindertageseinrichtungen spenden Trost, leisten Hilfe,
sind bereit den Kindern zuzuhören und wechselseitige Anerkennung zu
ermöglichen. Dies beginnt schon, wenn Erzieherinnen und Erzieher die
Themen aufnehmen, die Mädchen und Jungen mitbringen, ganz gleich ob
sie aus vorangegangenen Schulstunden oder Pausen stammen oder sich
auf Zuhause bzw. die Freizeit beziehen. Kindern wird dadurch ermöglicht,
Erlebnisse, die sie beschäftigen, zu verarbeiten und für Bildungsanreize
und selbst gestellte Aufgaben offen zu sein. Auch die Unterstützung der
Kinder beim Erkennen und Ausleben ihrer Vorlieben und Neigungen fördert
die kindliche Entwicklung und ein positives Selbstwertgefühl. Aus diesem
Grund hieß auch ein sehr erfolgreiches sächsisches Modellprojekt »Mit Kin-
dern Hort machen« und nicht »für« Kinder Hort machen.
Somatische Bildung
60
Positives Selbstwert-
gefühl stärkt die
Widerstandsfähigkeit
Vertrauensvolle
Beziehungen als
Voraussetzung für
Weltoffenheit
2.2 Soziale Bildung
2.2.1 Fachliche Einführung
Soziale Beziehungen bestehen in einer Kindertageseinrichtung vor allem
zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern sowie zwischen Kin-
dern. Hinzu kommen externe Professionelle, andere Erwachsene aus dem
Gemeinwesen, Mütter und Väter. Die Berücksichtigung von sozialen Bezie-
hungen ist ein wichtiges Element der Bildungsarbeit, da der Mensch mit
anderen Menschen in Beziehung steht und viele Dinge mit anderen teilt.
Von seiner Konstitution her ist der Mensch sozial, denn er ist in Gruppen
und soziale Zusammenhänge eingebettet. Daraus lassen sich soziale An-
forderungen und Erwartungen an den Bildungsprozess ableiten. Die Er-
wartungen werden als soziale Kompetenzen wie zum Beispiel Kooperati-
onsfähigkeit, Perspektivenübernahme, Konfliktfähigkeit, Toleranz und Über-
nahme von Verantwortung gefasst. Die Suche nach Möglichkeiten der
Gestaltung von Interaktionsprozessen mit Erwachsenen und unter Gleich-
altrigen verbindet sich mit der Einlösbarkeit solcher Erwartungen und
Anforderungen. Soziale Kompetenzen können sich jedoch nur ausbilden,
wenn bestimmte Voraussetzungen vorhanden sind: Vertrauen, um Per-
spektiven anderer einnehmen zu können und Beteiligung, um Empathie
erlebbar zu machen. Denn wer nicht beteiligt ist, wird nicht mit anderen
sozial lernen und keine sozialen Fähigkeiten entwickeln können.
Im Gesamtprozess sozialer Bildung sind unterschiedliche Ebenen enthal-
ten. Einerseits gehört zur Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit die
Ausprägung von Identität, die den Einzelnen von allen anderen unter-
63
Vertrauen und Beteili-
gung als Grundlage
für die Entwicklung
sozialer Fähigkeiten
2.2 Soziale Bildung
scheidet. Andererseits führt sie zur Herausbildung eines Sozialcharakters
bzw. einer »kollektiven Identität«, die die Mitglieder einer Gesellschaft
oder Gemeinschaft miteinander teilen (gemeinsame Werte, Normen, Rol-
lenmodelle, kulturelle Orientierungen usw.). Zugleich wird in der Sozialisa-
tionsforschung der zentrale Stellenwert von Freundschaftsbeziehungen
und Gleichaltrigengruppen (den sogenannten »peer groups«) für die Per-
sönlichkeitsentwicklung im Kindesalter hervorgehoben, während Kinder
ebenso Erwachsene als ihnen zugewandte Interaktionspartner auf dem
Weg des Erwachsen-Werdens benötigen (vgl. Krappmann 1991). Der Kon-
takt zu Erwachsenen wie Eltern, Erzieher/innen und anderen Bezugsperso-
nen konstituiert asymmetrische Sozialbeziehungen, in denen das Kind sein
Gegenüber häufig als »kompetenten Anderen« erlebt.
Die Interaktion mit anderen Menschen führt zur Nachahmung vorgelebter
Gesten, Verhaltensweisen und Einstellungen, die erst mit zunehmendem
Alter hinterfragt werden. Die Interaktion mit gleichaltrigen Kindern geht
demgegenüber nicht von einem prinzipiellen Erfahrungsvorsprung des
Interaktionspartners aus. Der gleichaltrige Spielpartner verlangt in stärke-
rem Maße, sich der Perspektive des Anderen bewusst zu werden, zwischen
der eigenen Identität und dem Anderen zu unterscheiden und das gemein-
same Tun kooperativ zu gestalten. Im Streit, wie er zum Beispiel im Spiel
mit Freund oder Freundin entstehen kann, setzt sich das Kind viel stärker
mit der sozialen Realität auseinander: »Hier sind zwei Kinder wirklich
damit beschäftigt, ihr Sozialleben aufzubauen und sich zu sozialisierten
Wesen zu entwickeln.« (Krappmann 1991, S. 356)
Im Hinblick auf Erwachsene ist das Vertrauen ein zentraler Faktor, der Ein-
fluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern hat. Vertrauen ist
eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Mädchen und Jungen ihre Fähig-
keiten entdecken und ausbilden, sich Fertigkeiten aneignen und Selbstver-
trauen entwickeln können. Damit Vertrauen in die eigenen Handlungen
und in die Handlungen anderer entstehen kann, bedarf es Umgebungen,
in denen Kinder Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten
entwickeln können (vgl. Caiati 1999).
2.2.2 Leitbegriff Beteiligung
Beteiligung umfasst verschiedene Akteure, deren Handlungsspielräume un-
terschiedlich weit reichen, wobei in der Kindertageseinrichtung Kinder und
pädagogische Fachkräfte die Hauptakteure darstellen – gefolgt von Eltern,
externen Professionellen und anderen Erwachsenen aus dem Gemeinwe-
sen. Soziale Interaktion kann mit sozialer Beteiligung gleichgesetzt werden,
denn Interaktion kann nur erfolgen, wenn man in irgendeiner Form an et-
was beteiligt ist. Beteiligung setzt Vertrauen ineinander und gegenseitige
Achtung voraus. Sie basiert auf der Erkenntnis,
•
dass Mädchen und Jungen etwas zu sagen haben,
•
dass man ihnen zuhören und sie ernst nehmen muss und darauf,
•
dass ihnen Gelegenheiten gegeben werden, im Dialog mit anderen Kin-
dern und Erwachsenen zu lernen, Entscheidungen, die das eigene Leben
Soziale Bildung
64
Die eigene Identität
prägt sich in der
Interaktion mit
anderen aus
Vertrauen hat zentralen
Einfluss auf die Per-
sönlichkeitsentwicklung
und das Leben der Gemeinschaft betreffen zu teilen und gemeinsam
Lösungen für Probleme zu finden (vgl. Schröder 1995).
Beteiligung kann nur im gesellschaftlichen Nahraum von Kindern gesche-
hen. Dabei haben alle Erwachsenen Sorge zu tragen, dass Beteiligung
möglich ist und die kommunikativen Prozesse des Aushandelns auf glei-
cher Augenhöhe stattfinden. Unter Beteiligung werden jedoch nicht nur
formale Beteiligungsmöglichkeiten gefasst, sondern auch Teilnahme und
Mitwirkung als aktiver Beitrag des Individuums selbst: sich (an etwas)
beteiligen und (an etwas) beteiligt werden. Dieses »an etwas« bedeutet
hier vor allem an einer gemeinsamen Sache. Ausgeschlossen bzw. Bevor-
mundet Sein bilden dabei den entgegengesetzten Pol, der auf Passivität
und Starre hindeutet.
Handlungsfelder für Beteiligung sind neben der Kindertageseinrichtung
auch die Familie, Medien und das Gemeinwesen. Partizipation in der Kom-
mune kann unterschiedliche Formen annehmen und reicht von der reprä-
sentativen Beteiligung in Kinder- und Jugendparlamenten bzw. -beiräten
bis hin zu offenen Formen der Beteiligung wie Kinderkonferenzen und pro-
jektorientierter Beteiligung in Zukunftswerkstätten zur Wohnraumplanung,
in Zirkeln für Verkehrsplanung und Stadtteilforschung im Rahmen von
Spielraumgestaltung. Beteiligung im umfassenden Sinn muss kleinräumig
stattfinden, das heißt dort, wo Kinder leben (zum Beispiel nicht nur im
Stadtteil oder Dorf, sondern auch in Wohnhäusern, in Kindertageseinrich-
tungen und kleineren Gruppen). Die gemeinsame Suche nach Formen der
informellen Beteiligung von Eltern, Trägern und externen Professionellen
an den Belangen einer Kindertageseinrichtung erweitert den Handlungs-
rahmen von pädagogischen Fachkräften und kann Ressourcen freisetzen.
Das neue Bild vom Kind entscheidet mit darüber, wie die in der UN-Kin-
derrechtskonvention formulierten Forderungen über die Rechte von Kin-
dern Realität werden können (vgl. Abschnitt 1.4).
Beteiligung bedeutet sowohl die Einbindung von Individuen in Entschei-
dungs- und Willensbildungsprozesse als auch das Vorhandensein vielfälti-
ger Beteiligungsformen, die Mädchen, Jungen, Müttern, Vätern, Erzieherin-
nen und Erziehern die Möglichkeit geben, ihre Interessen, Wünsche und
Ängste zu äußern, bei denen es um ihre Belange geht. Denn Mädchen und
Jungen können ganz unterschiedliche Vorstellungen haben, ob und wie
engagiert sie sich an etwas beteiligen wollen. Kinder bringen den Begriff
Beteiligung zum Beispiel eher in Verbindung mit »etwas teilen« als »an
etwas beteiligt sein«. Pädagogische Fachkräfte besitzen ebenfalls differie-
rende Ansichten darüber, wie sie sich selbst in der Kindertageseinrichtung
und darüber hinaus beteiligen können, welche Themen ihnen wichtig sind,
wo es sich lohnt, sich zu beteiligen und welche möglichen Formen der Mit-
wirkung es gibt. Beteiligung bedeutet also in erster Linie ein sich Beteili-
gen, ein sich selbst in Prozesse einbringen.
Im Leitbegriff der Beteiligung wird die Nähe des sozialen Bereichs zu
anderen Bildungsbereichen sichtbar, vor allem zum somatischen, kommu-
nikativen und ästhetischen Bereich. Mimik, Gestik und Sprache haben von
Geburt an hohe Bedeutung für die Interaktion mit anderen. Das gemein-
Soziale Bildung
65
Beteiligung schließt
kommunikative
Prozesse des »Aus-
handelns auf gleicher
Augenhöhe« ein
Beteiligung muss
kleinräumig stattfinden
Es gibt unterschied-
liche Vorstellungen
darüber, ob und wie
man sich beteiligen
kann
Soziale Verhaltens-
weisen werden im
täglichen Umgang
erlernt
same Tun im Spiel, beim Musizieren oder in einer Theaterwerkstatt eröff-
net neue Perspektiven auf das Eigene und das Fremde. Soziales Lernen
ermöglicht den Kindern im täglichen Umgang miteinander das Einüben von
sozialen Verhaltensweisen (zum Beispiel Ich-Stärkung, Konfliktbewälti-
gung, Frustrationstoleranz). Die Übernahme von Verantwortung und die
Erfahrung von Autonomie, Solidarität und sozialer Kompetenz werden
ebenfalls im gemeinsamen Spiel, im friedlichen Wettstreit oder in der
Durchführung gemeinsamer Aktivitäten und Projekte erlernt. Die (Aus-)Bil-
dung sozialer Fähigkeiten und Fertigkeiten kann nicht einfach in Übungen,
Trainings oder pädagogische Handlungsanleitungen übersetzt werden. Sie
muss als handlungsleitender Aspekt in die tägliche pädagogische Praxis
einfließen. Dabei wird es entscheidend sein, wie die gemeinsamen Aktivi-
täten gestaltet sind.
•
Fühlen sich alle Mitarbeiter/innen in der Kindertageseinrichtung am Ar-
beitsprozess beteiligt oder müssen Strukturen geändert werden?
•
Werden alle Ideen und Meinungen wertgeschätzt?
•
Welche Formen der informellen und formellen Zusammenarbeit können
gepflegt werden?
•
Besteht die Möglichkeit, sich für besondere Gesprächsthemen innerhalb
des Teams Unterstützung zu holen?
•
Welche Formen gibt es, um alle Kinder gleichberechtigt an Entschei-
dungsprozessen zu beteiligen?
•
Mit welchen Menschen in der Kindertageseinrichtung bist du gern zu-
sammen?
•
Welchen Fertigkeiten, Neigungen und Ideen können und möchten Müt-
ter und Väter in die tägliche Arbeit einbringen?
2.2.3 Inhalte des Bereichs
Soziales Lernen
Die Kindertageseinrichtung ist neben der Familie ein wichtiger sozialer
Lernort. Der große Vorteil dieser Institution besteht darin, sowohl freund-
schaftsstiftender Raum als auch Rückzugsmöglichkeit für eigenes Tun ohne
die anderen sein zu können. Er kann aus diesem Grund individuelle und
soziale Lernprozesse gleichermaßen ermöglichen. Denn: In der Gruppen-
dynamik brauchen Anlässe für soziales Lernen nicht künstlich geschaffen
zu werden; und die Achtung vor dem anderen Kind kann mit der Zunah-
me der Begegnungsmöglichkeiten und Aktionsräume wachsen. Die Erfah-
rung mit altersgemischten Gruppen zeigt, dass jüngere von älteren Kin-
dern, aber auch gleichaltrige Kinder voneinander lernen können.
Soziale Regeln werden vorrangig im Spiel untereinander erlernt. Dabei
geht es um die Herstellung von Kontakten, um den Tausch von Spielsa-
chen und um die Lösung von Konflikten und Problemen. Erwachsene –
Erzieher/innen, Mütter und Väter – sollten bei Interessenskonflikten zu-
Soziale Bildung
66
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
rückhaltend vorgehen, um den Kindern die Möglichkeit zu geben eigene
Lösungen zu erproben und aus Erfahrungen zu lernen. Denn meist han-
deln Kinder Kontroversen gütlich aus. Im Kontakt mit anderen Kindern ler-
nen sie Wichtiges über das Aushandeln sozialer Regeln. Bei Erwachsenen
suchen die Kinder vor allem Hilfe, Trost und Zuneigung.
Neben den Regeln sind es vor allem Rollenmuster, die die Interaktion be-
stimmen. Auch sie können im Spiel erprobt werden: Mutter spielen, Vater
spielen, Oma und Opa spielen. Im Kontakt mit dem sozialen Umfeld wie
Bauernhof, Kirche, Friedhof, Flugplatz, Polizei, Feuerwehr etc. können
Mädchen und Jungen lernen, wie sich die jeweilige Berufsrolle zum gesell-
schaftlichen Zusammenleben verhält und was Leben in einer Gesellschaft
bedeutet. Mädchen und Jungen entwickeln in diesem Alter wesentliche
Rollenvorstellungen von Frau-Sein und Mann-Sein, die in ihr Spiel einflie-
ßen bzw. sich darin widerspiegeln. Ein geschlechtsbewusster Umgang
kann in diesem Zusammenhang Mädchen und Jungen unterstützen, Ausei-
nandersetzungen jenseits von Rollenklischees zu ermöglichen (zum Bei-
spiel indem Polizistin und Polizist oder Melkerin und Melker oder Ärztin
und Arzt als Identifikationsfolien angeboten werden). Schließlich lernen
Kinder alltägliche Rituale kennen und reflektieren, die das Gemeinschafts-
leben gestalten, die Zugehörigkeiten zwischen den Mitgliedern einer Grup-
pe stiften oder Abgrenzungsmöglichkeiten gegenüber anderen bieten. So
unterscheiden sich zum Beispiel Familien in ihren Ritualen des Essens
oder Zu-Bett-Gehens oder in ihren Formen des Miteinander-Redens und
Miteinander-Umgehens, was im Spiel der Kinder untereinander sichtbar
wird. Diese und andere Themen der Kinder können von Erzieher/innen auf-
griffen und vertieft werden.
•
Welche Interaktionsmuster bestehen in der Einrichtung beim alltägli-
chen Umgang miteinander?
•
Welche Rituale und Traditionen werden in der Einrichtung gepflegt und
sind sie sinnvoll?
•
Haben alle Kinder in der Kindertageeinrichtung die Möglichkeit, sich zu
verabreden und sich zu treffen?
•
Eignen sich die vorhandenen Materialien zum gemeinsamen Tun?
•
Welche Räume nutzen Mädchen und Jungen, um sich zu treffen und
gemeinsam zu agieren?
•
Wie fühlst du dich, wenn du alleine bist und wie, wenn du mit deinen
Freundinnen und Freunden zusammen bist?
•
Welche familiären und freundschaftlichen Kontakte werden außerhalb
der Kindertageseinrichtung gepflegt?
•
Welche Rituale gibt es zu Hause?
Soziale Bildung
67
Das Spiel als Mittel
um Kontakt herzu-
stellen, soziale Regeln
auszuhandeln und
Rollen auszuprobieren
Rituale als Gestaltungs-
mittel gemeinsamen
Lebens
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Differenzerfahrungen
Differenzen zwischen Individuen bestehen zum Beispiel in Bezug auf Kul-
tur, Geschlecht, Fähigkeiten und Bedürfnisse. Diese Differenzerfahrungen
sind alltägliche Erfahrungen und jeder Mensch muss lernen, mit Differen-
zen umzugehen. Jedes Kind ist einmalig und somit besonders, hat be-
stimmte Bedürfnisse, die eine individuelle Förderung der jeweiligen kind-
lichen Identität notwendig machen. Die Heterogenität einer Kindergarten-
gruppe bildet die Heterogenität in einer Gesellschaft ab und Differenzer-
fahrungen beruhen auf dem Vorhandensein von Ambivalenzen, denen
jeder Mensch ausgesetzt ist:
•
auf dem Wahrnehmen der Geschlechterdifferenz, was eine geschlechts-
bewusste Arbeit mit Mädchen und Jungen nahe legt,
•
auf der Reflexion von Verhaltensweisen, die bevorzugen und zugleich
benachteiligen,
•
auf dem Erkennen unterschiedlicher Generationen sowie verschiedener
gesundheitlicher und emotionaler Zustände und
•
auf der Auseinandersetzung mit Behinderungen und besonderen Bedürf-
nissen, mit anderen Hautfarben, anderem Aussehen und anderem sozio-
kulturellen Hintergrund.
Jedes Kind lernt durch die Interaktion mit anderen verschiedene Perspek-
tiven und Lebensentwürfe kennen. Diese Vielfalt von Perspektiven öffnet
den Blick, kann aber auch zu Überforderungen führen. Erfahrungen mit
dem Anders-Sein können vor allem vom unmittelbaren Nahraum aus und
mit Bezug zum Leben und Alltag der Kinder als positives Element in die
Lebensbewältigung und Lebensgestaltung eines Individuums einfließen.
Kinder benötigen Ich-Stärke und Selbstvertrauen, um offen für neue Erfah-
rungen und Erfahrungen des Anderen zu sein, und Zeit, um diese Begeg-
nungen zu verarbeiten. Gerade vor dem Hintergrund der starken Femini-
sierung innerhalb von Kindertageseinrichtungen bzw. des Berufsbildes
»Erzieher/in« ist es wichtig, dass Mädchen und Jungen die Möglichkeit
haben, Frauen und Männer unabhängig von traditionellen Rollenzuweisun-
gen kennen zu lernen (zum Beispiel den einfühlsamen Grundschullehrer,
der Schulanfänger/innen die zukünftige Schule vorstellt oder die kompe-
tente Handwerkerin, die die Kinder am Arbeitsplatz besuchen).
Das Kennenlernen der eigenen Umgebung kann erweitert werden durch
das Kennenlernen anderer Länder, anderer Religionen, anderer Sitten und
Bräuche, anderer Kulturen und Lebensweisen. Letzteres kann man zum
Beispiel erkunden, indem man gemeinsam zusammenträgt, welche Tisch-
sitten, Einschlafrituale oder andere Familienrituale es in den unterschied-
lichen Herkunftsfamilien gibt.
Im Rollenspiel können auf unterhaltsame Weise sowohl auf kognitiver
wie auf sinnlich-emotionaler Ebene fremde und befremdende Erfahrungen
– eben Differenzerfahrungen – gemacht werden. In der Literatur oder in Fil-
men finden Kinder fiktionale Texte und Bilder, die ein Angebot der emo-
tionalen Beteiligung an fremden Geschichten machen, wie sie die reale
Erfahrung niemals zugänglich machen kann. Literarische Texte und Illustra-
tionen gestatten also ein Probehandeln und ermöglichen Differenzerfah-
rungen, indem sie den Leser/die Leserin an den Geschicken der literari-
Soziale Bildung
68
Offenheit für Neues
basiert auf Ich-Stärke
und Selbstvertrauen
schen Figuren teilhaben lassen. Auf diese Weise stellen sie eine wichtige
Hilfe für das soziale Verstehen und die emotionale Entwicklung dar. Vor-
lesesituationen sind in dem Zusammenhang wichtige soziale Erfahrungen,
da sie eine Brücke zwischen der eigenen sozialen Realität und der Welt
fremder, andersartiger Geschichten stiften. »Das Vorlesen (...) zeigt die
Bedeutung der sozialen Einbindung der Prozesse, die zum Lesen und zum
Leseinteresse führen (bzw. die Chancen dazu verbessern)« (Dahrendorf
1998, S. 6); und es zeigt, wie die Erfahrung von Differenzen mit den eige-
nen sozialen Erfahrungen und deren Verarbeitung in bedeutungsvollen
Beziehungen verknüpft sind.
Zur Welt der Kinder gehört dieses »Fremde« von Beginn an dazu: seien
es Menschen, Gegenstände oder ihre Umgebung. Ihnen begegnen Kinder
und Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigungen, Kinder und Erwachse-
ne mit unterschiedlichsten bereits erworbenen Kompetenzen und Kinder
und Erwachsene aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichem kultu-
rellen Hintergrund. Diese Unterschiedlichkeit muss als Bildungspotenzial
erkannt und nutzbar gemacht werden. Denn jedes Kind hat das Bedürfnis
nach Anerkennung durch Erwachsene und Kinder, nach Befriedigung sei-
ner kindlichen Neugier und nach Sicherheit. Integration durch gemeinsa-
me Teilhabe am Alltag der Kindertageseinrichtung ermöglicht es, mit Kin-
dern Aspekte wie »Würde«, »Andersartigkeit«, »Ausgrenzung« oder »Mit-
gefühl« zu thematisieren und Selbstvertrauen zu stärken. Heterogenität,
das heißt Unterschiedlichkeit, bedeutet dann gleichermaßen das Erleben
und Leben von Akzeptanz und Toleranz sowie gegenseitige Rücksichtnah-
me und Hilfe.
•
Wie werden Mädchen und Jungen mit besonderen Bedürfnissen inte-
griert?
•
Welche Situationen oder Ereignisse werden genutzt, damit Mädchen
und Jungen vielfältige Erfahrungen von Differenz und Gleichheit machen
können?
•
Spiegeln die Materialien der Einrichtung fremde Kulturen, Religionen
und vergangene Epochen wider?
•
Bieten die Räumlichkeiten Gelegenheiten, die »klassischen Bilder« von
Jungen und Mädchen/Frauen und Männern aufzulösen?
•
Auf welche Art und Weise können Kinder angeregt werden, ihre eigene
Identität zu finden?
•
Was kannst du besonders gut und was würdest du gern können?
•
Wer ist an Erziehungsfragen stärker beteiligt? Mütter, Väter oder beide
gleichermaßen?
•
Welche sozialen Fähigkeiten werden als wünschenswert erachtet?
Soziale Bildung
69
Soziales Verstehen
und emotionale
Entwicklung bedingen
einander
Kindertageseinrichtung
als Lebensort für alle
Kinder
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Werte und Weltanschauungen
Die Auseinandersetzung mit Differenzen verweist auf die zentrale Bedeu-
tung von Werten im sozialen Zusammenleben. Die Verschiedenheit von
Lebensentwürfen wirft die Frage auf, welche Werte für alle gelten und wel-
che nur für bestimmte Menschen. Kinder sind schon früh an übergreifen-
den Wertorientierungen interessiert, da sie in alltäglichen Spielsituationen
immer wieder vor Entscheidungen stehen: Was ist gut und was schlecht?
Was ist gerecht und was ungerecht? Erzieher/innen können diese Anlässe
zur Werteerziehung nutzen und in konkreten alltäglichen Entscheidungssi-
tuationen den Kindern die Bedeutung von Werten nahe bringen.
Die Werteerziehung unterscheidet zwischen allgemein menschlichen Wer-
ten, die Vertrauen und Verlässlichkeit, Respekt vor dem Anderen und die
Würde des Menschen gewährleisten, und weltanschaulich gebundenen Wer-
ten. In der täglichen pädagogischen Arbeit ist zu beachten, welche Werte
für alle gelten und welche Werte von unterschiedlichen weltanschaulichen
Traditionen geprägt sind. Die Erzieher/innen werden dabei mit ihrem eige-
nen Verhältnis zu Werten und Weltanschauungen konfrontiert, da unsere
Gesellschaft von einer weltanschaulichen Pluralität geprägt ist.
Kinder beschäftigen sich schon früh mit Fragen der Sinnfindung und des
Weltbildes. Sie betätigen sich als »kleine Philosophen«, die bestrebt sind,
ihrer Welt einen Sinn zu geben. Durch existenzielle Fragen fordern sie
pädagogische Fachkräfte dazu heraus, sich selbst den Grundfragen des
Lebens und der menschlichen Existenz zu stellen: Wo war ich eigentlich,
als ich noch nicht da war? Was ist hinter dem Himmel? Wenn ich tot bin,
bin ich dann kaputt oder ganz? Sind Bäume Lebewesen? (vgl. Damm
2002). Pädagogische Fachkräfte dürfen die Auseinandersetzung mit philo-
sophischen Fragen nicht tabuisieren. Im Gegenteil, sie müssen selbst ihre
eigene Position im Rahmen der Werteerziehung und der weltanschaulichen
Bildung reflektieren und Kinder bei ihrer individuellen Sinn- und Orientie-
rungssuche unterstützen.
Die Auseinandersetzung mit Wertfragen und mit existentiellen Fragen ist
nicht auf konfessionelle Einrichtungen beschränkt, sondern betrifft die Bil-
dungsarbeit mit Kindern insgesamt. Für damit zusammenhängende Bil-
dungsanforderungen wie Entscheidungsfähigkeit, Beziehungsgewissheit,
Sinn- und Lebensorientierung haben religiöse Traditionen exemplarische
Antworten bereitgestellt. Die in einer Kindertageseinrichtung anzutreffen-
den religiösen Orientierungen können als Beispiel und Anlass für die Be-
schäftigung mit weltanschaulichen Fragen genutzt werden. Die Spuren der
verschiedenen religiösen Traditionen in Architektur, Kunst und jahreszeitli-
chen Festen, in den Geschichten, Liedern und Märchen, in Symbolen und
Ritualen können zum Gegenstand von gemeinsamen Erkundungen wer-
den. Daneben existieren vielfältige nicht-religiös geprägte philosophische
Traditionen, die eine Bearbeitung weltanschaulicher Themen ermöglichen.
Die Auseinandersetzung mit der vorhandenen weltanschaulichen Pluralität
wirft die Frage nach der eigenen Haltung und nach dem Verhältnis zum
Fremden, nach der Achtung und Wertschätzung des Anderen auf.
Soziale Bildung
70
Das eigene Verhälnis
zu Werten und
Weltanschauungen
überprüfen
Kinder als »kleine
Philosophen« wahr-
nehmen und aner-
kennen
Spuren religiöser
Traditionen entdecken
•
Geht jede einzelne Erzieherin/jeder einzelne Erzieher wertschätzend mit
den existenziellen Fragen eines jedes Kindes um?
•
Sind Erzieher/innen in der Lage, gemeinsam mit den Mädchen und Jun-
gen die Antworten zu suchen?
•
Gibt es Rückzugsmöglichkeiten für Gespräche unter vier Augen oder im
kleinen Kreis?
•
Welche religiösen und weltanschaulichen Traditionen treffen in der Ein-
richtung aufeinander?
•
Welche Fragen stellt jedes einzelne Kind und welche Themen werden
dabei berührt?
•
Wie entscheidest du, was gerecht ist und was nicht?
•
Wie gehen Mütter und Väter auf die Fragen ihrer Tochter/ihres Sohnes
ein?
Demokratie
Die Geschichte der Demokratie ist eng verknüpft mit der Idee der Men-
schenrechte und der Idee der Gleichberechtigung. Demokratie als Metho-
de wird durch politische Institutionen realisiert, doch bedarf der demokra-
tische Gedanke auch einer Verwirklichung in der Gesellschaft. Dazu ist es
notwendig, Demokratie als Prozess zu verstehen, der in der Öffentlichkeit
stattfindet und eine pluralistische Meinungsbildung ermöglicht und för-
dert. Die Meinung der Kinder ist im öffentlichen Raum jedoch wenig
gefragt und somit können Kinder kaum gestaltend in ihre Umwelt eingrei-
fen. Dies betrifft die Institution Kindertageseinrichtung genauso wie die
Wahrnehmung kindlicher Interessen in der Politik. Kindheit wird in der
Öffentlichkeit immer noch romantisch verklärt und verstellt so die Sicht
auf Kinder, die als Konsequenz des gesellschaftlichen Wandels eigene
Interessen ausbilden und artikulieren. Man kommt in Zukunft nicht umhin,
Mädchen und Jungen mehr Mitspracherecht einzuräumen. Dies muss schon
im Kleinen beginnen: innerhalb der Kindergruppen, in der gesamten Kin-
dertageseinrichtung, gegenüber dem Träger einer Einrichtung, in der
Stadtteil- und Gemeindepolitik.
Neben der Einmischung in die Stadt- bzw. Gemeindeentwicklung ist es
nötig, dass Politiker/innen bewusst (Spiel-)Räume freihalten, die Kinder
eigenverantwortlich entwerfen und gestalten können, auch wenn das Er-
gebnis nicht immer den Wertvorstellungen anderer entspricht. Dabei geht
es nicht um ein Spielen von Demokratie, sondern um echte Beteiligung,
die Einmischung zulässt und relevante, unter Umständen auch riskante
Entscheidungen freigibt. Kinder- und Jugendpolitik sollte sich diesem Auf-
trag stellen und innovative Ideen initiieren wie zum Beispiel ein von Kin-
dern geführtes Büro in der Verwaltung, damit Kinder einen »direkten
Draht« zu den Behörden bekommen.
Ähnliche Formen demokratischer Mitbestimmung können auch in Kinder-
tageseinrichtungen gesucht werden. Ein Beispiel: Zwei fünfjährige Kinder
Soziale Bildung
71
Pluralistische
Meinungsbildung
ermöglichen und
fördern
Demokratie wagen:
erst im Kleinen,
dann im Großen
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
sagen der Erzieherin, dass ihnen der angebotene Tee nicht schmeckt. Was
ist zu tun? Die Erzieherin entscheidet sich, das Problem in der Kindergrup-
pe zu besprechen und gemeinsam mit den Kindern nach möglichen Lösun-
gen zu suchen. Es kann sein, dass ein Kind Tee von zu Hause mitbringt
oder die Oma eines Kindes im Garten Pfefferminze anbaut und etwas von
ihrer Ernte zur Verfügung stellt. Kinder und Erzieherin können aber auch
ein Teegeschäft im Stadtteil besuchen bzw. alternative Getränke suchen.
Aus diesen scheinbar kleinen Begebenheiten können weitere Projekte ent-
stehen, die die Selbstbildungsprozesse anregen (vgl. Abschnitt 3.1).
Die Öffnung zum sozialen Leben und zum Gemeinwesen hin schafft nicht
nur neue Lernorte, sondern bedeutet auch, die Nachbarschaft in die Kin-
dertageseinrichtung hineinzuholen und so den Dialog zwischen Erzieherin-
nen, Erziehern, Kindern, Eltern, dem Träger einer Kindertageseinrichtung
und der Stadt bzw. Gemeinde zu fördern. Das kann jedoch nicht bedeu-
ten, überkommene Metaphern wie »Das Kind ist König« oder »Der Kunde
(die Eltern) ist König« zur Grundlage des Dialogs und des Handelns zu
machen. Dieser Blick hebt Kinder und Eltern als Objekte auf einen Sockel
und behindert sowohl die Identifikation mit dem Gegenüber als auch die
Wahrnehmung des Gegenübers als Subjekt. In der Gestaltung des Mitei-
nanders als aktiver Prozess ist das Konzept der Anpassung veraltet. Die
aktive Teilnahme und Teilhabe werden nur in einem gemeinsamen, demo-
kratischen Prozess hervorgebracht werden können.
•
Welche Vision einer »demokratischen Kindertageseinrichtung« hat jede
einzelne Erzieherin/jeder einzelne Erzieher im Team?
•
Welche Vor- und Nachteile haben demokratische Entscheidungsprozesse
in der Kindertageseinrichtung?
•
Wird Kindern und Erwachsenen Wissen aus allen Quellen zur Verfügung
gestellt und nichts vorenthalten?
•
Müssen Kinder immer Mehrheitsentscheidungen folgen oder haben sie
Gelegenheiten, individuelle Entscheidungen zu treffen und mit den Kon-
sequenzen zu leben?
•
Was ist für euch eine Versammlung und was versteht ihr unter einer
Besprechung?
•
Welche Rechte und Pflichten haben Mädchen und Jungen in der Fami-
lie?
•
Wird die Freizeitgestaltung nur durch Eltern bestimmt oder richtet sie
sich auch nach Interessen und Wünschen der Kinder?
Soziale Bildung
72
Öffnung zum Gemein-
wesen schafft eine
neue Lernkultur
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
2.2.4 Anregungen zum Weiterdenken
Damm, Antje, 2002: Frag mich! 100 Fragen an Kinder, um miteinander ins
Gespräch zu kommen. Moritz Verlag, Frankfurt/M.
Caiati, Maria, 1999: Vertrauen lernen. Erfahrungen und Forderungen für
den Alltag im Kindergarten. Don Bosco Verlag, München.
Lipp-Peetz, Christine; Doyè, Götz, 1998: Wer ist denn hier der Bestimmer?
Das Demokratiebuch für die Kita. Beltz Verlag, Ravensburg.
Schröder, Richard, 1996: Freiräume für Kinder(t)räume. Kinderbeteiligung
in der Stadtplanung. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
Klein, Lothar, 2001: Wir hatten doch ausgemacht, dass... Mit Kindern
Regeln finden. In: Kindergarten heute, Heft 3/2001, S. 26-30.
Rohrmann, Tim; van Dieken, Christel, 2001: Junge sein ist besser: Kanns-
te alles machen. Was Mädchen und Jungen über Mädchen und Jungen
denken. In: Kindergarten heute. Heft 1/2, Freiburg, S. 30-35
Hier ist Platz für Fragen, eigene Ideen und Literaturhinweise:
Soziale Bildung
73
Basisstation
sichern und Tor zur
Welt öffnen
Aktivieren statt
Reagieren
Soziales Lernen
unterstützen
74
Soziale Bildung
2.2.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen in der Kindertagespflege
Die primäre Bezugsgruppe eines Säuglings bzw. Kleinkindes ist seine Her-
kunftsfamilie, die sehr unterschiedlich strukturiert sein kann, ihm jedoch
immer – neben anderen »Basisstationen« wie der Krippe oder der Kinder-
tagespflegestelle – als sichere »Basisstation« und »Tor zur Welt« dienen
sollte. Denn »je kleiner Kinder sind, um so nötiger brauchen sie Sicherheit
und Orientierung, damit sie sich in aller Ruhe auf den Weg begeben kön-
nen, sich und die Welt zu entdecken.« (Lill/Sportleder 2000, S. 69). Der
Aufbau einer sicheren Bindung und Vertrauensbasis zu anderen Menschen
– zunächst zu den eigenen Eltern und Geschwisterkindern, später zu ande-
ren Kindern und Erwachsenen – wird zu einem entscheidenden Faktor, der
Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes hat (vgl. Laewen
u. a. 2003, S. 25ff.). Zwar ist heute bekannt, dass die Notwendigkeit von
gleich bleibenden und ständigen Bezugspersonen be-steht, das heißt
jedoch nicht, dass es nur eine konstante Bezugsperson sein muss (vgl.
Deutsch-Heil/Malchow 1977, S. 40f.).
An diesen anderen Bezugspersonen lernen Kinder soziale Verhaltenswei-
sen. Sie sind ihnen Vorbild. Auch andere Kinder sind ihnen soziale Inter-
aktionspartner, mit und an denen sie lernen. Soziale Bildung, wird sie
als Beteiligung verstanden, kann nur im sozialen Nahraum von Kindern
geschehen. Dabei haben alle Erwachsenen Sorge zu tragen, dass Betei-
ligung möglich ist und kommunikative Prozesse des Aushandelns auf
gleicher Augenhöhe stattfinden. Beteiligung für die Altersgruppe der bis
zu drei Jährigen bedeutet vor allem, an etwas beteiligt zu werden und
aktiv zu sein. Hier tritt die enge Verflechtung der somatischen und kom-
munikativen Bildung deutlich hervor. Denn die Persönlichkeitsentwick-
lung und Entwicklung der Ich-Identität geht einher mit der körperlichen
und sprachlichen Entwicklung (vgl. SMS 2006, Abschnitt 2.1 und 2.3), die
nur unter aktiver Teilnahme des Individuums erfolgen wird. Die Voraus-
setzungen dafür müssen Erwachsene schaffen, in dem sie zurückhaltend
reagieren, aber nicht unbeteiligt am Geschehen sind. So beschreibt
Emmi Pikler: »Die Freude ist auch dann gemeinsam, wenn der Erwach-
sene nicht direkt am Erreichen einer neuen Position bzw. Bewegung
beteiligt war.« (Pikler 2001, S. 66). Zudem sollten Eltern angemessen an
der Eingewöhnung des Kindes in die fremde Umgebung der Kindertages-
pflegestelle oder auch der Krippe beteiligt werden, um den Übergang zu
erleichtern und problematischen Entwicklungen vorzubeugen (Laewen u.
a. 2003, S. 34ff.).
Miteinander vertraut zu werden ist nicht per se gegeben, sondern ist ein
Gefühl, dass sich erst nach und nach einstellt, etwa durch aufmerksames
Miteinander beim Baden, Wickeln oder Spielen. Die Fähigkeit des Kindes
zum eigenständigen Positionswechsel (Rücken- oder Bauchlage, Krabbeln,
Stehen, Gehen, Laufen) bedeutet zugleich die selbstständige Kontaktauf-
nahme mit der Umwelt. Diese Fähigkeit ist ganz entscheidend für das
Erkunden der Umwelt und der Mitmenschen in ihr. Dazu bedarf es eines
Perspektivwechsels der Erwachsenen, damit Mädchen und Jungen nicht als
hilflos, inaktiv und ungeschickt angesehen werden, sondern als eigenakti-
ve Individuen, die mit Kompetenzen ausgestattet sind (vgl. Pikler 2001, S.
66 und 172f.; SMS 2006, Abschnitt 1.2).
Spielräume sind (soziale) Entwicklungsräume, in denen Kinder allein und
mit anderen sich selbst und die sie umgebenden Dinge entdecken kön-
nen. Andere Personen, mit denen sie Kontakt suchen und soziale Bezie-
hungen herstellen wollen, tauchen erst später in der bewussten Wahrneh-
mung auf. Säuglinge und Kleinkinder probieren aus, wiederholen
bestimmte Tätigkeiten und Handlungen unzählige Male, um zu sehen, ob
immer wieder derselbe Effekt auftritt, sie nehmen Dinge von anderen an
und lernen mit anderen zu teilen, abzugeben und sich zu unterstützen.
Somit erfahren Kinder Bildung spielerisch auf unterschiedlichen Ebenen.
Der kindliche Egozentrismus verblasst nach und nach. Auch wenn das
gemeinsame Spielen eher wie ein Nebeneinander-Spiel aussieht, bewirkt
es eine erste Einübung von kooperativem Verhalten in Gruppen (vgl. van
Dieken 2002, S. 15).
Soziale Regeln werden somit vorrangig im Spiel untereinander erlernt.
Dabei geht es um die Herstellung von Kontakten, um den Tausch von
Spielsachen und um die Lösung von Konflikten und Problemen (vgl. Weiß
u. a. 2002, Abschnitt 25, S. 3ff.). Der Vorteil kleinerer Spielgruppen über-
wiegt, denn es wird mehr gesprochen, die Aufmerksamkeit für einander
ist größer und es entstehen mehr Spielideen, die von Als-ob-Spielen bis
hin zu Rollenspielen reichen.
Rituale und Feste sowie die tägliche Begrüßung bzw. Verabschiedung (vgl.
Laewen u. a. 2006, S. 50ff.) sind gerade für kleine Kinder wichtige Orientie-
rungspunkte auf ihrer »Basisstation«, die gemeinsam mit ihnen ausgehan-
delt und gestaltet werden sollten (vgl. SMS 2006, Abschnitt 2.2.3).
Räume für Begegnungen und Rollenspiele sollten mit Verkleidungsuten-
silien, mit Taschen, Schuhen, Hüten, Tüchern und Materialien zum Stapeln
und Transportieren (wie Dosen und Töpfe) bzw. Materialien zum Einfüllen
und Ausleeren, Kartons und Handpuppen ausgestattet sein (vgl. van Die-
ken 2002, S. 17; von der Beek 2006).
Jedes Kind lernt durch die Interaktion mit anderen verschiedene Perspek-
tiven, Rollenmuster, Lebensentwürfe und -räume, kennen. Darüber hinaus
lernt es die Familie und ggf. die Nachbarn der Kindertagespflegeperson
als Teil einer (Haus-)Gemeinschaft kennen (vgl. SMS 2006, Abschnitt 1.7).
Dies bedeutet, dass »das Fremde« von Beginn an zur Welt des Kindes
gehört wie fremde Menschen, Gegenstände oder die Umgebung; es
begegnen ihnen Kinder und Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigun-
gen, mit unterschiedlichen Kompetenzen oder Menschen aus verschiede-
nen Ländern und Kulturkreisen. Jede Unterschiedlichkeit sollte bereits im
Kleinstkindalter als Bildungspotential erkannt und nutzbar gemacht wer-
den. Heterogenität, das heißt Unterschiedlichkeit, bedeutet dann gleicher-
maßen das Erleben und Leben von Akzeptanz und Toleranz sowie gegen-
seitige Rücksichtnahme und Hilfe. Homogenität kann in diesem Alter keine
»neuen Tore zur Welt öffnen« und hemmt die soziale Entwicklung.
In Auseinandersetzung mit Fragen wie »Wer bin ich?«, »Wer sind die ande-
ren?« kann sich Ich-Identität ausprägen. Spiegel, in denen sich die Kinder
Soziale Bildung
75
Spielräume als soziale
Entwicklungsräume
Rituale als feste
Bezugspunkte im
gemeinsamen Leben
schaffen
Reichtum der
Unterschiede
wahrnehmen
in voller Größe betrachten können, laden zur Beantwortung dieser Fragen
ein und ermöglichen ein Sich-Selbst-Erkunden. Räume sollten darüber hin-
aus so gestaltet sein, dass die Spuren der Kinder in ihnen erkennbar sind.
Kinder sollten sich selbst – über ein Foto, einen Gegenstand, eigene aus-
gestellte Arbeiten – in den Räumen wieder finden, damit sie erkennen: Ich
habe hier einen Platz, ich werde hier angenommen. Dies kann auf ver-
schiedene Art und Weise geschehen, zum Beispiel durch Kennzeichnung
von Garderobenhaken mit Fotos der Kinder, Fotos der Kinder im Raum,
persönliches Bettzeug, eigene Trinktasse, wichtige »Übergangsobjekte«
(Schnuller, Schmusetuch oder -tier), Schatzkisten für persönliche Samm-
lungen der Kinder oder ein in Augenhöhe der Kinder angebrachter Sam-
meltisch der Gruppe für Gegenstände, die von Erkundungstouren mitge-
bracht werden (vgl. van Dieken, S. 16; von der Beek u. a. 2006; SMS 2006,
Abschnitt 2.6.6).
Soziales Miteinander in der Kindergruppe wird ebenso durch die Vermittlung
von Werten bestimmt. Für die Bildungsarbeit mit Kleinkindern bedeutet dies
ein Sich-Vertraut-Machen mit Werten und dem respektvollen Umgang mitein-
ander. Die Beziehung einer Kindertagespflegeperson zum Kind sollte durch
folgende Verhaltens- und Handlungsweisen geleitet werden:
•
die Würde des Kindes achten und respektieren,
•
jedes Kind wertschätzen,
•
Offenheit und Mitgefühl zeigen,
•
partnerschaftlich miteinander umgehen,
•
Interessen und Bedürfnisse des Kindes erkennen und darauf eingehen,
•
bei Kontaktaufnahme und Konfliktbewältigung unterstützen,
•
Trost bei Niederlagen oder Ungerechtigkeit spenden (vgl. van Dieken
2002, S. 12f.).
Diese Grundhaltungen sind notwendig, damit Erwachsene in vielerlei Hin-
sicht ein Vorbild für Kinder sind (vgl. SMS 2006, Abschnitt 1.7).
Auf diese Art und Weise lernt das Kind, dass es Bestätigung erfährt, wenn
es eigene Wege beschreitet und selbstständiger wird. Es lernt, dass eige-
ne Entscheidungen respektiert werden, beispielsweise beim Essen oder
Schlafen. Es lernt, die ihm angebotenen Möglichkeiten zur Entfaltung sei-
ner selbst zu nutzen und auszuwählen, was ihm gut tut und was nicht. Es
lernt zu verstehen, was anderen gut tut und was nicht, was andere gern
mögen, wie man ihnen helfen kann. Kleine Gesten oder Tätigkeiten, zum
Beispiel Essen zuzubereiten oder den Tisch zu decken, erfüllen Kinder mit
Freude und sind ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit. Gerade hier
können kleinere Kinder von älteren und Erwachsenen lernen und spiele-
risch Handlungen abschauen. Denn eine demokratische und mündige
Grundhaltung kann nur der entwickeln, der sie täglich bei anderen erlebt.
So lernt das Kind am Modell. Dies trifft auch auf die Gestaltung der Bezie-
hung mit den Eltern zu.
Soziale Bildung
76
Werte und
Weltanschauungen
Vom Ich zum Anderen
2.2.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen im Hort
Der Umgang zwischen Eltern, pädagogischen Fachkräften und Kindern und
die Pluralisierung von Lebensformen erfordern sowohl hohe Anpassungs-
leistungen von Mädchen und Jungen an veränderte Lebensbedingungen
als auch flexible Gestaltungsspielräume. Dies hat Auswirkungen auf die
Gestaltung des täglichen Zusammenlebens. Eltern beteiligen ihre Kinder
immer mehr an familiären Entscheidungen, beispielsweise bei der Wahl
des Urlaubsortes, der Wahl der Schule oder der Wahl einer Mitgliedschaft
in außerschulischer Arbeitsgemeinschaften sowie zunehmend bei Entschei-
dungen für Anschaffungen oder bei Absprachen zur Höhe bzw. der Auszah-
lungsmodalität des Taschengeldes. Diese und ähnliche Aushandlungspro-
zesse zwischen Kindern und Eltern finden überwiegend auf gleicher
Augenhöhe statt und ermöglichen es Kindern, an der »Welt der Erwachse-
nen« teilzunehmen.
Pädagogische Fachkräfte in Horten sollen diese Kompetenzen der Kinder
nutzen bzw. deren Erlangung fördern, indem sie adäquate Beteiligungsfor-
men ermöglichen (zum Beispiel Kinderparlament, Kinderkonferenz, Mög-
lichkeiten der Gruppenarbeit bei Hausaufgaben), gemeinsam mit Kindern
Entscheidungen des außerschulischen Lebens aushandeln und konstruk-
tive Konfliktlösungen im Hortalltag unterstützen. Kinder und Erwachsenen
können beispielsweise gemeinsam eine Hausordnung schreiben oder Ver-
haltensregeln zur Streitschlichtung aufstellen. »Wird Partizipation im Sinne
einer Alltagspartizipation verstanden, dann ist dies ein Beitrag, um mit
Kindern im Alltag Demokratie zu (er-)leben. Für die sozialpädagogischen
Fachkräfte bedeutet das, dass sie einerseits deutlich Position beziehen
müssen und andererseits Kindern Raum lassen, eigene Wege zu gehen.«
(Strätz u. a. 2003, S. 56).
Die Träger von Horten und die örtliche Jugendhilfeplanung müssen Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass »echte« Beteiligung in den Kommunen
möglich wird: in einer Kindertageseinrichtung, einem Hort oder einer Schu-
le genauso wie bei Aktionen und Projekten in der Gemeinde (Gestaltung
von Spielflächen, Räumen und Feierlichkeiten). Kinder können so ihrer
Phantasie und Kreativität freien Lauf lassen, ihren Durst nach Informatio-
nen und ihre Neugierde stillen, sich sprachlich entwickeln (Wortschatzer-
weiterung), Freude am Dialog und an sprachlicher Auseinandersetzung fin-
den und durch aktives Handeln in realen Situationen ihre Identität entwi-
ckeln. Die gemeinsame Gestaltung der alltäglichen Abläufe und des päda-
gogischen Programms, die möglichst selbstständige Aufzeichnung ihrer
Lerngeschichten, aber auch eine Öffentlichkeitsarbeit in Eigenregie der Kin-
der und die selbstständige Planung von Aktivitäten und Projekten durch
Mädchen und Jungen unterstützen ihr Streben nach Selbstorganisation und
Partnerschaftlichkeit (vgl. Strätz u. a. 2003, S. 57; Hövel 1995, S. 46ff.).
Zwischen Familie und Schule als institutionell und funktional geregelte
Orte liegt der sozialökologische Nahraum als »bewegliche Zone« mit
wenig exakten Abgrenzungen, vielfältigen und freien Verhaltensangeboten
und Kommunikationsmöglichkeiten. Es sind soziale Räume, in denen Kinder
Soziale Bildung
77
Aushandlungsprozesse
auf gleicher
Augenhöhe zulassen
Vielfältige Beteiligung
ermöglichen
Selbstorganisation und
Partnerschaftlichkeit
fördern
Neustrukturierung von
Beziehungen
Kontakte zu Gleichaltrigen knüpfen. »Die Erfahrung, mit Altersgleichen
etwas unternehmen zu können, ist neu, erfreulich und stimulierend. Kein
Wunder, dass Kinder in das neu gefundene Gruppenklima eintauchen wie
in eine neue Welt, die sie mit Leidenschaft erobern und aus der sie sich
nicht ohne weiteres von den Erwachsenen herausholen lassen.« (Baacke
1995, S. 269f.). Mädchen und Jungen erschließen sich auf diese Art und
Weise neue Dimensionen für soziales und personales Wachstum. Das
Beziehungsgeflecht zwischen Älteren und Jüngeren verändert sich, indem
die Häufigkeit der Kontakte mit Erwachsenen abnimmt und die Orientie-
rung an Gleichaltrigen zunimmt. Zugleich wünschen sie sich Erwachsene,
denen sie (sich wenn nötig an-)vertrauen können. Das ist Antrieb und Vor-
aussetzung für die eigene Entwicklung. Trotz altersgemischter Gruppen soll
für Jungen und Mädchen die Möglichkeit bestehen, sich in geschlechts-
und altershomogenen sowie themenzentrierten Kleingruppen zusammen-
zufinden. Das setzt voraus, dass Kinder Freiräume und das Vertrauen der
jeweiligen Partner/innen (Kinder und Erzieher/innen) erfahren, um selbst-
ständiges und verantwortliches Handeln erproben zu können und Lebens-
situationen mitgestalten zu lernen.
Allerdings darf nicht unterschätzt werden, dass der Weg, eine intensive
Beziehung zu einem selbstgewählten Partner/einer selbstgewählten Part-
nerin aufzunehmen, lang und nicht zuletzt von räumlichen und zeitlichen
Gegebenheiten abhängig ist. Kinder sind bereits in früheren Jahren in der
Lage, freundschaftliche Gefühle zu empfinden, auch wenn sie manchmal
augenblicksbezogen scheinen. Jüngere Kinder verbinden mit Freundschaf-
ten eher das Teilen materieller Güter und Aktivitäten, die Spaß machen.
Ältere Kinder hingegen legen eher Wert auf Gedanken und Gefühle auf der
Basis gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Zuneigung. Die Entste-
hung der Freundschaft unter Kindern, die Ausweitung des sozialen Netzes
und der flexible Wechsel zwischen Gruppen als auch zwischen sozialen
Bezügen, sind eingebettet in die tägliche Routine. Zugleich benötigen
Mädchen und Jungen (Spiel-)Räume, in denen sie sich entfalten sowie das
Aushandeln lernen können. »Die Aushandlungen sind deswegen so
schwierig, weil die Kinder mit ihren Wünschen und Erwartungen tatsäch-
lich nicht gleich und – jedenfalls zunächst und zumeist – auch nicht bereit
sind, geduldig ihre Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Sie urteilen
vielmehr einseitig, werden schnell erregt und grob und neigen auch zum
Drohen und sogar zum Schlagen. Sie streiten so oft, dass man den ge-
samten Lebensabschnitt auch die Streitphase nennen könnte. In ihr muss
man etwas lernen, was jeder beherrschen sollte, das Aushandeln in rela-
tiv offenen Situationen von gleich zu gleich.« (Krappmann 2000, S. 135).
Soziale Bildung
78
Entdeckendes und
soziales Lernen
2.3 Kommunikative Bildung
2.3.1 Fachliche Einführung
Soziales Miteinander ist wesentlich an Kommunikation gebunden. Sich
ausdrücken und mitteilen, anderen zuhören und sie verstehen, Botschaf-
ten senden und Symbole entschlüsseln sind unauflöslicher Bestandteil
des sozialen Zusammenlebens und des sozialen Handelns. Das gemeinsa-
me Leben der Menschen ist wie die Bildung des einzelnen Kindes ohne
Sprache und Kommunikation nicht denkbar. Schon das Neugeborene
besitzt die Fähigkeit und das Bedürfnis zum kommunikativen Austausch
mit der Mutter, dem Vater und anderen nahen Bezugspersonen. Wenn
Menschen sich begegnen, gilt daher Watzlawicks bekannter Satz: »Man
kann nicht nicht kommunizieren!« Dies gilt selbst in Situationen, in denen
bewusst nicht auf ein Gesprächsangebot eingegangen wird. Wird eine
Erzieherin/ein Erzieher von einem Kind angesprochen, ohne darauf zu rea-
gieren, dann sendet sie eine Vielzahl möglicher Botschaften aus, die den
Mädchen und Jungen zur Deutung überlassen bleiben, zum Beispiel: »Ich
bin gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt.« »Ich habe zuviel zu tun und
jetzt keine Zeit für dich.« »Ich interessiere mich nicht für dich.« »Lass mich
in Ruhe!«
Kommunikation ist ein Prozess, sich mit sich selbst oder anderen verstän-
digen zu können. Mädchen und Jungen erwerben Fertigkeiten, sich mit
anderen auszutauschen, zu kooperieren, Interaktionen wechselseitig zu
interpretieren und auf Ereignisse zu reagieren, um als Individuum hand-
lungsfähig zu bleiben. Wesentlich ist, dass dabei nicht nur Kinder und
2.3 Kommunikative Bildung
Soziales Miteinander
ist Kommunikation
81
Alltagsorientierung
statt Sprachförder-
programme
Dialog als gelungene
Kommunikation
82
Kommunikative Bildung
Erwachsene miteinander in Beziehung treten, sondern als Mädchen und
Jungen bzw. Frauen und Männer mit jeweils eigenen Bedürfnissen mitei-
nander kommunizieren.
Während Kommunikation allgegenwärtig ist, scheint die bewusste Gestal-
tung von Kommunikationssituationen zur Bildung der Kommunikationsfä-
higkeit und zum Erwerb der Kommunikationstechniken Sprache, Schrift
und Medien im Alltag von Kindertageseinrichtungen keineswegs selbstver-
ständlich zu sein. Untersuchungen ergaben, dass Erzieher/innen erstaun-
lich wenig mit den Kindern sprechen. Ebenso erscheinen Kindertagesein-
richtungen häufig als eine »schriftfreie Zone«, in der kaum Anreize für
Erfahrungen mit Schrift geboten werden und in der die wenigen vorhan-
denen Bücher unbeachtet bleiben (vgl. Rosebrock 2003). Insbesondere
Kinder mit Bildungsrisiken, die in der Familie wenig bedeutsame Kommu-
nikation erfahren, erhalten oft auch in der Kindertageseinrichtung keine
adäquate soziale und sprachliche Förderung (vgl. Fried 2002, S. 246).
Die besondere Art und Weise der kommunikativen Bildung – der Dialog –
geht im Alltag von Kindertageseinrichtungen häufig unter. Dabei bieten die
vielfältigen Aktivitäten im Tagesverlauf zahlreiche Anlässe für Gespräche,
für die Auseinandersetzung mit Symbolen und Schrift und für den Einsatz
von Medien, die Anregungen und Impulse für Bildungsprozesse ermögli-
chen. Kommunikative Bildung geschieht jedoch nicht isoliert, als eigen-
ständiger Bereich oder als »Fach«. Sie ist in Spiel-, Erlebnis- und Bewe-
gungssituationen eingebettet und mit der Gestaltung des gesamten sozia-
len Miteinanders in der Kindertageseinrichtung verschränkt. Zugleich ent-
hält jede Kommunikation auch eine ästhetische Komponente: Schriftzei-
chen müssen gestaltet und wahrgenommen werden, Sprechen muss
gekonnt und gehört werden. Säuglinge können von Beginn an die »Melo-
dien« von Lauten, Worten und Sätzen erkennen. Sie sind für Schäfer daher
»bereits Laut-, Wort- und Satzmusiker, noch bevor sie die ersten Wörter
sprechen« (Schäfer 2003, S. 97).
2.3.2 Leitbegriff Dialog
Im Gegensatz zur Allgegenwart von Kommunikation ist der »Dialog« etwas
Besonderes. Es handelt sich um eine gelungene Form von Kommunikation,
die Anforderungen wie einander zuhören können, sich selbst und den
Anderen beobachten, Offenheit und Vertrauen voraussetzt (vgl. Hartke-
meyer/Dhority 1998, S. 78ff.). Der Dialog zielt auf die kommunikativen
Ideale der Gegenseitigkeit, des wechselseitigen Austauschs und der Aus-
handlung auf gleicher Augenhöhe. Er ist etwas Seltenes und Anspruchsvol-
les, aus dem Kriterien für die bildungswirksame Gestaltung von Kommu-
nikationssituationen gewonnen werden können. Deshalb dient der Dialog
als Leitbegriff für den Bereich der kommunikativen Bildung, und stellt
zugleich Verbindungen zu den anderen Leitbegriffen des Bildungsplans her.
Fragt man Kinder, was sie vom »Miteinander reden« halten, dann zählen
sie häufig negative Assoziationen auf, die um zwei Pole kreisen: »Mitei-
nander reden« heißt erstens Streit unter Kindern und zweitens Ärger mit
Vom Egozentrismus
zum Perspektiv-
wechsel
Eine dialogische
Gesprächskultur muss
erst hergestellt werden
Dialog als Horizont-
erweiterung
83
Kommunikative Bildung
Erwachsenen. Bildung zum Dialog ist voraussetzungsvoll. Nach den Er-
kenntnissen der Entwicklungspsychologie erfordert sie zunächst eine
Abkehr vom frühkindlichen »Egozentrismus«. Das Kind muss lernen, zwi-
schen seinen Vorstellungen, Wünschen und Gedanken und denen der an-
deren zu unterscheiden. Miteinander reden verlangt die Fähigkeit, sprach-
liche Äußerungen und unterschiedliche Standpunkte und Vorstellungen
von Gesprächspartnern miteinander zu verknüpfen. Es erfordert ein Be-
wusstsein vom eigenen Ich und der eigenen Identität, die sich als vom
Anderen abgegrenzt erfährt und sich dem Anderen zugleich gezielt zuwen-
det, dessen Aufmerksamkeit beansprucht und dessen Perspektiven be-
rücksichtigt. »Dezentrierung« und Perspektivwechsel sind zentrale Ele-
mente des Dialogs. Das Kind lernt, dass es nicht allein im Mittelpunkt
steht. Die Täuschung der ersten Lebensmonate, dass sich alles um es
selbst dreht, weicht einer Ent-Täuschung, die nicht ohne Konflikte und
Streit auskommt. Bildung zum Dialog ist anstrengend und unbequem. Sie
kann nur in einem Selbstbildungsprozess erworben werden, der jedoch
durch Situationen befördert werden kann, in denen möglichst alle glei-
chermaßen am Gespräch beteiligt sind und in denen die Äußerungen des
Gegenübers ernst genommen und akzeptiert werden.
Auch Erwachsene sind mit dem frühkindlichen Egozentrismus konfrontiert.
Die Kommunikation der Eltern und Erzieher/innen mit Kindern ist deshalb
oft davon geprägt, Kinder in ihre Schranken zu verweisen, ihnen Grenzen
aufzuzeigen und sie zu reglementieren. In Verbindung mit der Stärke und
Macht, die Erwachsene über Kinder haben, entsteht daraus allerdings
schnell eine asymmetrische Kommunikationshaltung, in der Erwachsene
dazu neigen, den Gesprächsverlauf stark zu kontrollieren und Kinder we-
nig »zu Wort« kommen zu lassen. Der Dialog kommt dabei zu kurz, und
das miteinander Reden wird für Kinder unbefriedigend und »ärgerlich«.
Das Erlernen der kommunikativen Fertigkeiten zum Dialog erfordert aller-
dings eine dialogische Gesprächskultur, die auch für Erwachsene voraus-
setzungsvoll ist. Sie erfordert ein Sich-Einstellen auf die Interessenlage
und die Bedürfnisse der Kinder sowie genügend Raum für den Selbstaus-
druck und die Selbstartikulation der Kinder (vgl. Fried 2002, S. 346).
Der gelingende Dialog verspricht Gewinn und Bereicherung, was die Kin-
der durch positive Assoziationen wie »miteinander quatschen, zuhören,
sich verstehen und sich nahe kommen« zum Ausdruck bringen. Die Aner-
kennung durch andere, die Freude am wechselseitigen Verstehen, die Ent-
deckung von Übereinstimmungen und die Wahrnehmung von Selbstwirk-
samkeit durch die Beeinflussung des Gegenübers sind soziale Erfahrun-
gen, die der Dialog ermöglicht. Der seine Mutter anlächelnde Säugling
kann über die Erwiderung seines Lächelns durch die Mutter in spürbare
Begeisterung ausbrechen.
Der Dialog enthält die Chance zum sozialen Austausch mit Gleichaltrigen
und mit Angehörigen anderer Generationen sowie zur gleichberechtigten
Teilhabe. Er eröffnet eine Vielfalt an sozialen Erlebnissen und Erfahrungen,
die den begrenzten Horizont der eigenen Welt und des bereits vorhande-
nen Wissens überschreiten lassen. Bildung zum Dialog ist ein unverzicht-
bares Fundament aller anderen Bildungsprozesse, ein »Entwicklungsmo-
tor« für die Gesamtentwicklung des Kindes (vgl. Peter 1998, S. 51). Dabei
Kommunikation als
Schlüssel zur Welt
84
Kommunikative Bildung
geht es nicht nur um Sprachförderung, sondern auch um die nonverbale
Kommunikation und die Kommunikation mit Hilfe von Schrift und Medien.
Zugleich lassen sich verschiedene Dialogebenen unterscheiden: die Ebene
zwischen Kind und Erwachsenen, die Ebene der Kinder untereinander und
schließlich die Ebene des Dialogs zwischen Kind und Welt.
•
Welche Rolle spielt der Dialog im Team?
•
Gibt es eine besondere Gesprächskultur in der Einrichtung?
•
Wie lassen sich Teamgespräche in den Tagesablauf einfügen?
•
Gibt es Ecken und Nischen für ruhige Gespräche in kleinen Gruppen so-
wie zwischen Erzieher/innen und Kindern?
•
Wie viel Raum erhalten Mädchen und Jungen im Gespräch mit den päda-
gogischen Fachkräften?
•
Wem höre ich gerne zu und wem nicht? Woran liegt das?
•
Worüber finden Gespräche mit Müttern und Vätern statt?
•
Welche Eltern sind in einen Dialog einbezogen, und wie sieht der Dia-
log mit den Eltern aus?
2.3.3 Inhalte des Bereichs
Nonverbale Kommunikation
Da Kinder im Verlauf der Entwicklung Sprache erst erlernen müssen, stellt
die nonverbale Kommunikation den Ausgangspunkt der kommunikativen
Bildung dar. Im Zentrum frühkindlicher Kommunikationssituationen steht
der Dialog mit einer nahen Bezugsperson (häufig der Mutter), in dem das
Kind die Körperbewegungen und Geräusche des Gegenübers wahrnimmt,
in mimetischen Wiederholungen nachzuahmen versucht und durch eigene
Artikulationen Reaktionen des Kommunikationspartners provoziert (vgl.
Gebauer/Wulf 1998). Im Dialog eignet sich das Kind einen »Mikrokosmos
aus Gesten, vertrauten mimischen Äußerungen« und »Laut-, Wort- und
Satzmelodien« an (Schäfer 2003, S. 100). Mitteilen und Wahrnehmen,
kommunikative und ästhetische Bildung sind dabei wechselseitig aufei-
nander bezogen.
Auch verbale und nonverbale Äußerungen werden als miteinander verwo-
ben wahrgenommen. Sprechen muss zuallererst körperlich erlernt werden
(als Muskel-, Atmungs- und sprechmotorische Regulation), was durch
Bewegungs-, Rhythmus- und Musikspiele unterstützt werden kann. Gestik
und Mimik verdeutlichen vor allem Stimmungen und Gefühle. Vor dem Ver-
stehen von Worten spüren Kinder in den nonverbalen Anteilen der Kom-
munikation die Beziehung, die Ablehnung oder Anerkennung durch das
Gegenüber, und sie bringen selbst ihre Gefühle und Bedürfnisse auf non-
verbale Weise (durch Schreien, Gesten, Laute) zum Ausdruck (vgl. Bröder
1999, S. 14f.). Zugleich bezieht sich der Dialog auf ein Drittes: auf Gegen-
stände und Ereignisse aus der Umwelt, die mit Äußerungen verknüpft wer-
Bildung benötigt
Situationen gelassener
und neugieriger
Aufmerksamkeit
Kinder sind
»Spracherfinder«
85
Kommunikative Bildung
den. Gestik, Mimik und Worte sind zunächst an den konkreten szenischen
Zusammenhang gebunden. Über die wechselseitige Abstimmung im Dia-
log verdichten sie sich zu emotionalen Bewertungen und sinnhaften
Bedeutungen.
Das Kind benötigt dazu Situationen »gelassener, aber neugieriger Auf-
merksamkeit«, die dann entstehen, wenn die grundlegenden Bedürfnisse
gestillt, das Kind aber noch nicht müde ist (vgl. Schäfer 2003, S. 99). Der-
artige Momente der »Muße« sind Ursituationen von Bildung (vgl. Bourdieu
1998). Sie eröffnen die Chance eines distanzierten Sich-Einlassens auf die
Umwelt, in dem neue Fähigkeiten und Kenntnisse erprobt und angeeignet
werden können. Die Erzeugung und produktive Nutzung solcher Mußesi-
tuationen ist vor allem in der Förderung von Bildungsprozessen im Krip-
penalter, in dem der Dialog mit der erwachsenen Bezugsperson eine zen-
trale Rolle spielt, von unschätzbarer Bedeutung.
Die Abstimmung mit der Umwelt macht das Erlernen von nonverbaler Kom-
munikation und Sprache einerseits zu einem sozialen Prozess, der an
soziale Situationen gekoppelt ist. Der Charakter der Beziehungen und die
Bedeutungshaltigkeit der Dialoge sind wesentlich für die Aneignung von
sprachlichen und nonverbalen Ausdrucksformen. Andererseits kann Spra-
che ebenso wie nonverbale Kommunikation nicht beigebracht werden. Sie
entsteht in einem Selbstbildungsprozess, in dem das Kind ausgehend von
seinen Hörerfahrungen eigene Wörter und Sätze konstruiert und an die
Sprachkonstruktionen seiner Umwelt anpasst. Jedes Kind »erfindet« Spra-
che neu; und es differenziert und »sozialisiert« seinen Sprachgebrauch im
Dialog mit seiner sozialen Umwelt. Bedeutsame Dialoge, die in sinnvollen
Kommunikationssituationen stattfinden und in bedeutungsvolle Beziehun-
gen eingebettet sind, bilden damit das wichtigste Element der Sprach-
und Kommunikationsförderung (vgl. Kolonko 1996, S. 123).
•
Wann entstehen im Alltag »Mußesituationen« für einen Dialog mit Kin-
dern?
•
Welche Rolle spielen nonverbale Signale bei der Wahrnehmung der
Befindlichkeit von Mädchen und Jungen?
•
Mit welchen Materialien (zum Beispiel Puppen, Kuscheltiere) kann der
nonverbale Dialog angeregt werden?
•
Wie wird auf Äußerungen von Mädchen und Jungen reagiert?
•
Wie wird mit sprachlichen »Erfindungen« der Kinder umgegangen? Wie
stellen sich Kinder als Mädchen und Jungen dar?
•
Woran kannst du erkennen, ob jemand fröhlich oder traurig ist?
•
Was berichten Eltern von der Entwicklung ihres Kindes?
•
Welcher »nonverbale Dialog« ist zwischen Eltern und Kind zu beobachten?
Sprache
Mit dem Übergang zur Sprache eröffnet sich dem Kind ein weiterer Hori-
zont. Das Entdecken der symbolischen Funktion ermöglicht es, die Kom-
munikation vom konkreten Erfahrungszusammenhang abzulösen. Man
kann über Dinge und Personen sprechen, die nicht unmittelbar anwesend
sind. Und man kann von Erlebnissen und Dingen hören, die man nicht
selbst erlebt oder gesehen hat, die man sich aber in Gedanken und in der
Phantasie vorstellen kann. Dies erfordert eine Abstraktionsleistung, die
über den eigenen Erfahrungsrahmen hinaus weist und auf Denkmodelle
der sozialen Umwelt und der umgebenden Kultur Bezug nimmt. Die Begeg-
nung mit Sprache beinhaltet zugleich die Begegnung mit der Kultur: mit
den Regeln und Normen der Sprachverwendung, mit Traditionen des Er-
zählens und Konstruierens von Geschichten und mit »Skripts« oder szeni-
schen Figuren, die aus alltäglichen Erfahrungen abgeleitet sind und die
einen mentalen Rahmen für Gespräche und für soziales Handeln bilden
(vgl. Peter 1998, S. 58). Der Übergang zur Sprache erweitert den konkre-
ten Dialog um Einflüsse des Dialogs mit der Welt.
Die enge Verbindung zwischen Spracherwerb und primären Sozialbezie-
hungen macht es notwendig, der Muttersprache eine hohe Aufmerksam-
keit zu schenken. Erst von einem differenzierten Gebrauch der Erstsprache
aus können sprachliche Erfahrungen in anderen sozialen Situationen und
in anderen Sprachen adäquat eingeschätzt und angeeignet werden. Dies
ist vor allem bei Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache zu berücksich-
tigen. In dem Zusammenhang spielt auch das Erlernen der sozialen Regeln
der Sprache eine wichtige Rolle: Die Kinder in der Kindertageseinrichtung
sprechen zum Teil unterschiedliche Dialekte und Sprachen, sie benutzen in
ihren Familien verschiedene Ausdrucksweisen, und die Dinge, die gesagt
oder nicht gesagt werden dürfen, variieren je nach Situation (zu Hause, in
der Kindertageseinrichtung) und Gesprächspartner/innen (Erwachsene, Kin-
der). Erwachsene fungieren dabei als Sprachvorbilder – eine Rolle, die zum
Beispiel in der Kindertageseinrichtung gut zu beobachten ist, wenn Kinder
die Redensarten, Floskeln und Ermahnungen ihrer Erzieherinnen und Erzie-
her in Gesprächen miteinander anwenden.
Ein zentrales Medium für den Spracherwerb ist das Spiel. Das Spiel stellt
eine Übergangsform dar, in der sich die Bedeutung des Wortes vom
Gegenstand loslösen kann (vgl. Bürki 1998, S. 38f.). Symbol- oder Als-Ob-
Spiele eröffnen einen Weg zur »Dekontextualisierung«, das heißt, die Kin-
der lernen, zwischen der konkret wahrnehmbaren Spielhandlung und der
Bedeutung der Spielhandlung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bie-
tet zugleich Raum für die Entwicklung von Phantasie, Kreativität und eige-
nen Wünschen. Dass dieser Abstraktionsprozess ein langer Weg ist, ver-
deutlicht ein Beispiel von Zollinger: Noch fünfjährige Kinder antworten auf
die Frage, was ein langes Wort sei, zum Beispiel mit »ein Stuhl, der lange
Beine hat« (vgl. Zollinger 1998, S. 234).
Im Rollenspiel gewinnt der Dialog unter Kindern eine eigenständige
Bedeutung. Kinder handeln untereinander Regeln aus, sie vollziehen Indi-
viduations- und Identifikationsprozesse, die zur Identitätsentwicklung bei-
tragen. Und sie müssen die eigenen Intentionen mit den Interessen ande-
Kommunikative Bildung
86
Sprache erweitert den
Dialog mit sich und
der Welt
Bedeutung der Mutter-
sprache erkennen und
berücksichtigen
Sprache und Spiel
rer abstimmen, was Prozesse der Dezentrierung und des Perspektiven-
wechsels fördert. Dabei lernen sie Formen und Regeln des sprachlichen
Dialogs; sie entdecken, »wie man durch Sprache etwas beim Gegenüber
bewirken kann« (Peter 1998, S. 50f.).
Im Gespräch über das Spiel (über Spielregeln und Spielinhalte) erwer-
ben Kinder schließlich Fähigkeiten zur Metakommunikation. Der spieleri-
sche Dialog unter Kindern enthält vielfältige Kommunikations- und Aus-
handlungssituationen, die auf ganzheitliche Weise kommunikative Kompe-
tenzen fördern. Streit und Konflikte sind Elemente dieses Prozesses.
Zugleich muss die Erzieherin/der Erzieher Kinder in Gruppenprozessen un-
terstützen, wo sie durch Beobachtungen erkennt, dass sie der Situation
nicht gewachsen sind und durch verbale Auseinandersetzungen überfor-
dert werden.
Ein weiteres Medium zur Sprachförderung ist das thematische Arbeiten.
Erst gemeinsame Erlebnisse und Aktivitäten stiften bedeutungsvolle Anlässe
und Inhalte für Gespräche. Sprachförderung durch Dialoge kann integraler
Bestandteil von Projekten, Exkursionen und Spielen zu verschiedenen Bil-
dungsbereichen sein. Beispielsweise bietet eine gemeinsame Naturerkun-
dung im Wald vielfältige Gesprächsanlässe sowie eine gemeinsame Erfah-
rungsbasis, an die auch im Nachhinein nochmals angeknüpft werden kann
(vgl. Kolonko 1996, S. 153). Sprachförderung ist in den Alltag eingebettet.
Es geht darum, für Sprechanlässe sensibel zu sein und Mädchen und Jun-
gen, bei denen Sprachbarrieren zu erkennen sind, zur Beteiligung am Dia-
log zu ermutigen.
Schließlich kann durch gemeinsame Gesprächskreise und Besprechungen
in der Kindertageseinrichtung zur kommunikativen Bildung angeregt wer-
den. Die Planung der Tagesaktivitäten, die Regeln in der Gruppe oder die
gesamte Einrichtung betreffende Themen sind Gegenstände gemeinsamer
Aushandlung, die die Partizipation der Kinder an der Gestaltung des Kin-
dergartenalltags mit der Sprach- und Kommunikationsförderung verknüp-
fen. Zu beachten ist dabei, dass insbesondere für kleinere Kinder das
gemeinsame Besprechen in der Gruppe noch recht schwierig ist. Eine ver-
trauensvolle Beziehung zur Erzieherin/zum Erzieher und die Einbindung in
kleine, überschaubare Gruppen sind Rahmenbedingungen, die die sprach-
liche Artikulation eigener Interessen für das Kind erleichtern (vgl. Katz-
Bernstein 1998, S. 210f.). Zugleich muss die Möglichkeit zur eigenen Ent-
scheidung, zum Nein-Sagen und zum Ablehnen von Vorschlägen gegeben
sein, was bedeutet, die Kinder als Dialogpartner/innen wert zu schätzen
und zu akzeptieren.
•
Welchen Stellenwert hat das Gespräch über gemeinsame Erlebnisse?
•
Wie werden nichtdeutsche Muttersprachen in die Einrichtung eingebunden?
•
Wie kann der Geräuschpegel in den Räumlichkeiten für die Herstellung
einer Gesprächsatmosphäre für alle Beteiligten angenehm gestaltet
werden?
•
Erhalten Mädchen und Jungen Raum, gemeinsame Regeln auszuhandeln
oder Konflikte auszutragen?
Kommunikative Bildung
87
Themen und
Gesprächsanlässe
durch gemeinsame
Erlebnisse und
Aktivitäten
Dialogfähigkeit setzt
Beteiligung und
Wohlbefinden voraus
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
•
Wann und wie können Mädchen und Jungen über Erfahrungen von zu
Hause und über Erlebnisse im Alltag der Einrichtung berichten?
•
Wie fühlst du dich bei einem Streit mit deinen Freunden/Freundinnen
und wie kannst du einen Streit lösen?
•
Welchen Stellenwert haben gemeinsame Tischgespräche zu Hause?
•
Wie verhält sich der Sprachgebrauch der Mütter und Väter zum Sprach-
gebrauch der pädagogischen Fachkräfte?
Schrift und Medien
Kindertageseinrichtungen sind nicht nur Orte des Spracherwerbs und der
Sprachförderung, sondern auch Orte, an denen frühe Erfahrungen mit Schrift
und Medien stattfinden. Schrift- und Mediengebrauch sind heute selbst-
verständliche Bestandteile des Alltagslebens und der Kultur des Aufwach-
sens. Sie prägen unsere Wirklichkeitswahrnehmung und unsere Aneignung
von Umwelt, und sie haben in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung
gewonnen (vgl. Sting 2003 und 2004). Zugleich sind Medien relevante
gesellschaftliche »Miterzieher« (Focks 2002), die großen Einfluss auf die
Vorstellungsweise von Mädchen und Jungen ausüben, an denen sie sich ori-
entieren können. Literale und mediale Sozialisation findet primär in der
Familie statt, doch sind viele Familien durch die Anforderungen überfor-
dert, die an literale und mediale Kompetenz gestellt werden. Insbesonde-
re für sozial schwache und bildungsbenachteiligte Familien stellt deshalb
die Unterstützung einer bildungswirksamen Lese- und Mediensozialisation
durch Kindertageseinrichtungen ein wichtiges Instrument dar, um den
»Teufelskreis« zwischen Armut und späterem schulischem Scheitern zu
durchbrechen (vgl. Elias 2003).
Literalitätsförderung in Kindertageseinrichtungen bedeutet keine Vorverla-
gerung des Lese- und Schreibunterrichts. Es geht zunächst darum anzuer-
kennen, dass Kinder bereits vor der Schule vielfältige Kenntnisse und Inte-
ressen im Umgang mit Schrift entwickeln. Sie greifen Buchstaben, Wörter
und Symbole aus ihrer Umwelt auf und setzen sie als Spiel- und Gestal-
tungsmaterial ein; sie lernen ihren Namen zu schreiben oder entwickeln in
Kritzelbriefen Vorformen des schriftlichen Dialogs (vgl. Aust 1995). Die
deutsche Elementarpädagogik zeichnet sich bisher durch eine Geringschät-
zung der Lesekompetenz in der Zeit vor dem Schuleintritt aus. Eine ange-
messene Literalitätsförderung im Vorschulalter kann demgegenüber an
drei Aspekten des Schriftgebrauchs ansetzen: an dem vertrautmachen mit
Schriftzeichen und Sprache, an der Einführung von Geschichten und Er-
zählweisen und am Kennenlernen von schriftlichen und symbolischen
Sachinformationen (zum Beispiel in Computerspielen).
Ein zentrales Element sind hierbei Vorlesesituationen. Das Vorlesen von
Geschichten, das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern und die da-
ran anknüpfenden Vorlese-Dialoge, die meist durch Fragen der Kinder ini-
tiiert werden, tragen zur Leseförderung bei. Literarisches Verstehen und
Genießen wird angeregt, wobei Erzieherinnen und Erzieher die Chance
haben, fehlende häusliche Erfahrungen auszugleichen. Lese- und Bücher-
Kommunikative Bildung
88
Literalität wird immer
wichtiger
Literalitätsförderung
statt Lese- und
Schreibunterricht
Literarisches Verstehen
und Genießen anregen
Kinder
Eltern
ecken, der freie Zugang zu Schreibmaterialien und Lektüre, auch der ge-
meinsame Gang in die Bibliothek zur Beschaffung von Büchern für die
Gruppe sind weitere Elemente der Einführung in die Schriftlichkeit. Eben-
so trägt der spielerische Gebrauch von Sprache beim Singen, Reimen,
Witze und Geschichten erzählen zur Vorbereitung auf die Schriftsprache
bei. Schließlich ermöglicht der Computer Experimente mit Schrift und Er-
fahrungen in der funktionalen und sachlichen Verwendung von Symbolen.
Die Förderung medienbezogener Fähigkeiten und Kenntnisse kann in
Kindertageseinrichtungen in Form von Medienprojekten oder aktiver Me-
dienarbeit gefördert werden (vgl. Aufenanger/Six 2001). Modellprojekte
wie »P.I.N.G.U.I.N. – Internet im Hort« oder andere sächsische und bun-
desweite Medienprojekte zeigen, dass der Einsatz des Computers auch
schon in Kindertageseinrichtungen sinnvoll möglich ist – um zum Beispiel
erste kreative Schreibversuche zu wagen und sich künstlerisch auszupro-
bieren. Zu dem Zweck sind die Ausbildung eigener Fähigkeiten der Com-
puternutzung und die Erstellung eines einrichtungsbezogenen Computer-
konzepts bzw. eines festen Rahmens für die Computernutzung erforder-
lich. Die bisherigen Projekterfahrungen machen deutlich, dass Kinder um
den Computer und andere Medien herum zahlreiche kreative und partizi-
pative Bildungsprozesse entfalten. Sie eignen sich das jeweilige Medium
selbsttätig an und entwickeln dabei erstaunliche Fähigkeiten. Sie tau-
schen sich untereinander aus, helfen sich gegenseitig bei Problemen und
vollziehen demokratische Aushandlungsprozesse im Hinblick auf Nut-
zungs- und Zugangsregeln. Erzieherinnen und Erzieher sind bei diesen
Prozessen nicht nur vermittelnd, sondern eher begleitend und unterstüt-
zend tätig. Sie achten darauf, dass alle Kinder gleichermaßen aktiv wer-
den können und ermutigen diejenigen, die über wenig häusliche Vorerfah-
rungen mit dem Computer verfügen. Darüber hinaus können sie Anstöße
für kreative und wissensorientierte Spielideen liefern, die einen kompe-
tenten Medieneinsatz befördern, indem zum Beispiel Bilder gemalt oder
Informationen zu einem bestimmten Thema im Internet gesucht werden
(vgl. Kleber/Palme 2004).
•
Wie sind Lese- und Bücherecken in der Einrichtung gestaltet?
•
Welche Bedeutung haben Computer und andere Medien in der Einrich-
tung?
•
Mit welchen Medien wird in der Einrichtung gearbeitet und wie sollen
diese für Mädchen und Jungen zugänglich sein?
•
Welche gesellschaftlichen Vorstellungen und Bedeutungen (zum Bei-
spiel in Bezug auf Geschlecht, Beruf, Beteiligung, Körper, Attraktivität
und Aussehen) werden durch bestimmte Medien vermittelt und wie
gehen Erzieherinnen und Erzieher damit um?
•
Wo können Kinder interessante Schriftzüge und Symbole entdecken?
•
Welche Vorbilder spielen für Mädchen und Jungen eine Rolle?
•
Welche Medienfiguren kennst Du und was beeindruckt dich an ihnen?
Kommunikative Bildung
89
Computernutzung
als Teil aktiver
Medienarbeit in der
Kindertageseinrichtung
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Kinder
•
Wie sieht die Medienausstattung zu Hause und im Kinderzimmer aus?
•
Welche lese- und medienpädagogischen Vorstellungen äußern Mütter
und Väter?
2.3.4 Anregungen zum Weiterdenken
Aufenanger, Stefan; Six, Ulrike (Hrsg.), 2001: Handbuch Medien: Mediener-
ziehung früh beginnen. Themen, Forschungsergebnisse und Anregungen
für die Medienbildung von Kindern. Bundeszentrale für politische Bil-
dung, Bonn.
Elschenbroich, Donata; Schweitzer, Otto, 1999: Ins Schreiben hinein. DJI-
Filmproduktion (Videokassette mit Begleitheft). Deutsches Jugendinsti-
tut (DJI), München.
Focks, Petra, 2002: Starke Mädchen, starke Jungs. Leitfaden für eine ge-
schlechterbewusste Pädagogik. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau.
Hartkemeyer, Martina und Johannes F.; Dhority, L. Freeman, 1998: Miteinan-
der denken. Das Geheimnis des Dialogs. Klett-Cotta, Stuttgart.
Schäfer, Gerd E., 2003: Bildung beginnt mit der Geburt. Förderung von Bil-
dungsprozessen in den ersten sechs Jahren. Beltz Verlag, Weinheim, Ber-
lin, Basel, S. 95-102.
Hier ist Platz für Fragen, eigene Ideen und Literaturhinweise:
Kommunikative Bildung
90
Eltern
2.3.5 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen in der Kindertagespflege
Das Zusammenleben von Menschen ist wie die Bildung des einzelnen Kin-
des ohne Kommunikation und Sprache nicht denkbar. Kommunikation ist
in Spiel-, Erlebnis- und Bewegungssituationen eingebettet. Durch Beobach-
tung gewinnt man einen Eindruck, wie intensiv sich Kinder unterhalten und
auf welche Art und Weise sie dies tun. Daraus lassen sich Ideen entwi-
ckeln, wie eine dialogische Gesprächskultur hergestellt werden kann, denn
sie ist nicht von vorn herein gegeben. Eine dialogische und wertschätzende
Grundhaltung ermöglicht den Aufbau einer solchen Kultur nicht nur im
Tagesverlauf mit den Kindern (beispielsweise Morgenkreis), sondern auch
mit den Müttern und Vätern (beispielsweise Eingewöhnung, Entwicklungs-
gespräche, Elternnachmittage) bzw. im Austausch mit anderen pädagogi-
schen Fachkräften und Expert/innen (vgl. Laewen u. a. 2003, S. 34).
Es lassen sich somit verschiedene Dialogebenen unterscheiden: die Ebene
zwischen Kind und Erwachsenem, die Ebene der Kinder bzw. Erwachsenen
untereinander und schließlich die Ebene des Dialogs zwischen Kind und
Welt. Für den Säugling und das Kleinkind geht es in erster Linie um einen
Dialog mit der Umwelt (beispielsweise wenn es im Sitzen mit Gegenstän-
den hantiert und dabei seine Umgebung beobachtet), um diese Umge-
bung für sich zu verstehen und die Signale zu entschlüsseln. »Schon nach
wenigen Tagen – abhängig davon, wie wir dem Säugling begegnen – kön-
nen wir beobachten, ob er gelöst oder verspannt reagiert, nicht nur als
Antwort auf die Berührung, sondern schon vorher, schon bei der Annähe-
rung des zu ihm kommenden, ihn pflegenden Erwachsenen. Wir können
hier das frühe Auftauchen der Antizipation (geistige Vorwegnahme oder
Vorhersage aufgrund erkannter Gesetzmäßigkeiten) beobachten. In dieser
Weise bildet sich schon in den ersten Tagen des Lebens ein positiver oder
negativer Kontakt zwischen dem Säugling und dem für ihn sorgenden
Erwachsenen aus.« (Pikler 2001, S. 169f.)
Die Sprachentwicklung eines Menschen ist mit seiner geistigen, emotionalen
und körperlichen Entwicklung und mit der Reifung seiner Sinnesorgane
verknüpft, denn das Gehirn muss die über die Sinnesorgane aufgenom-
menen Informationen verarbeiten, speichern und ggf. in sinnvolle Hand-
lungsmuster oder Sprache umsetzen. »Lallen und Sprechen fließen zeitlich
ineinander über. Ebenso wie das Kritzeln verschiedene Bedeutungen hat,
können auch die Lallmonologe die unterschiedlichsten Sachverhalte zum
Ausdruck bringen.« (Weber u. a. 2004, S. 87).
Das Kind lernt sprechen, weil es sprechen will und wenn es eine Atmo-
sphäre vorfindet, in der mit ihm und nicht über es hinweg gesprochen
wird. So kann sich das Kind ungezwungen äußern, erlebt das Interesse
der Erwachsenen an seinen Äußerungen und es entsteht ein neuer
Sprechanreiz. Der Erwachsene muss darüber hinaus bereit sein, die kind-
lichen Signale zu dechiffrieren (vgl. van Dieken 2002, S. 9ff.). Dieser Dia-
log ist sowohl ein Austausch von Worten als auch begleitet von Mimik und
Gestik (nonverbale Kommunikation), die das Kind nachahmt und manch-
mal sogar übernimmt. »Sprechen wir also mit dem Kind von Beginn an,
sagen wir ihm, was wir mit ihm tun wollen, was wir von ihm erwarten,
Kommunikative Bildung
91
Dialog als
Entwicklungsmotor
begreifen
Das Kind lernt
sprechen, weil es
sprechen will
was jetzt folgen wird. Immer, wenn wir mit dem Kind zusammen sind
(beim Aufnehmen, Baden, Anziehen, beim Füttern, Spielen, ins Bett brin-
gen) sprechen wir mit ihm.« (Lill/Sporleder 2000, S. 197). Zudem schwin-
gen Gefühle und Haltungen der Erwachsenen mit, die das Kind nun sei-
nerseits versucht zu übersetzen.
Ein reichlicher Sprachschatz kann sich nur dann entwickeln, wenn eine
stabile Basis aus Bewegungserfahrungen, Wahrnehmungsförderung und
Beziehungen zur Lebensumwelt entstanden ist. Das Tempo der Sprachent-
wicklung bestimmt dabei immer das Kind.
In der Kommunikation mit Kindern im Alter bis zu drei Jahren ist es wichtig
•
eine offene und den Kindern zugewandte Haltung einzunehmen,
•
Sprachvorbild zu sein, das heißt »falsch« Ausgesprochenes selbst richtig
zu wiederholen,
•
in ganzen Sätzen zu sprechen und nicht zu verniedlichen,
•
die Kinder eigene Erfahrungen benennen zu lassen,
•
Fragen zu stellen, die zum Erzählen animieren,
•
zuzuhören und nicht zu unterbrechen und
•
Wortschöpfungen der Kinder zuzulassen (vgl. van Dieken 2002, S. 11).
So kann die Sprachentwicklung auf verschiedenen Wegen und zu ganz
unterschiedlichen Zeiten gefördert werden: Wickeln oder Essen reichen
sind vergleichsweise wichtige Gelegenheiten zur Kommunikation zwischen
Kindern und Tagespflegeperson. Im Spiel oder bei gemeinsamen Aktivitä-
ten (Singen, Fingerspiele vorführen, Verse sprechen, Bilderbücher an-
schauen, Spazieren gehen oder gemeinsam Essen zubereiten) entstehen
Sprechanlässe. Hier haben die Kinder in altersgemischten Gruppen viele
Vorteile, weil sie in den älteren Kindern Sprachvorbilder haben. Kinder, die
eine andere Muttersprache als Deutsch besitzen, sollte man nicht drängen,
Deutsch zu sprechen, sondern die Neugier an der neuen, fremden Sprache
wecken. Kindertagespflegepersonen sollten Müttern und Vätern vermit-
teln, dass es hilfreich ist, wenn sie mit dem Kind in ihrer Muttersprache
sprechen. Ebenso sollten sie aus Achtung vor dem Kind auch Worte in sei-
ner Sprache lernen und im Alltag benutzen. Zudem macht es Freude, Lie-
der, Kinderverse u. Ä. aus anderen Sprachen oder dem eigenen Dialekt
(»Mundart«) zu verwenden und so mehr über die Kultur des Herkunftslan-
des bzw. der eigenen Region zu erfahren.
Eine angemessene Literalitätsförderung im Kleinkindalter setzt an drei
Aspekten des Schriftgebrauchs an: an dem Vertraut machen mit Schriftzei-
chen und Sprache, an der Einführung von Geschichten und Erzählweisen
und am Kennen lernen von schriftlichen und symbolischen Sachinforma-
tionen (zum Beispiel in Computerspielen). Ein zentrales Element sind hier-
bei Vorlesesituationen.
Ebenso faszinierend für Kleinkinder ist der Umgang mit modernen
Medien, die mittlerweile in kaum einem Haushalt fehlen. Fernseher, Com-
puter, Video- und Kassettengeräte oder CD-Player sind magische Anzie-
hungspunkte. Auch hier gilt es als kompetenter Erwachsener auf einen
zunächst kontrollierten Umgang – der mit zunehmendem Alter der Kinder
immer selbstständiger wird – zu achten.
Kommunikative Bildung
92
Themen und
Sprachanlässe durch
gemeinsame
Erlebnisse finden
Bedeutung der Mutter-
sprache erkennen und
berücksichtigen
Literarisches Verstehen
und Genießen anregen
2.3.6 Ergänzende Inhalte für die Bildungsarbeit mit Mädchen
und Jungen im Hort
Die Zeit vor dem Schuleintritt ist die wichtigste Periode für die Ausbildung
der Sprache, jedoch sind auch die Phasen danach entscheidend. Sprache
ist nicht nur zentral für jede Kultur und deren Weiterentwicklung, sie ist
zudem eng mit der (Identitäts- und Persönlichkeits-)Entwicklung eines
jeden Kindes verbunden. Sprache ist ein Werkzeug für gedankliche Ent-
wicklungen, Begriffsbildungen und Emotionen, um Eindrücke und Erleb-
nisse zu verarbeiten. Mit der Unterstützung der sprachlich-kommunikati-
ven Entwicklung, wie sie als Entwicklungsbereich c) der Kooperationsver-
einbarung beschrieben wurde, wird das Kind angeregt
•
seine Redesprache und Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren,
weiterzuentwickeln (Dialogfähigkeit),
•
sein Vermögen zu vervollkommnen, Ideen und Gedanken sprachlich
auszudrücken,
•
konzentriert zuzuhören und aktiv das Gruppengeschehen zu gestalten,
•
seinen Wort- und Begriffsvorrat weiterzuentwickeln und mit Worten zu
spielen,
•
Symbole und deren kommunikativen Wert sowie Sprachkonstruktionen
und deren kommunikative Funktion zu verstehen (vgl. Berger/Berger
2004).
Idealerweise entwickeln Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und
zehn Jahren Mutter- und Fremdsprache(n), indem sie aktiv an Gesprächen
teilnehmen: beispielsweise bei der Kinderkonferenz als Moderator/in oder
Teilnehmer/in, wenn sie ihre Erlebnisse im Alltag schildern dürfen, unter-
schiedliche altersgemäße Texte lesen, verstehen und die Inhalte von
Berichten und Büchern wiedergeben, über das Ursprungsland einer ande-
ren Sprache bzw. das dortige Leben berichten und mit den eigenen
Lebensverhältnissen vergleichen können (vgl. Berger/Berger 2004, Dietrich
1995a, Dietrich/Hövel 1995, S. 218ff.). Wenn sie ihre Bildungs- und Lern-
geschichten selbst aufzeichnen können, das heißt in Wort, Bild und Ton
festhalten, trägt das dazu bei, eine reiche (Mutter-)Sprache zu entwickeln
und neue Sprachsituationen herauszufordern.
Mädchen und Jungen dürfen sich im Hort entsprechend ihrer eigenen Vor-
aussetzungen ausdrücken und lernen, auf die Verschiedenheit in der ge-
sprochenen Sprache Rücksicht zu nehmen und sie zu respektieren sowie
verantwortlich mit dem eigenen Sprachgebrauch umzugehen und die Kon-
sequenzen daraus zu tragen. Das Wagnis, sich nonverbal mit Tönen, Bil-
dern und Körpersprache auszudrücken, kann nur gelingen, wenn sich Kin-
der sicher und geborgen fühlen und aktiv am Geschehen beteiligt sind.
Das fortschreitende Interesse und die Lust, sich Welt über Ausdrucksmög-
lichkeiten wie Schrift und Medien anzueignen, sollte im Hort genutzt wer-
den, indem vielfältige Betätigungsmöglichkeiten bereit stehen, beispiels-
weise PC, Schreibmaschine, Stift und Papier, Anlauttabelle, Video- und
Fotoapparat, Diktiergerät, Bücher und Kassetten. Einkaufszettel und Koch-
rezepte für ein Hortfest oder Mitteilungen des Kinderrates können per
Hand oder mit der Schreibmaschine geschrieben und gestaltet werden.
Kommunikative Bildung
93
Sprache(n) sprechen
Sprache erweitert den
Dialog mit sich und
der Welt
Schrift und Medien
im Hort-Alltag
E-Mails mit Einladungen oder Berichten an Mütter und Väter, Bürgermei-
sterinnen und Bürgermeister, Lehrerinnen und Lehrer der Grundschule und
Kinder der Umgebung können ebenfalls verfasst werden. Im Internet kann
sowohl nach bestimmten Interessen und anstehenden Themen als auch
nach Lieblingsfiguren oder -sendungen recherchiert werden. Jedes Kind fin-
det dabei wieder neue Anregungen zum Tätigwerden. Kleine Notizzettel,
Liebesbriefchen bis hin zur Gestaltung der Dokumentation der eigenen Bil-
dungs- und Lerngeschichten oder des Hortgeschehens sind wichtige Aus-
drucksformen und lassen erahnen, welche vielfältigen Möglichkeiten existie-
ren. Es ist wesentlich, (neue) Medien und Kulturtechniken miteinander zu
verbinden und die kommunikativen Fähigkeiten der Kinder zu nutzen. In
einer Druckwerkstatt können beispielsweise eigene Bücher, Hefte oder Zei-
tungen entstehen, die selbst verkauft werden. Zudem kann gemeinsam ent-
schieden werden, ob eine Zeitung abonniert wird. Die Nähe zum mathema-
tischen, als auch ästhetischen Bildungsbereich ist hier unübersehbar, denn
Kommunikation und Schrift bergen Struktur und Gestaltbarkeit in sich.
Fähigkeiten, die die Kinder in der Schule erworben haben, werden auf
diese Weise im Hort wertgeschätzt, angewandt und gefestigt – freiwillig
und ohne Zwang. Dem Entwicklungsstand der Kinder unangemessene
Hausaufgaben, negative Bewertungen oder abfällige Bemerkungen nehmen
Mädchen und Jungen die Lust am Lernen und die Freude am gemeinsamen
Entdecken. Der Hort hat hier einen sehr breiten Handlungsspielraum.
Selbst bei schulischen Misserfolgen und Verhaltensschwierigkeiten können
positive Anreize geschaffen werden.
Hier ist Platz für Fragen, eigene Ideen und Literaturhinweise:
Kommunikative Bildung
94
2.4 Ästhetische Bildung
2.4.1 Fachliche Einführung
Kinder entdecken und erforschen ihre Umwelt mit allen Sinnen: Sie füh-
len, sehen, hören, riechen und schmecken. Sie formen diese Sinnesein-
drücke um und geben ihnen einen Ausdruck, den sie gestalten. Der Begriff
»ästhetisch« wird häufig in Verbindung mit Schönheitsidealen verwendet,
er deutet aber auch auf das Empfindungsvermögen und seine Funktionen
hin. Im weiteren Sinne beinhaltet er Harmonie in Natur und Kunst und
einen Einklang der Sinne des Menschen. Bei Mädchen und Jungen äußert
sich das zum Beispiel darin, dass sie in Bildern denken und diese Vorstel-
lungen ästhetisch ausdrücken möchten. Jedes Sinnesorgan findet in unter-
schiedlichen Bereichen wie bildnerischem Gestalten, Musik, Tanz, Theater
und Handwerk seinen eigenen Ausdruck, aber auch in anderen alltäglichen
Gestaltungsprozessen und in der Wissenschaft. Vorrangig geht es nicht
um ein Training isolierter Wahrnehmungsprozesse, sondern um die Schaf-
fung von Möglichkeiten, dem ›Eindruck einen Ausdruck‹ zu geben. Mate-
rialien in unterschiedlicher Farbe, Form, Beschaffenheit und Konsistenz
sowie Wirkung regen Mädchen und Jungen an und schaffen sinnliche
Erlebnisse. Das Vorlesen wird zu einem sinnlichen Erlebnis, wenn Illustra-
tionen die Phantasie anregen und eigene Bilder zu Geschichten entstehen.
Der Prozess vom sinnlichen Eindruck zum rationalen Denken führt über
die Phantasie (vgl. Sommer 1999, S. 45).
97
Kein Training
isolierter
Wahrnehmungs-
prozesse
2.4 Ästhetische Bildung
Beim Betrachten einer Wiesenblume beispielsweise werden nicht nur visu-
elle Reize aufgenommen, sondern sie fügen sich gemeinsam mit sinnlichen
Informationen aus den Bereichen des Hörens, Fühlens, Riechens, der
Bewegungswahrnehmung und den bereits erfahrenen Emotionen zu einem
Gesamtbild zusammen. Diese Verbindung, Beeinflussung und Reflexion
einzelner Sinnesorgane im Gesamtnetz ist notwendig. Mitteilungen sollen
sich dabei ergänzen. Man könnte auch sagen, das Kind erschafft seine
Welt neu. Dahinter steckt eine Erkenntnistheorie (»Konstruktivismus«), die
besagt, dass Kinder angetrieben von genetischen Strukturen die Welt ent-
decken bzw. mit dieser Welt in Beziehung treten wollen. Die Aneignung der
Welt erfolgt demnach in besonderer Weise: Wir nehmen kein Abbild der
äußeren Welt auf und ersetzen dieses durch ein inneres reales Bild. Alle
unsere Impressionen und Erlebnisse, die uns unsere Sinne übermitteln,
basieren auf Konstruktionen unseres Gehirns. Neue Sinneserfahrungen
schließen sich an bereits vorhandene Konstruktionen und neuronale Mus-
ter an und erweitern diese. Dieser Prämisse folgend müssten pädagogi-
sche Fachkräfte sensibel dafür sein, Mädchen und Jungen in ihrer Indivi-
dualität wahrzunehmen und sich für ihre Themen zu interessieren. Dies
geht mit der Beachtung und Achtung der Emotionen der Kinder einher (vgl.
Schäfer 2003, S. 66). Statt eigene Ideen und Vorlieben von Erzieherinnen
und Erziehern in den Vordergrund zu stellen, gilt es zu erforschen, welche
individuellen Entwürfe (zum Beispiel Fragen zum Material oder zu Naturer-
scheinungen) und Emotionsmuster (Mimik und Gestik) die jeweiligen Mäd-
chen und Jungen haben. Neuronale Strukturen müssen nach der Geburt
noch modifiziert werden. Sie entfalten sich im Umgang mit anderen und
mit der Umwelt. Bekannt geworden ist diesbezüglich folgendes Motto aus
Reggio Emilia: »Ein Kind ist der Konstrukteur seiner Kenntnisse und ent-
wirft Hypothesen über die Welt«. Hierbei ist das Kind auf Kommunikation
mit anderen Menschen angewiesen (vgl. Laewen 2002, S. 57).
Ästhetische Bildung von Kindern ist demnach ein ganzheitlicher Prozess,
der nicht auf das Ergebnis allein ausgerichtet sein kann, sondern auf die
Tätigkeit an sich. Ein großer Teil der erarbeiteten Dinge und Gedankenwe-
ge wird wieder verlassen und die gesamte Tätigkeit bleibt zum Schluss
ständigen Entscheidungsprozessen unterworfen. Zudem führt das Verknüp-
fen künstlerisch-praktischer Herangehensweisen mit vorwissenschaftlichen
Handlungs- und Denkakten sowie mit wissenschaftlich-orientierten Metho-
den zu individuellen Erkenntnisformen. Alles kann Gegenstand und Anlass
künstlerischen Ausdrucks sein: eine Frage, ein Gedanke, eine Befindlich-
keit, ein Tier, eine Pflanze, ein künstlerisches Werk, ein Phänomen, eine
Person, ein Text (vgl. Kämpf-Jansen, 2002, S. 274ff.). Ästhetische Erfahrun-
gen machen Kinder zum Beispiel bei Materialerkundungen mit Ton, denn
bevor etwas mit dem Material Ton entstehen kann, muss es von den Kin-
dern mit allen Sinnen erfasst werden können, um seine Beschaffenheit,
Konsistenz u.ä. kennen zu lernen. Der verformte Klumpen Ton muss dann
– genauso wie die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Material – als
Ergebnis der Arbeit mit Ton anerkannt und wertgeschätzt werden.
Ästhetische Bildung
98
Was ist wahr von
dem, was ich
wahrnehme?
Alle Impressionen und
Erlebnisse basieren
auf Konstruktionen
unseres Gehirns
Alles kann Gegenstand
und Anlass künst-
lerischen Ausdrucks
sein
2.4.2 Leitbegriff Wahrnehmen
Das Kind wird mit einigen sensitiven Strukturen in diese Welt hineingebo-
ren und ist für eine optimale Entfaltung aller Sinne auf Stimulanz von
außen angewiesen (vgl. Ayres 2002, S. 9). Ungefähr bis zum Alter von sie-
ben Jahren ist das Gehirn vorwiegend eine »Verarbeitungsmaschine sinn-
licher Wahrnehmungen.« Das Gehirn bedarf mannigfaltiger Empfindungen
und das Kind möchte eine Bedeutung von Dingen direkt über Sinnesein-
drücke erfassen und mit dem eigenen Körper in Beziehungen setzen (sen-
somotorische Entwicklung). Alle geistigen und sozialen Reaktionen bauen
auf diese sensomotorischen Tätigkeiten auf. Wahrnehmen mit allen Sinnen
steht immer in engem Zusammenhang mit Denken und Handeln. Basie-
rend auf Erfahrungen des Menschen – egal welchen Alters – und der Wahr-
nehmung von Wirklichkeit werden Handlungskompetenzen ausgebildet.
In Kindertageseinrichtungen fördert ein reichhaltiges Materialangebot für
die Sinne auch die Wahrnehmung. Zwischen reichhaltigem Materialange-
bot und sinnlicher Wahrnehmung ist ein professioneller Balanceakt not-
wendig. Die Eindeutigkeit der Materialien fördert die Wahrnehmung, eine
Überfrachtung behindert eher. Kinder lieben es, eine Farbe genau zu ent-
decken und sich beispielsweise auch am Körper mit Farbe zu bemalen.
Bereits ein Bogen Papier kann Ausgangspunkt für ganzheitliche Entde-
ckungen sein. »Das Kind muss selbst entscheiden können, wie viel Zeit
es braucht, um bestimmte Tätigkeiten und Materialien so auszukosten oder
auszuprobieren, dass sie sein eigen werden« (Goleman u.a. 1997, S. 70).
Die Bearbeitung von sinnlichen Wahrnehmungen führt zur »sensorischen
Integration«, und diese wiederum ist Voraussetzung für das Selbstbe-
wusstsein des Kindes und für die Anlage zum abstrakten Denken (Ayres
2002, S. 103): Erhalten Mädchen und Jungen selten Gelegenheiten zum
sinnlichen Erleben, können Auffälligkeiten vorprogrammiert sein. Kinder,
die Probleme bei der Reizverarbeitung aufweisen, haben Mühe die »all-
täglichen Wahrnehmungen zu ordnen und zu verdauen, zugleich innerlich
darüber im Gleichgewicht zu bleiben, in Kontakt zu bleiben, zu vertrauen,
zu ›verstehen‹ und sich mit anderen zu verständigen« (du Bois 1997, S. 15).
In Bewegungsspielen lernt das Kind zum Beispiel die Empfindungen sei-
nes Körpers und der Schwerkraft mit Wahrnehmungen der Augen und
Ohren zu verbinden. Diese sensorische Integration entfaltet sich beim Be-
wegen, im Reden und Spielen und ist notwendig für das Lesen- und
Schreibenlernen. Ein wichtiges Potential von Wahrnehmungen ist der
Spaß, da sich die Freude positiv auf die Entwicklung des Gehirns auswirkt.
Die Hingabe von Kindern beim Schaukeln, Hüpfen oder Barfuß-Laufen ist
dafür ein Indiz.
Neben der Integration aller Sinne geht es im ästhetischen Bildungsbereich
auch darum, den Wahrnehmungshorizont der Mädchen und Jungen zu ent-
falten und zu erweitern: James Heckmann, der Nobelpreisträger für Wirt-
schaftswissenschaften 2000, beschreibt, dass gerade in Deutschland eine
spezielle Schicht als »Arbeiter« etikettiert wird und dieses Etikett unreflek-
tiert auf die Kinder übertragen wird. Auch »Arbeiterkinder« besitzen die
Fähigkeiten, ein Hochschulstudium zu beginnen, wenn ihnen der Wahr-
Ästhetische Bildung
99
Wahrnehmen, Denken
und Handeln stehen
in engem Zusammen-
hang
Eindeutigkeit der
Materialien fördert
die Wahrnehmung
Alltägliche Wahr-
nehmungen müssen
geordnet werden
nehmungshorizont eröffnet wurde. Das Öffnen dieses Wahrnehmungshori-
zontes geschieht durch Anknüpfen an die Interessen der Kinder oder durch
Zumutung von neuen unbekannten Themen.
Der visuelle Sinn, bei Neugeborenen wenig entwickelt und bei Erwachse-
nen überstrapaziert, bedeutete für Friedrich Schiller eine »erste Erfahrung
von Freiheit«, wenn ein Tier oder eine Pflanze nicht sofort von etwas ergrif-
fen wird oder der Mensch davor flüchtet, sondern »innehält und sich die-
ses etwas (...) erst einmal in Ruhe ansieht.« Von hier an, sagt Schiller,
beginnt »jene Freiheit, die es dem Menschen später erlaubt, etwas zu
erforschen.« (Kerbs 1976, S. 26). Diese »Prozesse des sehenden Wahrneh-
mens« können mit Lupen, Mikroskopen, Leuchttischen, Spiegeln und
Kaleidoskopen unterstützt werden. Optische Geräte verhelfen zu detaillier-
ten Einblicken und Perspektivwechseln. Leuchttische bieten sich an, um
mit Kindern bizarre Blattadern wahrzunehmen. Experimente mit Licht und
Schatten fördern sowohl die visuelle Wahrnehmung als auch naturwissen-
schaftliche Einsichten.
•
Welchen Stellenwert hat sinnliche Wahrnehmung in Ihrem Alltag?
•
Welche Begebenheit mit einem Kind hat Sie heute fasziniert?
•
Gibt es Berührungspunkte zwischen den Wahrnehmungsinhalten und
Emotionen der Kinder und Erwachsenen?
•
Welchen Raum haben Phantasien und Träume im Alltag der Kindertages-
einrichtung?
•
Auf welche sinnlichen Erlebnisse reagieren Mädchen und Jungen ableh-
nend oder mit Zustimmung?
•
Warum läufst du gern barfuß und was fühlst du dabei?
•
Wie gehen Eltern mit Phantasiegeschichten der Kinder um? Wie wirken
die Phantasien der Kinder auf Eltern?
•
Welche sinnlichen Erlebnisse verbinden Mädchen und Jungen mit ihren
Müttern und Vätern?
2.4.3 Inhalte des Bereichs
Musik
Am Anfang unseres Lebens sind wir alle »Hörlinge«. Wahrscheinlich begin-
nen sich schon 22 Tage nach der Zeugung die Ohren zu entwickeln (vgl.
Singerhoff 2001, S. 31). Babys reagieren bereits im Mutterleib sensitiv auf
Betonung, Rhythmus und Intonation (vgl. Oerter/Montada 2002, S. 521f.).
Das Hören bildet zugleich die Basis zum Sprechen lernen. Erste Lautäuße-
rungen bei Säuglingen gleichen einem melodischen Auf und Nieder von
Tönen. Musik beispielsweise ist entwicklungsgeschichtlich viel älter als
Sprache, stimuliert beide Gehirnhälften und aktiviert insbesondere das
räumliche Denkvermögen. Berührungsreize der Finger beim Spielen auf
einem Instrument wirken wiederum stimulierend auf die Reizverarbeitung
im Gehirn. Musikpädagoginnen und -pädagogen wie Kreusch-Jacob plädie-
Ästhetische Bildung
100
Prozesse des »sehen-
den Wahrnehmens«
auf vielfältige Weise
unterstützen
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
ren für ein frühes musikalisches Milieu: im Tageslauf gemeinsam Lieder
singen, aus einfachen Haushaltsgegenständen eigene Instrumente gestal-
ten und darauf spielen, improvisieren und Klanggeschichten erzählen (vgl.
Dietrich 1999, S. 150f.). Sie betonen, dass es keine Kinder gibt, die unmu-
sikalisch sind, und dass sowohl Jungen als auch Mädchen intuitiv auf Musik
reagieren und von ihr berührt werden (vgl. Kreusch-Jacob 1999, S. 9ff.). Kin-
der lernen auf diese Art und Weise eine andere »Sprache«, mit der sie ihren
Gefühlen Ausdruck verleihen können. Sie entdecken ihre Stimme als varia-
bles Mittel, um mit anderen zu kommunizieren, und Noten als eine von vie-
len Schriftarten (Symbolen oder graphischen Zeichen) auf der Welt. Beim
Musikhören können Kinder spüren, dass Musik ganz unterschiedliche Wir-
kungen auf den Menschen haben kann: entspannend, mitreißend, anre-
gend, aufwühlend usw. Auch wenn die wenigsten Mädchen und Jungen Diri-
gent/in oder Pianist/in werden, kann für sie Musik der Schlüssel zu Kreati-
vität und zum Lernen sein (vgl. Crowther 2005, S. 184).
Musik als sinnliche Erfahrung braucht besondere Rahmenbedingungen
und eine Vernetzung mit der Bewegung. Das Spiel mit der eigenen Stim-
me, mit konventionellen oder selbst gebauten Instrumenten sollte im wei-
ten Spektrum möglich sein: von ohrenbetäubend laut bis sanft und leise.
Schallwellen und Klänge, Tonhöhen, Dauer eines Tones können in diver-
sen Facetten erlebt und genossen werden.
Mädchen und Jungen sollten auch die Möglichkeit bekommen, ihre eige-
ne Musik zu erfinden und diese mittels Mikrofon und Kassettenrecorder
aufzunehmen. Die eigenen Aufnahmen können in Tänze, Theater oder
Puppenspiel integriert werden. Verschiedene Musikrichtungen, Klänge und
Rhythmen aus anderen Kulturen wecken differenzierte Emotionen und
können im Spiel mit Materialien wiederum ihren Ausdruck finden. Zudem
sollte die Gelegenheit zum Musik hören (zum Beispiel über einen CD-Spie-
ler) und eine Auswahl von Hör- und Klanggeschichten, aber auch Lieder-
büchern zur Verfügung stehen. Hierbei ist es wichtig, Musik nicht als
»Dauerregen« einzusetzen und damit die Fähigkeit zum Zuhören – nicht
nur in Bezug auf Musik oder Geschichten – zu hemmen.
Zudem hinterlassen auch Geräusche aus der Natur einen musikalischen
Eindruck: Welche Geräusche machen die Zweige im Baum? Wie hört sich
das an, wenn Blätter im Wind rauschen oder die Zweige knacken? Wie
fühlt sich Musik an? Welche Farbe hat diese Musik in meinen Ohren? Wel-
che Verkleidung passt zu dieser Musik?
Durch die Bewegung und eine intensive Auseinandersetzung mit Mate-
rialien wird auch der Wortschatz der Kinder weiter ausdifferenziert. Bei-
spielsweise kann ein Blatt Papier die Eigenschaften glatt, steif, kalt, dünn,
transparent etc. besitzen oder das Blatt Papier kann knistern, knacken,
rascheln. Es kann des Weiteren gefaltet, zerknüllt oder gerollt werden.
Kinder können sich darauf setzen, es in die Luft werfen, mit den Füßen
transportieren etc. Außerdem sollten Mädchen und Jungen erleben, dass
nicht nur Musik und Sprache einen Rhythmus besitzt, sondern dass Rhyth-
men im gesamten Leben zentral sind. Alle Körperfunktionen sind in rhyth-
mischer Bewegung (Atmung, Herzschlag), ebenfalls alle Vorgänge in der
Natur (Tag und Nacht, Jahreszeiten) und auch der individuelle Rhythmus
im Alltag des Kindes.
Ästhetische Bildung
101
Kein Kind ist
unmusikalisch
Musik empfinden
und erfinden
Kein musikalischer
»Dauerregen«
•
Welche »Hörkultur« gibt es in der Einrichtung?
•
Wie regt jede Erzieherin und jeder Erzieher die Mädchen und Jungen zu
musikalischen Aktivitäten an? Werden Gitarre oder Flöte aus der Ausbil-
dungszeit noch benutzt?
•
Gibt es in der Einrichtung eine »Klangwerkstatt«, die jedem jederzeit
zugänglich ist?
•
Welche Kassetten, CDs und Schallplatten gibt es in der Kindertagsein-
richtung und wie werden sie genutzt?
•
Wo können im Alltag der Kindertageseinrichtung Räume für ganzheitli-
che musikalische Erfahrungen geschaffen werden?
•
Hast du ein Lieblingsinstrument? Welche Geräusche magst du und wel-
che nicht?
•
Welche Rolle spielt Musik für Mütter und Väter? Welche Instrumente
spielen die Eltern?
•
Auf welche Art und Weise und wann werden Entspannungsphasen in der
Familie gestaltet?
Tanz und Theater
»Musik liegt in der Luft.«, »Das Lied fährt in die Glieder.« oder »Diese
Musik reißt mich vom Hocker.« sind einige der gebräuchlichsten Redewen-
dungen, die zeigen, dass Musik erstens in Bezug zu Bewegung steht, das
heißt, Bewegung auslöst und dass zweitens Wahrnehmung, Empfindung
und Bewegung in einem engen Zusammenhang stehen. »Bewegung ohne
Wahrnehmung und Empfindung ist wie ein Klang ohne seine Resonanz. Sie
bleibt auf das Physiologische beschränkt und lässt damit einen zentralen
Erfahrungsraum unerschlossen.« (Bannmüller 1999, S. 156) Der Körper
wird zu einem weiteren Ausdrucksmittel, mit dem Körpererfahrungen in-
tensiviert und Erfahrungslernen ermöglicht werden, denn »der sich bewe-
gende Mensch steht in einem Prozess der Auseinandersetzung mit seiner
Umwelt« (ebd.). Gerade dem starken Bewegungsbedürfnis der Kinder kann
mit der Möglichkeit zum Tanz, zur freien tänzerischen und darstellenden
Improvisation und zum »Theater-Machen« Raum gegeben werden.
Mit Hilfe der Darstellung von Musik durch Tanz bzw. generell durch Bewe-
gung kann sprachlich schwer Fassbares ausgedrückt und der Mensch (mit
allen Sinnen) im Ganzen angesprochen werden – entweder wenn das Kind
selbst tanzt und spielt oder wenn es zusieht und zuhört. Das Erleben von
Musik kann auf diese Art und Weise wesentlich vertieft und geordnet wer-
den. Umgekehrt kann der sich Bewegende einen Klang oder Geräusche
hervorrufen und auf diese Weise seine eigene Bewegung begleiten. »So
wird Sichtbares hörbar und Hörbares sichtbar.« (ebd.) Darüber hinaus ist
es äußerst reizvoll, neben Gehörtem (auditiven Eindrücken) auch Gesehe-
nes (visuelle Eindrücke) in tänzerischer Improvisation auszudrücken: ein
Foto, ein Gemälde, ein Naturphänomen, ein Zirkusbesuch.
Ästhetische Bildung
102
Den Körper als Aus-
drucksmittel erfahren
Sichtbares wird hörbar
und Hörbares wird
sichtbar
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen
Die Wechselwirkung von Hören und Darstellen des Gehörten durch Bewe-
gung steigert das ästhetische Erlebnis und der Bewegungsraum wird
erweitert. Bewegung kommt aus sich selbst heraus, ist individuell, ist Ent-
spannung und Konzentration zugleich. Hören und Bewegung stehen im
Prozess des Sich-Ausdrückens miteinander in Einklang und werden zu
einem Dialog. Das ständige Wiederholen von eigenen und fremden Moti-
ven wird zum Spiel. Es entstehen rhythmische Abläufe, die endlos wieder-
holt werden können. »Im Glücksgefühl solcher rhythmischer Erfahrungen
erfährt der Mensch die tiefste Übereinstimmung mit sich selbst und ein
ausgewogenes Verhältnis zu seiner Umwelt.« (Bannmüller 1999, S. 158f.)
Auch im Rollen- und Puppenspiel agieren Kinder ihre Erfahrungen aus der
Umwelt aus. Durch das imaginäre Als-Ob-Spiel entwickelt sich nicht nur
Kreativität, sondern es wird auch die soziale, emotionale, kognitive und
körperliche Entwicklung gefördert. Puppen und Marionetten berühren die
Phantasie der Kinder tiefgreifend. In ihnen werden Erlebnisse und kultu-
relle Einflüsse gleichermaßen greifbar (vgl. Sommer 1999, S. 46). Zur Iden-
titätsfindung ist es wichtig, sich verkleiden, in andere Rollen schlüpfen,
schminken und sich auch im Spiegel betrachten zu können. Dazu eignen
sich Theater-, Puppenspiel- und Verkleidungsecken genauso wie Leinwand
und Lichtquelle zum Schattenspiel (vgl. Crowther 2005, S. 276ff.).
»Man müsste Kurse außerhalb des Schulkomplexes geben. Unter freien
Himmel, unter den Bäumen, bei den Tieren am Ufer der Bäche (...).« (Paul
Klee in Blanquet 1995, S. 26) Diese überschwänglichen Gedanken von
Klee werfen die Frage auf, an welchen Orten wir generell die Begegnung
von Kindern mit ästhetischen Erfahrungen zulassen. Es ist wünschenswert,
auch in der Natur den Kindern Zugang zu Puppen- und Theaterspiel, Mu-
sikinstrumenten, Papier, Stift, Staffeleien, Ton u.a. zu ermöglichen. Die
Pädagoginnen und Pädagogen in Reggio Emilia sprechen davon, dass sich
Kinder in »100 verschiedenen Sprachen« ausdrücken. Diese Metapher
meint, dass wir Mädchen und Jungen die Möglichkeit geben sollten, sich
mit verschiedenen Ausdrucksweisen zu befassen, indem wir ihnen die
unterschiedlichsten Gestaltungsräume und Materialien zur Verfügung stel-
len. Denn Ansprüche von Erwachsenen, die Welt so real wie möglich zu
gestalten, hindern Kinder an der Gestaltung und Verarbeitung ihrer Um-
welt und somit in ihrem kreativen Tun.
Werke von Mädchen und Jungen (auch Tänze, Wortschöpfungen oder
musikalische Impressionen) sollten keiner flachen Bewertung ausgesetzt,
sondern vielmehr zur Auseinandersetzung und Wertschätzung ausgestellt
werden. Wenn sich Kinder zum Beispiel ständig beobachtet fühlen, dann
verbergen sie alle ihre kreativen Impulse. Das heißt Kinder benötigen
Rückzugsmöglichkeiten, die entweder bereits vorhanden sind oder die sie
sich selbst schaffen (zum Beispiel Höhlenbau mit Decken, Klammern u.ä.
Materialien). Mädchen und Jungen sollten sich mit ihren eigenen Leistun-
gen zufrieden fühlen. Ständige Bewertungen von außen bringen sie nur
zum Nachdenken darüber, was andere über sie denken. »Sternchen« bzw.
gut gemeinte, aber zu routinierte und unreflektierte Lobeshymnen neh-
men dem Kind die Arbeitsfreude aus sich heraus. Ständiges Vorschreiben
und feste Beschäftigungszeiten können dem Kind die Erkenntnis liefern,
Ästhetische Bildung
103
Die 100 Sprachen des
kindlichen Ausdrucks
zulassen und unter-
stützen
»Kreativitätskiller«
vermeiden
»Selbstständigkeit sei ein Fehler«. Kinder müssen lernen können, eigene
Entscheidungen zu treffen (vgl. Goleman u.a. 1997, S. 69f.).
•
Welche Möglichkeiten werden Mädchen und Jungen angeboten, ihre
ästhetischen Erfahrungen in körperlichen Bewegungen umzusetzen?
•
Über welche besonderen Neigungen (Theater, Malerei, Musik) verfügen
die Kolleg/innen im Team und wie könnten diese sinnvoll eingesetzt
werden?
•
Sind Materialien, Gegenstände und Räume so zugänglich, dass sie zu
unterschiedlichen Anlässen und auch zweckentfremdet genutzt werden
können?
•
Welche Gelegenheiten werden für die Erprobung und Aufführung von
Tanz und Theater angeboten?
•
Haben Mädchen und Jungen auch spontan die Möglichkeit, Puppen-,
Theater- und Kunststücke, Schattenspiel bzw. musikalische Improvisatio-
nen vor Publikum aufzuführen?
•
Wie fühlst du dich, wenn du auf der Bühne stehst? Spürst du Aufregung
und wie fühlt sich dein Körper dabei?
•
Nehmen Mütter und Väter die spezifischen Ausdrucksweisen ihrer Toch-
ter/ihres Sohnes wahr und lassen sie sich darauf ein?
Bildnerisches Gestalten
Mädchen und Jungen müssen verschiedene Gestaltungsmittel und Techni-
ken an die Hand gegeben werden, damit sie sich in vielfältigen »Spra-
chen« äußern können. Grundfarben und -formen bieten bereits im Klein-
kindalter erste Anreize und ermöglichen den Zugang zu Materialien im
gestalterischen Kontext. Zur selbsttätigen Aneignung von Materialien und
Gestaltungstechniken ist es erforderlich, Mädchen und Jungen den zweck-
mäßigen Gebrauch zu zeigen und daneben Freiräume zum Experimentie-
ren zu schaffen. Diese Prozesse benötigen Zeit. Sei es das Erlernen des
Schneidens von unterschiedlichsten Materialien mit der Schere; das Malen
mit Pinseln, Fingern, Stiften, Farben oder das Theater spielen und Musizie-
ren. Sobald Kinder Gestaltungsmittel sicher handhaben können, werden
sie auch experimentieren und ihre eigene Phantasie einbringen. Das
Zusammenwirken dieser Fähigkeiten und eine konstruktive Kritik im Dia-
log auf dieses Tun verschaffen Kindern das Gefühl angenommen zu sein.
Natürlich ist es sinnvoll, dass die Benutzung der Materialien anhand abge-
sprochener Regeln erfolgt. Allerdings sollten diese Regeln einen deutlichen
Sinn für das Kind ergeben und das Ergebnis gemeinsamer Absprachen
sein. Nach Bedarf sollten diese Regeln auch überdacht werden und nicht
starr gehandhabt werden. So kann zum Beispiel auch aus Küchenutensi-
lien wie einem Schaumschläger, der zunächst nicht ins Atelier gehört, ein
kreatives Werk entstehen. Kinder sollten immer wieder die Chance bekom-
men eigene Schemata zu entwickeln. Manche Versuche, Materialien frei zu
Ästhetische Bildung
104
Selbsttätige Aneignung
von Materialien und
Gestaltungstechniken
ermöglichen
Materialnutzung mit-
einander abstimmen
Kinder
Eltern
pädagogisches
Handeln
Rahmenbedingungen