Problembeschreibung
Antisemitismus
in Sachsen
Impressum
1. Auflage
Berlin 2021
Herausgegeben vom Bundesverband der Recherche-
und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
Gleimstraße 31, 10437 Berlin
Telefon: 030 817 985 818
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Mitarbeit und Redaktion
Raphael Hoffmann, Frederick Kannenberg,
Pia Lamberty, Bianca Loy, Daniel Poensgen, Benjamin Steinitz, Dora Streibl
Lektorat
Lars Breuer, Berlin
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Förderung:
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2
Inhalt
Impressum
2
Inhalt
3
1. Einleitung
5
1.1 Genese des Ansatzes
7
1.2 Arbeitsdefinition Antisemitismus
11
1.3 Ziele und Aufbau der Problembeschreibung
13
2. Sachsen auf einen Blick
15
2.1 Jüdinnen_Juden in Sachsen
16
2.2 Antisemitische Einstellungen in Sachsen
17
3. Antisemitismus in Sachsen aus der Sicht jüdischer Akteur_innen
20
3.1 Fragestellung, Methodik und Sample der Befragung
22
3.2 Das Verhältnis jüdischer Akteur_innen zu Stadt- und Zivilgesellschaft
23
3.3 Wahrnehmungen von Antisemitismus in Sachsen
27
3.3.1 Vorfalltypen des Antisemitismus in Sachsen
28
3.3.2 Tatorte antisemitischer Vorfälle in Sachsen
31
3.3.3 Gesellschaftlicher Umgang mit Antisemitismus in Sachsen
33
3.3.4 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Sachsen
34
3.3.5 Antisemitische Akteur_innen in Sachsen
37
3.4 Der Umgang jüdischer Akteur_innen mit Antisemitismus in Sachsen
39
3.4.1 Individuelle Umgangsweisen
39
3.4.2 Anzeige- und Meldeverhalten
43
3.4.3 Institutionelle Umgangsweisen
44
3.4.4 Wahrnehmung von Unterstützungsangeboten
46
3.5 Bedarfe
48
3.5.1 Bedarfe für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus
48
3.5.2 Anforderungen an eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle
50
3.6 Zusammenfassung: Antisemitismus im Bundesland aus der Perspektive jüdischer Akteur_innen
51
4. Antisemitismus in Sachsen aus staatlicher Perspektive
53
4.1 Lesehilfe für die PMK-Statistik
54
4.2 Hohe Dunkelziffer bei antisemitischen Vorfällen
56
4.3 Erkennen des antisemitischen Motivs von angezeigten Straftaten
59
4.4 Antisemitische und antiisraelische Straftaten
62
4.5. Verzerrungen durch die Zuordnung antisemitischer Straftaten zu „Phänomenbereichen“
65
4.6 Auswertung der PMK-Statistik über antisemitische Straftaten zwischen 2014 und 2019
67
4.6.1. Übersicht: Antisemitische Straftaten in der PMK-Statistik von 2014 bis 2019
68
4.6.2. Ermittlung von Tatverdächtigen in Sachsen
71
3
5. Vergleichende Analyse der polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Statistiken in Sachsen 73
5.1 Datengrundlage: zivilgesellschaftlich erfasste antisemitische Vorfälle 2014–2019
74
5.2 Geografische Verteilung antisemitischer Vorfälle 2014–2019
76
5.3 Vorfalltypen antisemitischer Vorfälle 2014–2019
79
5.4 Exkurs 1: Zivilgesellschaftliches Monitoring und staatliche Erfassung antisemitischer
Vorfälle beim Versammlungsgeschehen in Dresden
82
5.4.1 Hohes Dunkelfeld von (antisemitischen) Vorfällen und Straftaten
82
5.4.2 Post-Schoa-Antisemitismus und moderner Antisemitismus als kontinuierliche Ausdrucksformen
83
5.5. Auswertung antisemitischer Vorfälle 2014–2019 nach Erscheinungsformen von Antisemitismus
88
5.6 Antisemitische Vorfälle im Zeitverlauf 2014–2019
90
5.7 Tatorte antisemitischer Vorfälle 2014–2019
91
5.8 Exkurs 2: Erfahrungen eines jüdischen Gewerbetreibenden
92
5.9 Zusammenfassung: Vergleichende Analyse der polizeilichen und zivilgesellschaftlichen
Statistiken in Sachsen
95
6. Anforderungen an eine zukünftige Meldestelle
97
6.1 Internetbasiertes Meldeverfahren
98
6.2 Annahme von Meldungen
98
6.3 Verifizierung der Meldungen
99
6.4 Unterstützung für die Betroffenen
99
6.5 Erfassung in der bundesweiten Datenbank
100
6.6 Aufbau und Betreuung des Meldenetzwerks
101
6.7 Monitoring
102
6.8 Öffentlichkeitsarbeit
103
6.9 Anforderungen an Träger_innen und Mitarbeiter_innen
104
6.9.1 Institutionelle Anforderungen
104
6.9.2 Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Mitarbeiter_innen
106
6.9.3 Sonstige Anforderungen an die Mitarbeiter_innen
106
7. Zusammenfassung und Fazit
108
8. Abkürzungsverzeichnis
112
Anhang 1:
Arbeitsdefinition Antisemitismus
113
Anhang 2:
Anforderungen für die Arbeit als Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft
des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
116
4
1.
Einleitung
Am 9. Oktober 2019, zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, versuchte ein
rechtsextremer Attentäter im sachsen-anhaltinischen Halle, sich mithilfe selbst
gebauter Waffen Zutritt zur dortigen Synagoge zu verschaffen. Er tat dies in der
Absicht, die sich dort aufhaltenden betenden Jüdinnen_Juden zu ermorden. Als ihm
dies nicht gelang, tötete er aus sexistischen und rassistischen Motiven zwei Men-
schen in der Umgebung des Gotteshauses. Ungeachtet der weitverbreiteten Empö-
rung über den Anschlag in Halle musste der Bundesverband der Recherche- und
Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS e.V.) im darauffolgenden
Jahr wieder zahlreiche antisemitische Vorfälle dokumentieren – auch aus Sachsen.
Diese waren durchaus unterschiedlich. So zeigte eine junge Frau bei einer Gedenk-
feier am Internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus mehrfach
den Hitlergruß.
1
Ein Redner auf einer Demonstration gegen die staatlichen Anti-
Corona-Maßnahmen behauptete, „Nazi“ sei die Abkürzung für „Nationale Zio-
nisten“, diese kontrollierten Diamanten- und Bankgeschäfte.
2
Auch zahlreiche anti-
semitische Schmierereien wurden dem Bundesverband RIAS bekannt –
beispielsweise auf Kunstwerken im öffentlichen Raum oder auf Kinderspielplätzen.
Neben extremen Gewalttaten müssen Jüdinnen_Juden in Deutschland regelmäßig
weniger schwere Formen antisemitischer Vorfälle erfahren. Diese machen deutlich,
wie notwendig eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist. Ein
zentraler Bestandteil dieser Auseinandersetzung ist es, die Perspektiven der Betrof-
1
Heike Sabel, Hitlergruß bei Gedenkfeier für NS-Opfer gezeigt, in: Sächsische Zeitung vom 27. 1. 2020,
5165801.html, abgerufen am 19. 11. 2020.
2
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), Tweet vom 25. 5. 2020,
https://twitter.com/Report_Antisem/status/1264829192262299654, abgerufen am 19. 11. 2020.
5
fenen von Antisemitismus sichtbar zu machen. Die vorliegende Studie soll hierzu
einen Beitrag leisten. Sie stellt die Erfahrungen von Jüdinnen_Juden in Sachsen
mit antisemitischen Vorfällen dar, liefert zugleich aber auch einen Überblick dar-
über, zugleich aber auch einen Überblick darüber liefern, welches Wissen staatliche
und zivilgesellschaftliche Stellen über Antisemitismus im Freistaat Sachsen haben.
Die Erstellung der vorliegenden
Problembeschreibung Antisemitismus
in Sachsen
wurde im August 2020 zwischen dem Bundesverband RIAS und dem Sächsischen
Staatsministerium für Kultus vereinbart. Der Bundesverband RIAS griff hierfür auf
Interviews mit Vertreter_innen der sächsischen jüdischen Gemeinden zurück, die er
2018/2019 im Rahmen seines Projekts „Recherche- und Informationsstellen Anti-
semitismus – Bundesweite Koordination“ (RIAS – BK) geführt hatte.
Der im Oktober 2018 gegründete Bundesverband RIAS mit Sitz in Berlin ist ein
zivilgesellschaftlicher Fachverband, der jüdische und nicht-jüdische Perspektiven auf
Antisemitismus mit Expertise vereint. Neben der Bekämpfung von Antisemitismus
verfolgt er das übergeordnete Ziel, jegliche Formen von Antisemitismus aus einer
betroffenenorientierten und zivilgesellschaftlichen Perspektive bundesweit nach ein-
heitlichen Standards zu dokumentieren. Die Mitarbeiter_innen des Bundesverbands
RIAS halten dazu Vorträge und erstellen Publikationen. Der Verband ist vor allem auf
drei Ebenen aktiv:
–
Auf dem mehrsprachigen Onlinemeldeportal
können
Betroffenen und Zeug_innen aus dem gesamten Bundesgebiet antisemitische Vor-
fälle melden. Gegenwärtig bearbeiten Meldestellen in Trägerschaft aus den jewei-
ligen Ländern eingehende Meldungen aus Bayern, Berlin, Brandenburg,
Schleswig-Holstein, Thüringen und Niedersachsen. Meldungen aus Ländern, in
denen noch keine entsprechenden Meldestrukturen existieren, werden vom Pro-
jekt RIAS – BK bearbeitet.
–
Mit der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) etablierte der Bundesverband RIAS eine
Plattform zur Koordination und Weiterentwicklung der Arbeitsansätze sowie zur
Qualifizierung neuer regionaler Meldestellen. Im September 2019 hat die Bundes-
arbeitsgemeinschaft beispielsweise Mindestanforderungen für die Arbeit zivilge-
sellschaftlicher Anlaufstellen für antisemitische Vorfälle formuliert. Aktuell (Stand
Januar 2021) sind an der Bundesarbeitsgemeinschaft Projekte und Träger_innen
6
aus Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-
Holstein und Thüringen beteiligt.
–
Der Aufbau neuer zivilgesellschaftlicher Meldenetzwerke auf Länderebene wird
durch die Erstellung länderspezifischer
Problembeschreibungen
initiiert und
begleitet. Dazu gehört auch das vorliegende Papier. Mit den Problembeschrei-
bungen sollen einerseits jüdische Gemeinden gezielt angesprochen und aktiviert
werden. Andererseits sollen zivilgesellschaftliche Träger_innen sowie staatliche
Stellen in dem jeweiligen Bundesland für die Wahrnehmungen und Erfahrungen
von Jüdinnen_Juden bezüglich Antisemitismus sensibilisiert werden.
Die sächsische Staatsregierung hat auf ihrer Kabinettssitzung vom 10. November
2020 beschlossen, dass es zukünftig auch in Sachsen eine Meldestelle für antisemiti-
sche Vorfälle geben soll.
3
Medien berichteten übereinstimmend, dass ausschlagge-
bend hierfür die gleichbleibend hohe Zahl polizeilich gemeldeter antisemitischer
Straftaten gewesen sei, aber auch das Wissen über eine hohe Dunkelziffer antisemi-
tischer Vorfälle.
4
Die Entwicklung antisemitischer Straftaten in Sachsen zwischen
2014 und 2019, Überlegungen zur diesbezüglichen Dunkelziffer sowie die Wahr-
nehmungen dessen seitens sächsischer Jüdinnen_Juden ist auch Gegenstand der
vorliegenden Problembeschreibung.
1.1
Genese des Ansatzes
Die zivilgesellschaftlichen Meldestellen für antisemitische Vorfälle, die Mitglieder der
Bundesarbeitsgemeinschaft sind, orientieren sich bei ihrer Arbeit am Ansatz der
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin). Diese ist
angesiedelt beim Verein für Demokratische Kultur in Berlin e. V. (VDK). RIAS Berlin
hat im Rahmen des „Berliner Landesprogramms gegen Rechtsextremismus, Ras-
sismus und Antisemitismus“ seit Januar 2015 in Berlin in enger Zusammenarbeit mit
3
Sächsisches Staatsministerium für Kultus. Pressemitteilung: „Beauftragter für das Jüdische Leben in
Sachsen verlängert“ vom 11. 11. 2020,
abgerufen am 15. 12. 2020.
4
„Sachsen richtet Meldestelle für antisemitische Vorfälle ein“, in: Freie Presse vom 11. 11. 2020,
abgerufen am 19. 11. 2020.
7
jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen ein dichtes Meldenetzwerk für anti-
semitische Vorfälle aufgebaut. Mit dem Vorläufer von
schuf RIAS Berlin die bundesweit erste internetbasierte und mehrsprachige Mel-
demöglichkeit für antisemitische Vorfälle.
Ausgangspunkt für die Gründung von RIAS Berlin war eine Befragung in den Ber-
liner Synagogen gewesen, die der VDK 2014 in Kooperation mit der Amadeu
Antonio Stiftung (AAS) durchgeführt hatte.
5
Darin beschrieben die Befragten zahl-
reiche Erfahrungen mit Antisemitismus, schilderten Umgangsweisen von Betrof-
fenen und jüdischen Gemeinden mit Antisemitismus und beschrieben die dabei
gewonnenen Erkenntnisse über das Melde- und Anzeigeverhalten von Betroffenen.
Daraus erwuchs die Idee, RIAS Berlin zu gründen. Zentrale Wünsche der Befragten –
etwa nach einer engen Abstimmung einer Meldestelle mit jüdischen Organisationen
oder der Schaffung mehrsprachiger und niedrigschwelliger Meldeangebote –
wurden bei der Konzeption berücksichtigt. Die Befragung jüdischer Akteur_innen
war auch wichtig, um die Perspektive von Jüdinnen_Juden auf gegenwärtige Aus-
prägungen von Antisemitismus für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit sicht-
barer zu machen. Die Gesamtbevölkerung in Deutschland schätzt in ihrer großen
Mehrheit die aktuelle Verbreitung antisemischer Einstellungen als gering ein. So
waren einer Bertelsmann-Studie zufolge 2013 insgesamt 77
der befragten Deut-
schen der Auffassung, kaum jemand in Deutschland sei negativ gegenüber
Jüdinnen_Juden eingestellt.
6
Eine ganz andere Wahrnehmung herrscht dagegen in
jüdischen Communities vor. Bei einer Befragung unter deutschen Jüdinnen_Juden
2018 hielten 85 , Antisemitismus für ein großes oder sehr großes Problem in
Deutschland.
7
Es besteht also eine massive „Wahrnehmungsdiskrepanz“
8
bezüglich
5
Benjamin Steinitz, Wahrnehmungen und Erfahrungen Berliner Jüdinnen und Juden. Eine Befragung,
in: VDK/RIAS Berlin (Hrsg.), „Wir stehen alleine da.“ #EveryDayAntisemitism sichtbar machen und
Solidarität stärken. Neue Wege der Erfassung antisemitischer Vorfälle – Unterstützungsangebote für
die Betroffenen, Berlin 2015, S. 16–30.
6
Steffen Hagemann/Roby Natanson, Deutsche und Israelis heute. Verbindende Vergangenheit,
trennende Gegenwart, Gütersloh 2015, S. 38.
7
European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): Diskriminierung und Hasskriminalität
gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten. Experiences and perceptions of antisemitism. Second
survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU, Wien 2018.
8
Deutscher Bundestag, Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Drucksache
18/11970 vom 7.4.2017,
abgerufen am
26.9.2017, S. 13.
8
der Wahrnehmung von Antisemitismus bei Jüdinnen_Juden und in der Gesamtbe-
völkerung. Hinzu kommt eine Lücke in den polizeilichen Statistiken zu antisemiti-
schen Straftaten zum Ausdruck: Viele antisemitische Vorfälle, die Betroffene
alltäglich erleben, erfüllen keinen Straftatbestand. Sie werden daher nicht polizeilich
erfasst und bleiben dadurch in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar. Zudem
werden aus verschiedenen Gründen bei Weitem nicht alle strafrechtlich relevanten
Vorfälle angezeigt. Eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle
kann daher dazu beitragen, die alltäglichen Erfahrungen von Betroffenen sichtbarer
zu machen – und zwar unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz der Vorfälle
oder von ihrer Bewertung durch die Polizei. Daneben kann eine solche Meldestelle
unterschiedliche Formen der Unterstützung für Betroffene anbieten oder zumindest
vermitteln.
RIAS Berlin verfolgt somit das Ziel, Betroffene antisemitischer Vorfälle und deren
Perspektiven in der Öffentlichkeit zu stärken. Dies ist wichtig, zumal Betroffene
häufig in die Situation gebracht werden, sich für die Benennung des von ihnen
erlebten Antisemitismus rechtfertigen zu müssen. RIAS Berlin ist oft die einzige
vertrauenswürdige Anlaufstelle für Betroffene antisemitischer Vorfälle, ihre Ange-
hörigen oder Zeug_innen. Aufgrund des niedrigschwelligen und betroffenenorien-
tierten Angebots sowie der zielgruppenspezifischen Ansprache haben sich inzwi-
schen viele Mitglieder jüdischer Gemeinden, aber auch nicht-jüdische Menschen mit
ihren Erfahrungen und Beobachtungen an RIAS Berlin gewandt. Seit Beginn der
Erfassung 2015 wurden insgesamt 5.000 antisemitische Vorfälle registriert – unab-
hängig von ihrer strafrechtlichen Relevanz. Bereits im ersten Jahr wurde dabei eine
erhebliche Diskrepanz deutlich zwischen den antisemitischen Vorfällen in Berlin, die
RIAS Berlin bekannt wurden und jenen, die die polizeiliche Statistik auswies.
Viele Betroffene bringen antisemitische Vorfälle gar nicht erst zur Anzeige, da sie in
der Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass der ihnen widerfahrene Anti-
semitismus von der Polizei oder später von der Staatsanwaltschaft nicht als solcher
erkannt wurde. Vielfach mussten sie auch erleben, dass Ermittlungen ergebnislos
blieben, da keine Tatverdächtigen identifiziert werden konnten.
9
Positiv hervorzu-
heben ist die gestiegene Sensibilität des polizeilichen Staatsschutzes für solche Vor-
fälle und für die Betroffenen in Bayern, Berlin und Brandenburg. Hier hat ein
9
European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), 2018.
9
Austausch mit den jeweiligen Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus
bereits begonnen. In Berlin und Bayern wurde zudem die
Arbeitsdefinition Antisemi-
tismus
10
als verbindliche Orientierung für die polizeiliche Arbeit eingeführt. Zudem
hat die Berliner Polizei seit 2019 einen eigenen Antisemitismus-Beauftragten. Nicht
immer vorhanden ist die notwendige Sensibilität allerdings bei den einzelnen
Beamt_innen, die Strafanzeigen aufnehmen. Für die Betroffenen sind diese aber die
erste und mitunter auch der einzige Kontakt zu staatlichen Stellen. Zudem steht es
im Ermessen und damit in der Verantwortung dieser Beamt_innen, ob eine Straftat
als antisemitisch motivierte Straftaten kategorisiert und dementsprechend an den
polizeilichen Staatsschutz der Landeskriminalämter (LKA) gemeldet wird. In Berlin
wurde sich daher darauf verständigt, dass RIAS Berlin direkt das LKA informiert,
sobald Betroffene, die einen antisemitischen Vorfall angezeigt haben, dies wün-
schen. Eine solche Abstimmung mit polizeilichen Stellen erleichtert es Betroffenen,
Strafanzeige zu stellen. Eine höhere Zahl von Anzeigen erhöht wiederum die
Chancen auf Ermittlungsergebnisse. Außerdem fließen nur angezeigte Fälle in die
polizeiliche Statistik ein.
Das Projekt RIAS – BK arbeitet seit 2017 daran, eine Übertragung der Arbeitsweisen
von RIAS Berlin auf Meldestellen in anderen Bundesländern vorzubereiten und zu
begleiten. Dazu gibt es ebenfalls seit 2017 eine wissenschaftliche und strategische
Beratung durch die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle (EJGF) des Moses Mendels-
sohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ) der Universität Potsdam
sowie das Internationale Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung
(IIBSA) in Berlin. Mit seiner Gründung 2018 hat der Bundesverband RIAS das Projekt
RIAS – BK mit seinen Partner_innen in verschiedenen Bundesländern übernommen.
Gemeinsam mit der wissenschaftlichen Beratung durch MMZ und IIBSA hat er Kate-
gorien zur Erfassung antisemitischer Vorfälle entwickelt, die kontinuierlich überprüft
und weiterentwickelt werden. Darüber hinaus pflegt RIAS Berlin bereits seit 2015
einen engen fachlichen Austausch mit dem Community Security Trust (CST) in Groß-
britannien, einer der erfahrensten Organisationen in der Beobachtung und Erfas-
sung antisemitischer Vorfälle weltweit.
11
RIAS Berlin orientiert sich bei seiner
10 Der Polizeipräsident in Berlin. Landeskriminalamt. Zentralstelle für Prävention (Hrsg.): Konzept.
Antisemitismusbeauftragte/r der Polizei Berlin. Berlin 2019, S. 2.
11
Michael Whine, Grußwort, in: VDK/RIAS Berlin 2015, S. 2 f.
10
Erfassung antisemitischer Vorfälle am Kategoriensystem des CST. Der Bundesver-
band RIAS hat diese Erfassungssystematik inzwischen mit einigen Adaptionen über-
nommen. Der Bundesverband RIAS meldet die Ergebnisse seiner Erfassung
antisemitischer Vorfälle in Deutschland jedes Jahr an das Büro für Demokratische
Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie an die Agentur der Europäischen Union für
Grundrechte (FRA).
Seit dem 1. Januar 2020 bildet der Bundesverband RIAS gemeinsam mit dem Anne
Frank Zentrum in Berlin, der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main, der Kreuz-
berger Initiative gegen Antisemitismus in Berlin sowie dem Kompetenzzentrum für
Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
(ZWST) im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ beim Bundesminis-
terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Kompetenznetzwerk Antisemi-
tismus.
1.2
Arbeitsdefinition Antisemitismus
Die vorliegende Problembeschreibung folgt in ihrer inhaltlichen Bestimmung von
Antisemitismus der
Arbeitsdefinition Antisemitismus
(siehe Anhang 1). Diese bietet
eine Grundlage für die Einordnung, Bewertung und Beurteilung antisemitischer Vor-
fälle, die über die Definition antisemitischer Volksverhetzung nach § 130 StGB hin-
ausgeht und zugleich präziser ist. Am 20. September 2017 hat das Bundeskabinett
die
Arbeitsdefinition Antisemitismus
zur Kenntnis genommen und deren Berücksich-
tigung bei Justiz, Polizei und Bildungseinrichtungen dekretiert.
12
Im September 2019
wurde die Arbeitsdefinition als ergänzende Orientierung zur Bestimmung antisemiti-
scher Straftaten in den bundesweit einheitlichen polizeilichen Kriterienkatalog für
sogenannte politisch motivierte Kriminalität aufgenommen. Der Katalog bestimmt,
wann Straftaten als politisch motiviert dokumentiert werden.
Inhaltlich unterscheiden der Bundesverband RIAS und die Meldestellen in den ein-
12 Bundesregierung. Regierungspressekonferenz vom 20. September 2017,
abgerufen am 28. 8. 2018.
11
zelnen Bundesländern bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle fünf verschiedene
Erscheinungsformen von Antisemitismus:
Beim
antisemitischen Othering
werden jüdische (aber auch nicht-jüdische) Per-
sonen oder Institutionen als fremd bzw. nicht zugehörig zur Mehrheitsgesellschaft
markiert. Dazu gehört auch, wenn sie in abwertender oder ausgrenzender Weise als
„Jude“ bezeichnet werden.
Beim
antijudaistischen Antisemitismus
werden religiös begründete antisemiti-
sche Stereotype verwendet, etwa die Behauptung, Jüdinnen_Juden seien verant-
wortlich für den Tod von Jesus. Diese Erscheinungsform umfasst auch jegliche
Feindschaft gegenüber dem Judentum als Religion.
Beim
modernen Antisemitismus
wird Jüdinnen_Juden – etwa im Kontext Ver-
schwörungsmythen – eine besondere politische oder ökonomische Macht zuge-
schrieben. Diese Erscheinungsform kennzeichnet antisemitische Stereotype, die mit
der Herausbildung der modernen Industriegesellschaften entstanden sind.
Der
Post-Schoa-Antisemitismus
13
bezieht sich auf den Umgang mit dem National-
sozialismus und der Schoa, beispielsweise wenn die Erinnerung an die NS-Verbre-
chen infrage gestellt oder antisemitisch abgewehrt wird.
Israelbezogener Antisemitismus
beschreibt antisemitische Aussagen oder Stereo-
type, die sich gegen den jüdischen Staat Israel richten, etwa dessen Legitimität
angezweifelt oder er dämonisiert wird.
Zudem unterscheidet der Bundesverband RIAS bei antisemitischen Vorfällen sechs
verschiedene Vorfalltypen:
Als
extreme Gewalt
gelten physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von
Menschenleben zur Folge haben können oder die im strafrechtlichen Sinne schwere
Körperverletzungen darstellen.
Als
Angriff
gelten körperliche Angriffe auf Personen, die keine lebensbedrohlichen
oder schwerwiegenden körperliche Schädigungen nach sich ziehen. Auch versuchte
Angriffe werden erfasst.
13 Angelehnt an den von Schwarz-Friesel und Reinharz vorgeschlagenen Begriff des
Nachkriegsantisemitismus verwendet RIAS Berlin den Begriff des Post-Schoa-Antisemitismus für
antisemitische Ausdrucksformen, die sich verherrlichend, leugnend, relativierend, im Sinne einer
sogenannten Schlussstrich-Mentalität oder der Figur der „Täter-Opfer-Umkehr“ auf die Schoa
beziehen. Vgl.: Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im
21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2013, S. 95 ff.
12
Als
Bedrohung
gilt jegliche eindeutige und konkret an eine Person oder Institution
adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalthandlungen.
Unter einer
gezielten Sachbeschädigung
wird die Beschädigung oder Beschmut-
zung jüdischen Eigentums verstanden, etwa durch antisemitische Symbole, Plakate
oder Aufkleber. Dazu zählt auch die Beschädigung oder Beschmutzung von
Gedenkstätten, Gedenktafeln, Stolpersteinen oder anderer Erinnerungszeichen für
die Opfer der Schoa, inklusive der Geschäftsstellen entsprechender Institutionen.
Als
verletzendes Verhalten
werden sämtliche antisemitischen Äußerungen gegen-
über jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen erfasst. In die Kate-
gorie fallen aber auch antisemitische Aussagen oder Beschimpfungen gegenüber
nicht-jüdischen Personen oder Institutionen.
Online
getätigte antisemitische Äuße-
rungen werden als verletzendes Verhalten registriert, wenn sie direkt an eine kon-
krete Person oder Institution adressiert sind.
Versammlungen
gelten als
verletzendes Verhalten, wenn deren Redebeiträge, Parolen, mitgeführte Transpa-
rente oder Aufrufe antisemitische Aussagen enthalten.
Als
Massenzuschrift
werden schließlich antisemitische Zuschriften erfasst (etwa
Briefe, aber auch E-Mails), die nicht gezielt an einzelne Personen oder Institutionen
adressiert sind, sondern sich an einen größeren Kreis von Personen richten.
1.3
Ziele und Aufbau der Problembeschreibung
Die vorliegende Problembeschreibung soll den zuständigen staatlichen Stellen und
zivilgesellschaftlichen Träger_innen im Freistaat Sachsen Anregungen zur Erfassung
und Prävention von Antisemitismus bieten. Insbesondere will sie die Einrichtung
einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle in Sachsen anregen. Diese sollte sich mög-
lichst an den Bedarfen orientieren, die in dieser Problembeschreibung skizziert
werden (Vgl. Abschnitt 6).
Um Ausmaß und Ausprägungen von Antisemitismus in Sachsen möglichst präzise
einschätzen zu können, hat der Bundesverband RIAS Erkenntnisse aus verschie-
denen Quellen herangezogen. Dazu zählen Untersuchungen zu antisemitischen Ein-
stellungen, polizeiliche und zivilgesellschaftliche Dokumentationen antisemitischer
Vorfälle sowie Wahrnehmungen von Betroffenen solcher Vorfälle. Die vergleichende
13
Betrachtung dieser Quellen soll dazu beitragen, das Phänomen Antisemitismus in
seiner Vielschichtigkeit besser zu verstehen und adäquat zu beschreiben.
14
Das mul-
timethodische Vorgehen und die Struktur orientieren sich dabei an Problembe-
schreibungen, die der Bundesverband RIAS und der VDK zusammen mit weiteren
Kooperationspartner_innen bereits für die Bundesländer Bayern, Baden-Württem-
berg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt erstellt hat.
Der folgende Abschnitt 2 liefert einige grundlegende soziodemografische Informati-
onen über den Freistaat Sachsen und die dort lebenden Jüdinnen_Juden. Zudem
wird eine Studie zu Antisemitismus in Sachsen vorgestellt. Abschnitt 3 erörtert
Ergebnisse einer qualitativen Befragung. Vorwiegend jüdischer Akteur_innen aus
Sachsen wurden darin zu ihren Wahrnehmungen von Antisemitismus und zu ihrem
Umgang mit antisemitischen Vorfällen interviewt. Abschnitt 4 stellt die polizeiliche
Erfassung antisemitischer Straftaten in Sachsen vor und Abschnitt 5 die bisherige
zivilgesellschaftliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle im Freistaat. In
Abschnitt 6 werden Schlussfolgerungen aus den vorherigen Abschnitten gezogen
und daraus abgeleitet die Anforderungen an eine zivilgesellschaftliche Meldestelle
für antisemitische Vorfälle beschrieben. Abschnitt 7 fasst die wichtigsten Ergebnisse
der Problembeschreibung noch einmal zusammen.
14 Michael Whine, Can the European Agencies Combat Antisemitism Effectively?, in: Israel Journal of
Foreign Affairs 11 (2018) 3, S. 371–281.
14
2.
Sachsen auf einen Blick
Sachsen ist mit einer Fläche von 18.416 Quadratkilometern das zehntgrößte deut-
sche Bundesland und nimmt mit mehr als vier Millionen Einwohner_innen (Stand:
Dezember 2019) in Bezug auf die Bevölkerungsanzahl eine mittlere Position unter
den 16 Bundesländern ein.
15
Die Bevölkerungsdichte von 221 Einwohner_innen pro
Quadratkilometer entspricht etwa dem bundesweiten Durchschnitt.
Der Bundesverband RIAS unterscheidet in seinen Analysen vier Raumtypen: Metro-
polen mit mehr als 500.000 Einwohner_innen (Leipzig und Dresden), Großstädte
mit zwischen 100.000 und 500.000 Einwohner_innen (Chemnitz), Mittelstädte mit
20.000 bis 100.000 Einwohner_innen (u. a. Zwickau, Plauen oder Görlitz) sowie
Kleinstädte und ländliche Regionen mit weniger als 20.000 Einwohner_innen. 28
der Bevölkerung Sachsens leben in Metropolen, 6
in Großstädten, 39
in Mittel-
städten sowie 47
in Kleinstädten und ländlichen Regionen.
Die Verwaltungsgliederung des Freistaates Sachsen umfasst zehn Landkreise und
drei kreisfreie Städte. Der bevölkerungsreichste Landkreis ist der Erzgebirgskreis mit
gut 333.000 Einwohner_innen. Die wenigsten Menschen wohnen mit knapp
198.000 Einwohner_innen im Landkreis Nordsachsen.
16
Polizeilich gliedert sich das Bundesland in fünf Polizeidirektionen: Chemnitz,
Dresden, Görlitz, Leipzig und Zwickau. Die Polizeidirektion Chemnitz umfasst neben
der kreisfreien Stadt Chemnitz die Landkreise Mittelsachsen und Erzgebirgskreis. Zur
Polizeidirektion Dresden gehören neben der kreisfreien Stadt Dresden die Kreise
15 Statista, Bevölkerung – Anzahl der Einwohner in den Bundesländern in Deutschland am
31. Dezember 2019, veröffentlicht im Juni 2020,
abgerufen am 8. 12. 2020.
16 Sächsische Staatskanzlei, Bevölkerungsstand, Einwohnerzahlen. Eckdaten für Sachsen. Stand
31. Dezember 2019,
abgerufen am 8. 1. 2021.
15
Meißen und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Die Polizeidirektion Görlitz umfasst
die Landkreise Bautzen und Oberlausitz. Die Polizeidirektion Leipzig besteht aus der
kreisfreien Stadt Leipzig sowie den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen. Zur Poli-
zeidirektion Zwickau gehören schließen der Vogtlandkreis und der Landkreis Zwi-
ckau.
Bezüglich der Religionszugehörigkeit ähnelt Sachsen anderen ostdeutschen Bundes-
ländern. Der Anteil Konfessionsloser ist hoch: Laut Mikrozensus von 2011 gehören
knapp 73
der Bevölkerung Sachsens keiner öffentlich-rechtlichen Religionsge-
meinschaft an. Bundesweit beträgt dieser Anteil etwa 33
. Knapp 22
der Bevöl-
kerung Sachsens sind evangelisch, etwa 4
römisch-katholisch. Knapp 1
geben
an, Mitglied einer evangelischen Freikirche und 0,3
Mitglied einer orthodoxen
Kirche zu sein. Die Zahl der Mitglieder sonstiger Religionsgemeinschaften wird mit
1
angegeben. Der Anteil von Muslim_innen und Jüdinnen_Juden an der
Gesamtbevölkerung ist nach diesen Angaben so gering, dass er prozentual nicht
genau bestimmt werden kann.
17
2.1
Jüdinnen_Juden in Sachsen
Die Anzahl der Jüdinnen_Juden in Sachsen lässt sich nur schätzen. Zwar gibt es
Angaben vom Zentralrat der Juden in Deutschland sowie eine Mitgliederstatistik der
jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Sachsen. Diese hat die ZWST 2018
herausgegeben.
18
Allerdings erfasst die ZWST-Statistik nur Gemeindemitglieder, die
Mitglieder einer der drei jüdischen Gemeinden in Sachsen sind, die dem Zentralrat
angehören. Jüdinnen_Juden, die entweder keiner Gemeinde angehören oder Mit-
glieder anderer Verbände sind, werden darin nicht erfasst. Aufgrund ihrer bundes-
weit einheitlichen Zählweise werden die Daten der ZWST jedoch in der vorliegenden
Problembeschreibung als Grundlage verwendet.
17 Zensus 2011: Bevölkerung im regionalen Vergleich nach Religion.
abgerufen am 10. 12. 2020.
18 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST): Mitgliederstatistik.
und Zentralrat der Juden: Landesverbände
abgerufen am 10. 12. 2020.
16
In Sachsen gibt es drei jüdische Gemeinden, die dem Zentralrat der Juden in
Deutschland angehören: die Jüdische Gemeinde Chemnitz, die Jüdische Gemeinde
zu Dresden und die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig. Diese drei
Gemeinden hatten 2018 insgesamt 2.524 Mitglieder.
19
Das entspricht weniger als
0,001
der Gesamtbevölkerung Sachsens. Die Israelitische Religionsgemeinde zu
Leipzig ist mit 1.196 Mitgliedern die größte im Bundesland. Die Jüdische Gemeinde
zu Dresden hat 707 Mitglieder, die Jüdische Gemeinde Chemnitz 537. Der Landes-
verband Sachsen der Jüdischen Gemeinden hat seinen Sitz in Dresden. Er ist eben-
falls Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland sowie der ZWST. Der
überwiegende Teil der Mitglieder dieser drei Gemeinden sind laut ZWST-Statistik
Einwander_innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Dies erklärt auch den starken
Anstieg der Mitgliederzahlen seit 1994. In diesem Jahr hatte der Landesverband in
ganz Sachsen lediglich 244 Mitglieder.
2.2
Antisemitische Einstellungen in Sachsen
Antisemitismus ist ein weitverbreitetes gesellschaftliches Phänomen, seine verschie-
denen Ausprägungen und Ausdrucksweisen finden sich in allen gesellschaftlichen
Schichten und Milieus. Das gilt auch für Sachsen.
Zu den für diese Problembeschreibung ausgewerteten Quellen gehören auch Unter-
suchungen antisemitischer Einstellungen (siehe Abschnitt 1.3). Der Sachsen-Monitor
enthält Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die im Auftrag der Sächsischen
Staatskanzlei 2016, 2017 und 2018 durchgeführt wurde.
20
Darin wurden auch zwei
Fragen mit Bezug zu Antisemitismus gestellt. Diese beziehen sich auf die Erschei-
nungsformen Post-Schoa-Antisemitismus und antisemitisches Othering (Vgl.
Abschnitt 1.2). Andere Erscheinungsformen wie israelbezogener oder moderner
Antisemitismus wurden nicht erhoben.
19 ZWST: Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr
2018.
abgerufen am 10. 12. 2020.
20 Soweit dem Bundesverband RIAS bekannt, ist dies die einzige quantitative Studienreihe, die
antisemitische Einstellungen in Sachsen erhebt.
17
Abbildung 1
Zustimmung zu antisemitischen Aussagen nach Jahren laut Sachsen-Monitor (in Prozent).
Der Aussage „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an
sich und passen nicht so recht zu uns“ stimmten 2018 insgesamt 11
der Befragten
„voll“ oder „eher“ zu. Bei männlichen Befragten (15
), Personen zwischen 18 und
29 Jahren (15
), Arbeitslosen (18
) sowie Befragten mit Hauptschulabschluss
(17
) waren die Zustimmungswerte überdurchschnittlich hoch. Signifikante
geografische Unterschiede ließen sich hingegen nicht feststellen – weder bezogen
auf die Landespolizeidirektionen, noch bezogen auf die unterschiedlichen
Raumtypen.
Der Aussage „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während
der Nazi-Zeit die Opfer gewesen sind“ stimmten 2018 insgesamt 21
der Befragten
„voll“ oder „eher“ zu. Auch hier waren die Zustimmungswerte bei Befragten zwi-
schen 18 und 29 Jahren höher (26
). Signifikante geografische Unterschiede ließen
sich auch hier nicht feststellen.
21
21 Staatsregierung Sachsen: Sachsen-Monitor 2018.
download/auswertungstabllen-sachsen-monitor-2018.pdf, abgerufen am 10. 12. 2020.
18
2016
2017
2018
0 %
10 %
20 %
30 %
25%
16%
21%
13%
10%
11%
Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer gewesen sind
Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich undpassen nicht so recht zu uns
Auffällig ist die hohe Zustimmung bei jüngeren Befragten. In anderen Studien, etwa
in der sogenannten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
22
zeigten Befragte
unter 30 Jahren üblicherweise am seltensten Zustimmung zu antisemitischen Aus-
sagen. Der
Sachsen-Monitor
kommt hingegen zu dem Schluss, Antisemitismus sei
bei jungen Menschen am weitesten verbreitet. Dieser Befund deutet auf spezifische
Aufgaben bei der Präventionsarbeit hin.
Generell beinhaltet die quantitative Messung antisemitischer Einstellungen und Ste-
reotype das Phänomen sozialer Erwünschtheit seitens der Befragten. Damit ist die
Tendenz der Befragten gemeint, Antworten zu geben, die einer möglichst positiven
Selbstdarstellung zuträglich sind. So vermeiden es Befragte mitunter, offen ihre Mei-
nung zu sagen, wenn sie denken, dass diese gesellschaftlich weniger anerkannt ist.
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass diese Tendenz bei der Untersuchung anti-
semitischer Denkweisen besonders relevant ist.
23
22 Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan, Verlorene Mitte – Feindselige Zustände.
Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19 [Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska
Schröter], Bonn 2019.
23 Roland Imhoff/Rainer Banse: Ongoing Victim Suffering Increases Prejudice: The Case of Secondary
Anti-Semitism. In: Psychological Science 20 (12) (2009), S. 1443–1447.
19
3.
Antisemitismus in Sachsen aus der Sicht
jüdischer Akteur_innen
Bei Debatten über Antisemitismus in Deutschland richtet sich der Blick meist vor-
rangig auf jene, die sich antisemitisch äußern oder antisemitisch handeln. Zudem
wird das Ausmaß von Antisemitismus in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals vor
allem dadurch bestimmt, wie viele Straftaten die Polizei registriert hat oder wie
hoch die Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen in Einstellungsunter-
suchungen sind. Die Auswertung dieser Quellen ist zweifelsohne wichtig für eine
adäquate Beschreibung des Problems Antisemitismus. Dennoch spart sie eine zen-
trale Perspektive auf Antisemitismus aus, nämlich diejenige der – tatsächlich oder
potenziell – von Antisemitismus betroffenen Jüdinnen_Juden.
Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestags (UEA)
sprach in diesem Zusammenhang bereits 2017 von einer „Perspektivendivergenz“
zwischen der Wahrnehmung von Antisemitismus durch die nicht-jüdische Mehr-
heitsgesellschaft und Jüdinnen_Juden. Im UEA-Bericht von 2017 heißt es: „Vieles an
dem Erleben von Antisemitismus bleibt für die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft
unsichtbar.“
24
Auch Antisemitismusforschende sehen die Perspektive derjenigen, die
mit Antisemitismus unmittelbar konfrontiert werden – also von Jüdinnen_Juden –
als zentral für dessen Beschreibung an.
25
Doch obwohl Antisemitismus hierzulande
seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Disziplinen erforscht wird, wurde diese Per-
24 Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hrsg.): Antisemitismus
in Deutschland – aktuelle Entwicklungen.
abgerufen am 24. 11. 2020, S. 97.
25 Vgl.: Andreas Zick/Andreas Hövermann/Silke Jensen/Julia Bernstein: Jüdische Perspektiven auf
Antisemitismus. Bielefeld 2017.
20
spektive in Deutschland erst in den letzten Jahren Gegenstand von Studien.
26
Nicht
nur in der Wissenschaft werden jüdische Wahrnehmungen von Antisemitismus zu
wenig berücksichtigt. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Antisemitismus
müssten aus Sicht des Bundesverbands RIAS die Perspektive der Betroffenen stärker
zum Ausgangspunkt ihrer Aktivitäten machen.
Hinzu kommt, dass keine der bisher vorliegenden Studien explizit auf die Situation
in Sachsen eingeht. Deshalb hat der Bundesverband RIAS im Winter 2018/2019 eine
Befragung in Sachsen durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt
werden. Befragt wurden vorwiegend jüdische Akteur_innen sowie einzelne nicht-
jüdische zivilgesellschaftliche Akteur_innen. Dabei lag der Fokus darauf, wie
Jüdinnen_Juden Antisemitismus wahrnehmen und welchen Umgang mit antisemiti-
schen Vorfällen sie schildern. In diesem Abschnitt werden zunächst die Zusammen-
setzung der Befragten, die angewandten Forschungsmethoden sowie die
Interviewfragen erläutert (Abschnitt 3.1). Danach wird das Verhältnis jüdischer
Akteur_innen zu Politik und Zivilgesellschaft in Sachsen behandelt (Abschnitt 3.2)
sowie anschließend die Frage, wie diese Akteur_innen Antisemitismus in Sachsen
wahrnehmen (Abschnitt 3.3). Im Mittelpunkt steht dabei, mit welchen Erschei-
nungsformen von Antisemitismus, mit welchen antisemitischen Akteur_innen sowie
mit welchen Ereignissen und Entwicklungen sich die Befragten in Sachsen beson-
ders konfrontiert sehen. Im Anschluss daran werden die individuellen und institutio-
nellen Umgangsweisen der Befragten mit Antisemitismus skizziert (Abschnitt 3.4).
Abschließend werden die von den befragten Jüdinnen_Juden formulierten Bedarfe
für eine zukünftige Auseinandersetzung mit Antisemitismus dargestellt (Abschnitt
3.5). Am Ende des Abschnitts steht eine kurze Zusammenfassung (Abschnitt 3.6)
26 Vgl. zum Antisemitismus an Schulen: Julia Bernstein: „Mach mal keine Judenaktion!“
Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen
Antisemitismus. Frankfurt 2018.
abgerufen am 20. 10. 2020.
21
3.1
Fragestellung, Methodik und
Sample der Befragung
Eine Interviewer_in führte im Winter 2018/2019 insgesamt 19 leitfadengestützten
Interviews mit insgesamt 23 Personen durch: Darunter waren 17 Gespräche mit Ein-
zelpersonen und zwei Gruppeninterviews mit jeweils drei Befragten. Der Kontakt zu
den Befragten kam dadurch zustanden, dass die Interviewer_in in intensivem Aus-
tausch mit den jüdischen Communities in Sachsen steht, allen voran mit den drei
jüdischen Gemeinden. Neben Funktionsträger_innen und Repräsentant_innen jüdi-
scher Gemeinden und Institutionen wurden auch Personen befragt, die innerhalb
einer jüdischen Gemeinde bzw. Institution als Ansprechpersonen für das Thema
Antisemitismus wahrgenommen werden. Zu den Befragten gehörten aber auch Per-
sonen, die aufgrund ihrer beruflichen, künstlerischen oder ehrenamtlichen Tätigkeit
öffentlich als Jüdinnen_Juden wahrnehmbar und mit Antisemitismus konfrontiert
sind. Drei der 23 Befragten sind nicht-jüdische, zivilgesellschaftliche Akteur_innen
aus Sachsen. Sie beschäftigen sich mit Bildungsarbeit zu den Themen Antisemi-
tismus und Erinnerung an jüdisches Leben bzw. die Schoa.
Die Befragung wurde in Form von leitfadengestützten und „problemzentrierten“
27
Interviews durchgeführt.
28
Die Fragen wurden in Anlehnung an narrative Interview-
techniken
29
formuliert. Eine Frage nach konkreten Erinnerungen bspw. an konkrete
antisemitische Vorfälle sollte die Befragten zu ausführlicheren Erzählungen anregen.
Die Interviews gingen auch auf regionale Spezifika ein, beispielsweise auf die spezi-
fische Situation jüdischer Gemeinden und jüdischen Institutionen in bestimmten
Städten, aber auch auf medial bekannt gewordene antisemitische Vorfälle. Im
Anschluss an die Befragung wurden die Interviews nach einheitlichen Regeln tran-
skribiert. Die transkribierten Interviews wurden in einem mehrstufigen, an die
Grounded Theory angelehnten Verfahren mithilfe des Analyseprogramms MAXQDA
27 Andreas Witzel: The Problem-Centered Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung, Jahrgang 1,
Nr. 1 (2000): Art. 22.
abgerufen am 20. 10.2020.
28 Kai Niebert/Harald Gropengießer: Leitfadengestützte Interviews. In: Dirk Krüger et al. (Hrsg.):
Methoden in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung. Heidelberg 2014, S. 121–133.
29 Gabriele Rosenthal/Ulrike Loch: Das Narrative Interview. In: Doris Schaeffer/Gabriele Müller-Mundt
(Hrsg.): Qualitative Gesundheits- und Pflegeforschung. Bern u.a. 2002, S. 221–232.
22
codiert. Dabei wurde das Material in mehreren Verfahrensschritten analysiert und
aus dem Material Hypothesen entwickelt.
30
Die Codings wurden schließlich in
Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring analysiert.
31
Bei einem
Validierungstreffen im Februar 2020 wurden mit einem großen Teil der Befragten
erste Thesen diskutiert, die durch ein Close-Reading-Verfahren gewonnen worden
waren. Diese Diskussion wurde bei der nachfolgenden Darstellung berücksichtigt.
Die Herangehensweise der vorliegenden Problembeschreibung ähnelt methodisch
dem Vorgehen bereits vorliegender Problembeschreibungen zu Antisemitismus in
Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-
Anhalt.
32
Die Interviewten wurden nicht ausschließlich als Expert_innen befragt –
z. B. in ihrer Rolle als Funktionsträger_innen und Repräsentant_innen jüdischer
Organisationen, also mit einem mehr oder weniger professionellem Zugang zum
Thema –, sondern auch als potenziell und tatsächlich Betroffene von Antisemi-
tismus. Sie haben daher auch ihre persönlichen und lebensgeschichtlichen Perspek-
tiven in die Interviews eingebracht. In der Regel ist ihre Beschäftigung mit
Antisemitismus zwar zwangsweise Bestandteil ihrer Arbeit, aber nicht deren zen-
traler Inhalt. Die professionelle Expertise der Befragten liegt meist in anderen
Themenfeldern oder Bereichen.
3.2
Das Verhältnis jüdischer Akteur_innen
zu Stadt- und Zivilgesellschaft
Nicht nur die jeweiligen jüdischen Gemeinden und Institutionen sind Teil der Stadt-
und Zivilgesellschaft in Chemnitz, Dresden und Leipzig, sondern auch einzelne
Jüdinnen_Juden – als Künstler_innen, Gewerbetreibende oder Vereinsmitglieder.
Stadtgesellschaft wurde bei der Auswertung definiert als Summe öffentlicher Ein-
richtungen in staatlicher Träger_innenschaft, die entscheidend zum kulturellen und
öffentlichen Leben einer Stadt beitragen. Eine befragte Person sagt dazu: „Nach
30 Jörg Strübing: Grounded Theory. Wiesbaden 2004.
31 Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Uwe Flick et al. (Hrsg.): Handbuch qualitative
Forschung: Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. München 1991, S. 209–213.
32 Vgl. die publizierten Problembeschreibungen unter
abgerufen am 8. 12. 2020.
23
meiner Einschätzung ist die Gemeinde sehr gut eingebunden in das gesellschaftliche
Gefüge der Stadt“. Die Hälfte der Befragten, allesamt in Dresden, Sachsen oder
Chemnitz aktiv, bewerten das gegenwärtige Verhältnis ihrer Gemeinde oder Institu-
tion zur städtischen Zivilgesellschaft sowie zur Politik überwiegend positiv. Eine
befragte Person beschreibt das Verhältnis jedoch als distanziert und instrumentell:
„Nach meinem persönlichen Gefühl sind wir fremd in der Stadt. Und die Stadt
duldet uns, bis sie, die Stadt, bis sie uns braucht. Also ein Fall in dem Sinne: Ja, wir
sind mit Juden befreundet, bei uns ist alles gut und bitteschön: Frau Vorsitzende
oder Herr Vorsitzender.“ Eine andere befragte Person ordnet das Verhältnis ähnlich
ein: „Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass sich die Stadt mit uns als Gemeinde
zu besonderen Anlässen schmückt. Und wenn die vorbei sind, dann vergisst man
uns am besten“.
Einige Befragte heben die Sensibilisierung bestimmter Politiker_innen für das Thema
Antisemitismus positiv hervor, etwa von Oberbürgermeister_innen. Andere Befragte
betonen gute Beziehungen zu Politiker_innen auf Landesebene. Diese bemühten
sich um die jüdischen Communities. Einer befragten Person erscheint die staatliche
Politik zum Themenfeld Antisemitismus und Judentum jedoch zuweilen unvermittelt:
„Im Land, die haben ja bald so einen Antisemitismusbeauftragten. Ehrlich gesagt,
ich weiß gar nicht richtig, was ich mit dem anfangen soll.“
33
Drei Befragte sehen die
Unterstützung beispielsweise durch Spenden, die bei Wohltätigkeitsveranstaltungen
eingeworben werden, als deutlichen Ausdruck einer stadtgesellschaftlichen Koope-
ration mit der jeweiligen jüdischen Gemeinde oder Institution an. Mit solchen
Spenden könnten nach Aussagen eines Befragten beispielsweise Gebäude oder
Friedhöfe renoviert oder eine Thora-Rolle angeschafft werden, was sonst teilweise
nicht möglich sei. Einige Befragte haben hingegen den Eindruck, ihre Institutionen
bekämen umfassende staatliche Unterstützung. Drei andere Befragte sind zufrieden
mit der Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen, während wenige Befragte diesbe-
züglich ein Defizit benennen.
Wie ausgeprägt die Beziehungen mit der Nachbar_innenschaft vor Ort genau sind,
ist aus Sicht einiger Befragter abhängig von der geografischen Lage ihrer Institution,
33 Die Berufung von Dr. Thomas Feist zum Beauftragten für jüdisches Leben in Sachsen fand am
5. März 2019 statt, vgl.: Sächsische Staatskanzlei:
abgerufen am 20. 10. 2020.
24
also beispielsweise davon, ob es im direkten lokalen Umfeld Anwohner_innen oder
andere Einrichtungen bzw. Organisationen gäbe. Diesbezüglich treten in den Inter-
views deutliche Unterschiede zutage. Zwei Befragte beschreiben das Verhältnis zur
Nachbarschaft in ihrer Stadt als besonders gut. So gäbe es langjährige Beziehungen
zu einem nahe gelegenen Bildungsverein, dessen Fokus die gesellschaftliche Ausein-
andersetzung mit Antisemitismus sei.
Den Kontakt zu Bildungseinrichtungen wie Schulen, Volkshochschulen oder Univer-
sitäten beschreiben die meisten Befragten als eng und intensiv. Viele Befragte
kommen im Verlauf des Interviews mehrfach auf Bildungsarbeit und den Kontakt zu
den unterschiedlichen Bildungseinrichtungen zu sprechen. Eine Befragte formuliert
das zentrale Anliegen ihrer langjährigen Arbeit so: „Mein Hauptaugenmerk habe ich
darauf gelegt, in Schulen zu gehen, Vorträge zu halten und Führungen in der Syn-
agoge zu machen.“ Die Bedeutung schulischer Bildungsarbeit unterstreichen auch
andere Befragte, wenn sie beispielsweise von mehreren Tausend Schüler_innen
berichten, die jährlich die örtliche Synagoge besuchten. Eine Befragte betont in
ihrer Beschreibung die Zusammenarbeit mit Schulen am 27. Januar, dem Tag des
Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus: „Die Schüler_innen lesen die
Namen der Jüdinnen_Juden und Sintize_Sinti und Romnija_Roma und Zwangs-
arbeiter_innen vor“.
Die Beteiligung an der öffentlichen Erinnerung an die Schoa und an jüdisches Leben
in Deutschland spielt in vielen Interviews eine zentrale Rolle, etwa wenn Befragten
ihr Verhältnis zur lokalen Zivilgesellschaft beschreiben. Hierunter fallen
Zeitzeug_innengespräche, die Beteiligungen an Gedenkveranstaltungen sowie eine
Vielzahl weiterer Aktivitäten. Zwei Drittel der Befragten erwähnen die Vermittlung
von Wissen über jüdisches Leben in der Gegenwart, insbesondere im Rahmen von
Synagogenbegehungen und interreligiösen Bildungsangeboten. Daneben berichten
Befragte von einer Sensibilisierung für Antisemitismus von Lehrer_innen,
Politiker_innen, Polizist_innen oder Sportvereinen. Vier Befragte sehen die Sichtbar-
machung von Antisemitismus auch als Aufklärungsversuch an.
Vor dem Hintergrund dieses gemeinsamen Engagements beschreibt die Hälfte der
Befragten ihr Verhältnis zur lokalen Zivilgesellschaft als ein gutes und solides Netz-
werk. Die Interviewten setzen dabei jedoch unterschiedliche Schwerpunkte: Eine
Person hebt die Rolle des kulturellen Austauschs hervor. Gerade angesichts der viel-
25
schichtigen Beziehungen zur Zivilgesellschaft verorten sich die Befragten meist als
Teil eben jener. Diese wahrgenommene Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Prozessen
betrifft auch den Kampf gegen Antisemitismus, wie es ein_e Befragte_r deutlich
ausdrückt: „Wir als Einrichtung sind ein Teil von der Gesellschaft und eine Institu-
tion, die dafür steht, Antisemitismus zu bekämpfen.“ Eine andere befragte Person
betont die gute Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft als etwas, das in dieser
Stadt besonders sei . Angesichts zahlreicher rechtsextremer Aufmärsche habe es
schon lange einen engen Kontakt zur Zivilgesellschaft gegeben, lange bevor die
Stadtregierung sich um dieses Thema gekümmert habe. Resümierend sagt die Inter-
viewte: „Die Gemeinde ist, muss ich einfach mal so sagen, ein selbstverständlicher
und anerkannter Partner in diesem Bereich.“
Bezogen auf zivilgesellschaftliche Akteur_innen äußert kein_e einzige_r Befragte_r
Skepsis oder nennt Erfahrungen, die eine Distanzierung hervorgerufen hätten.
Lediglich eine befragte Person gibt an, mit bestimmten Aktionsformen nichts
anfangen zu können, diese aber zugleich grundsätzlich wertzuschätzen. Im Fokus
einiger Befragter stehen insbesondere Kontakte zu Sportvereinen. Diese reichen von
eigenen Vereinsaktivitäten bis hin zu Ansprachen zur Sensibilisierung in Bereich Anti-
semitismus bei Fangruppen. Ein Drittel der Befragten erwähnt die Gesellschaft für
christlich-jüdische Zusammenarbeit. Einige der Befragten sind selbst dort aktiv,
andere verweisen darauf, dass die jüdischen Gemeinden und Vertreter_innen
anderer Konfessionen sich kennen und gut miteinander verstehen würden.
Eine zentrale Rolle spielen aus Sicht der Befragten die jeweiligen Beziehungen zu
anderen religiösen Einrichtungen sowie der interreligiöse Dialog. Dabei erwähnen
viele Befragten Kontakte zu christlichen Personen und Einrichtungen. Ein Drittel der
Befragten thematisiert den Kontakt zu muslimischen Institutionen und Einzelper-
sonen. Ein_e Interviewte_r nennt als weitere Kontakte örtliche Gemeinden der Sikh
und der Bahai. Die befragten Vertreter_innen einer zivilgesellschaftlichen Institution
heben den Kontakt zur jüdischen Gemeinde hervor, berichten jedoch auch, dass sie
häufig irrtümlicherweise als mit dieser identisch betrachtet würden. Einige befragte
Jüdinnen_Juden schildern ebenfalls ihre Kontakte zu anderen jüdischen Organisati-
onen und Gemeinden. Als regionale Besonderheit stellt es ein_e Befragte_r dar,
„dass es hier in Sachsen im Gegensatz zu anderen Bundesländern traditionell immer
eine gute Zusammenarbeit zwischen den drei jüdischen Gemeinden gab.“ Diese
gute Zusammenarbeit gehe auf die Situation vor 1989 zurück, als die Gemeinden
26
noch wesentlich kleiner waren. Sie betreffe den sozialen, kulturellen und religiösen
Bereich. Nur wenige Befragte erwähnen einen Kontakt zum Zentralrat der Juden in
Deutschland.
Über eine institutionelle Zusammenarbeit mit der Polizei äußern sich die meisten
Befragten nicht explizit. Etwa ein Drittel der Interviewten beschreibt den Kontakt zur
Polizei als eher gut und freundlich geprägt. Ein_e Befragte_r berichtet sogar, viele
Jahre lang keinerlei Kontakt zur Polizei gehabt zu haben. Der Grund hierfür sei, dass
sie von deren Arbeit sehr enttäuscht gewesen sei. Inzwischen habe sie jedoch
wieder Kontakt zu Polizei aufgenommen und sei zufriedener mit deren Arbeit.
Bezogen auf die Bildungsarbeit mit der Polizei konstatieren die befragten
Vertreter_innen des Bildungsvereins ein nachlassendes Interesse.
3.3
Wahrnehmungen von Antisemitismus
in Sachsen
Alle Interviewten bringen deutlich zum Ausdruck, dass sie sich aktuell mit dem
Thema Antisemitismus auseinandersetzen müssen – entweder aufgrund konkreter
Erfahrungen von Jüdinnen_Juden in Sachsen oder weil sie wissen, potenziell von
Antisemitismus betroffen zu sein. Diese Wahrnehmung ist also nicht ausschließlich
durch antisemitische Vorfälle im persönlichen Umfeld geprägt. Bei manchen
Befragten erfolgt die Konfrontation mit Antisemitismus vordergründig im Zusam-
menhang mit ihrer jeweiligen Tätigkeit in jüdischen Institutionen oder Gemeinden,
bei anderen in ihrem Berufsalltag im Bereich der Bildungsarbeit. Dabei ist die Kon-
frontation mit Antisemitismus jedoch keineswegs nur abstrakt. Ein Drittel der
Befragten gibt zunächst an, selbst unmittelbar keinen antisemitischen Vorfall erlebt
zu haben. Dennoch berichten sämtliche Interviewten von antisemitischen Vorfällen
in Sachsen, die sie mitbekommen haben. Vielen Befragten sind verschiedene Vor-
fälle präsent, die sich in Deutschland ereignet haben. Dabei wird Berlin häufiger
genannt als andere Städte oder Regionen außerhalb Sachsens.
Im Folgenden werden diese Vorfälle zunächst anhand der verschiedenen dargestellt
(Abschnitt 3.3.1), anschließend wird auf die verschiedenen Tatorte eingegangen
(Abschnitt 3.3.2). Abschnitt 3.3.2 behandelt die Sicht der Befragten auf den gesell-
27
schaftlichen Umgang mit diesen antisemitischen Vorfällen in Sachsen. In Abschnitt
3.3.4 geht es schließlich um die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Anti-
semitismus.
3.3.1
Vorfalltypen des Antisemitismus in Sachsen
RIAS ordnet jeden antisemitischen Vorfall einem von sechs Vorfalltypen zu: Extreme
Gewalt, Angriff, Bedrohung, gezielte Sachbeschädigung, verletzendes Verhalten
oder Massenzuschrift (siehe zur Erläuterung Abschnitt 1.2.). Dabei sind einige Vor-
falltypen, etwa verletzendes Verhalten, deutlich weniger gravierend als etwa
Angriffe.
Mehrere Befragte schildern einen Fall extremer Gewalt. Dabei sei Feuer an der Tür
einer Einrichtung gelegt worden, wodurch es zu einer starken Rauchentwicklung
gekommen sei. In dem Gebäude befand sich eine Wohnung. Glücklicherweise
schliefen deren Bewohner_innen zur Tatzeit nicht dort, sondern waren außer Haus.
Von Angriffen berichtet etwa die Hälfte der Befragten, meist aus ihrer jeweiligen
Stadt. Ein_e Befragte_r schildert einen Angriff vor der Immigration nach Deutsch-
land. Eine andere Schilderung bezieht sich auf den Vater einer befragten Person
während des Nationalsozialismus. In einem Fall wurde ein_e jüdische Schüler_in von
einem Mitschüler antisemitisch beleidigt und physisch schwer angegriffen. Ein_e
Interviewte_r beschreibt einen ähnlichen Vorfall: „Ich kenne noch einen Fall: Ein
Mädchen war sehr stolz, dass sie jüdisch ist. Daraufhin hat sie Probleme bekommen
mit muslimischen Jungs und wurde in der Schule von der Treppe runter geschubst.
[…] Und sie hatte dann wirklich Probleme, wurde richtig gemobbt“.
Zwei beschriebene Angriffe gegen Jüdinnen_Juden fanden im öffentlichen Raum
statt. In einem Fall sei die Betroffene aufgrund religiöser Symbole als jüdisch
erkennbar gewesen. Ein weiterer Vorfall ereignete sich in einem Zug. Die befragte
Person schildert, eine Gruppe rechtsextremer Fußballfans sei von der Polizei in ihren
Wagen geleitet worden, ohne dass den darin befindlichen Reisenden vorher die
Möglichkeit gegeben worden wäre, diesen zu verlassen. Die Betroffene las gerade
ein Buch, dessen Titel die rechtsextremen Fußballfans zum Anlass nahmen, sie anti-
semitisch zu beleidigen und zu bedrängen, bis sie ihr schließlich und massiv auf den
28
Kopf schlugen. Bei einem weiteren Angriff aus dem rechtsextremen Spektrum habe
es neben antisemitischen auch rassistische Äußerungen gegeben. Die Befragten
nennen eine Vielzahl weiterer Angriffe auf jüdische Menschen in Sachsen – bei-
spielsweise Angriffe im Schulkontext, gezielte Eierwürfe oder anlässlich eines jüdi-
schen Festaktes aus Fenstern gegossenes Wasser.
Von gezielter Sachbeschädigung berichten nahezu alle Befragten. Die geschilderten
Vorfälle umfassen eine breite Spanne: Eierwürfe auf Gebäude jüdischer Einrich-
tungen und Unternehmen, Steinwürfe auf die Fenster einer Synagoge, Friedhofs-
schändungen, Das Einritzen oder Sprühen neonazistischer Symbole bzw.
antisemitischer Parolen auf Fassaden jüdischer Einrichtungen.
Ein Drittel der Befragten schildert auch antisemitische Bedrohungen. Einige Inter-
viewte schildern eine Situation, in der ein_e Überlebende_r der Schoa bei einer
Gedenkstätte von Neonazis bedroht wurde. Andere erwähnte Vorfälle ereigneten
sich im Schulkontext. Teilweise führten diese dazu, dass Betroffene die Schule
wechselten. Ein_e Befragte_r erinnert sich an folgenden Vorfall: „Das war damals
zwar in der Grundschule, es ist lange her und wir waren damals auch etwas kleiner.
Und da hatte ich ein muslimisches Mädchen in der Klasse und da habe ich mich
irgendwie mit ihr gestritten. Sie wusste als einzige in der Klasse, dass ich einen jüdi-
schen Hintergrund habe. Und irgendwie hat sie dann erzählt, dass ihr Vater mal
behauptet hat, er möchte am liebsten alle Juden umbringen. Also das war das ein-
zige was mir mal passiert ist.“
Zum Teil ist das Wissen über antisemitische Bedrohungen in Sachsen eher vage.
Viele Befragte schildern konkrete eigenen Erfahrungen mit antisemitischem verlet-
zendem Verhalten, wie in diesem Fall: „Dass jemand irgendwo körperlich bedroht
wurde, wie ‚Jude hau ab‘ oder so, das kenne ich nicht. Ich muss aber sagen, da
muss man einfach auch genauer hingucken. Ich habe jetzt in letzter Zeit öfter
gehört, aber das nur vom Hörensagen, dass es das bei einigen jüdischen
Schüler_innen im Unterricht, also in der Schule gab. [….] Wo schon Kinder oder
Jugendliche jemandem gesagt haben: ‚Du Jude‘”.
Mehrere Befragte berichten von derartigen bedrohlichen Aufrufen zum Ver-
schwinden berichten mehrere Befragte, unabhängig ob sie einen Migrationshinter-
grund haben oder nicht. Eine befragte Person erlebte einen solchen Vorfall während
ihrer eigenen Schulzeit in einer sächsischen Kleinstadt. Ein rechtsextremer Mit-
schüler erzählte damals einen vermeintlichen Witz, der dem Post-Schoa-Antisemi-
29
tismus zuzurechnen ist. Die Situation verunsicherte die Betroffene nachhaltig, wie
ihre Schilderung während des Interviews zeigt: „Und das war schon – ich hatte
wirklich Gänsehaut. […] [E]s war wirklich, wirklich unangenehm. Es hat mir sogar
Angst gemacht mich als Jude irgendwo vorzustellen. Das habe ich erst später
gemacht, irgendwann in der Mitte vom ersten Studienjahr.“
Mit Abstand am häufigsten erwähnen die Befragten Vorfälle verletzenden Verhal-
tens. Alle Interviewten schildern dabei Vorfälle, die sie entweder selbst erlebt haben
oder die sie von persönlichen Kontakten erzählt bekommen haben. Die geschil-
derten Vorfälle ereigneten sich in den unterschiedlichsten Kontexten und Lebensum-
ständen, meist aber an Orten des Alltags, wie Schule, Arbeitsplatz oder
Wohnumfeld. Dabei berichten die Befragten vor allem von Beleidigungen und
Bemerkungen, die inhaltlich dem antisemitischem Othering zugerechnet werden
können. Eine befragte Person schildert beispielsweise: „Im Rahmen meiner Arbeit
kam ich mit einer Familie zum Jobcenter. Es ging damals um Umzug und die Kosten
für Unterkunft und Heizung und so weiter. Die Familie sollte ihre erste Wohnung in
der Stadt beziehen. Dann sagte die Mitarbeiter_in: ‚Wenden Sie sich an Ihre Leute.‘
Ich habe meinen Ohren nicht getraut. Ich habe gefragt: ‚Wie bitte?‘ ‚Dann wenden
Sie sich bitte an Ihre Leute. Sie haben immer Geld.‘ Dieser latente Antisemitismus
und solche Äußerungen, die sind immer präsent. Irgendwie kommt man im Endef-
fekt immer dazu, dass man dieses Klischee nutzt. Ich kann nicht sagen, dass das
direkte Angriffe sind, aber das ist ständig und immer da.“
Andere Vorfälle verletzenden Verhaltens reichen von der Verwendung nationalsozia-
listischer Ausdrücke oder Sprache über die Schmähung jüdischer Symbole bis zu
adressierten Beleidigungen per Telefon, Brief, E-Mail oder in sozialen Netzwerken.
Besonders indirekte Beschimpfungen und Beleidigungen von Jüdinnen_Juden
nehmen Betroffene häufig als an ihre Person adressiert wahr. Dabei geht es vielfach
um Situationen in der Schule, in der Fußgängerzone oder in der Straßenbahn. Die
Befragten beschreiben dies als Teil ihres von Antisemitismus geprägten Alltags in
Sachsen. Einige Befragte erwähnen zudem rechtsextreme Versammlungen, die sie
ebenfalls als antisemitisch einordnen. Ein_e Befragte_r nennt den sogenannten Al-
Quds-Marsch, einem islamistischen Protesttag in dessen Zuge die Vernichtung
Israels gefordert wird, in Sachsen als Beispiel für einen Zusammenschluss rechtsex-
tremer, links-antiimperialistischer und islamistischer Antisemit_innen. Mehrfach
erwähnen die Interviewten eine Versammlung der rechtsextremen Bürgerbewegung
30
Pro Chemnitz nach einem bundesweit bekannt gewordenen Tötungsdelikt durch
einen Geflüchteten im August 2018. Dasselbe gilt für sich wiederholende rechtsex-
treme Versammlungen, insbesondere anlässlich der Jahrestage der alliierten Luftan-
griffe am 5. März in Chemnitz und am 13. Februar in Dresden. Auf diesen
rechtsextremen Versammlungen werden die Deutschen während des Nationalsozia-
lismus als unschuldige Opfer alliierter Kriegsverbrechen beschrieben. Diese Perspek-
tive auf die Luftangriffe widerspricht fundamental den Erfahrungen einer befragten
Überlebenden der Schoa. Diese sagt: „Ich bin ja in Dresden geboren, wurde auch in
Dresden verfolgt. Habe den Krieg in Dresden komplett überlebt. Es ist ja bekannt,
dass durch die Zerstörung in Dresden, am 13. und 14. Februar 1945, wir – etwas
über 60 Jüdinnen_Juden –, die wir am 16. Februar 45 nach Theresienstadt depor-
tiert werden sollten, irgendwie in einem Versteck untergekommen sind und so über-
lebt haben.“
3.3.2
Tatorte antisemitischer Vorfälle in Sachsen
Die vielfältigen Formen antisemitischer Vorfälle, mit denen Jüdinnen_Juden in
Sachsen konfrontiert sind, spiegeln sich auch in einer Vielzahl verschiedener Tatorte
wieder. Die zahlreichen Vorfälle an Schulen wurden bereits angesprochen. Insge-
samt zwei Drittel der Befragten sprechen solche Vorfälle an Schulen an. Auch
Gebäude jüdischer Einrichtungen werden immer wieder Orte antisemitischer Vor-
fälle. Viele Interviewte berichten von antisemitischen Vorfällen, die gezielt an Syn-
agogen verübt wurden. Eine befragte Person schildert eine Situation beim Besuch
einer Schulklasse in der Gemeinde: „Ich habe mal eine ähnliche Situation gehabt,
das ist auch viele, viele Jahre schon her. Da hat ein Schüler, 12. Klasse, so ein T-Shirt
angehabt, wo eigentlich schon klar war, dass das anti-jüdisch gemeint war. […] Und
der hat ein Schweinsohr in der Synagoge liegen lassen. Also kein gebackenes, son-
dern ein rohes Schweinsohr. Und wir haben das auch erst gefunden, als die Klasse
weg war.“
Die Hälfte der Befragten berichtet von diversen Vorfällen gegen ein Restaurant jüdi-
scher Inhaber_innen, über die auch medial breit berichtet wurden. Von Vorfällen
auf jüdischen Friedhöfen berichtet ein Drittel der Befragten. Ein_e Befragte_r
31
berichtet, bei einer Friedhofsbegehung habe sich eine Person darüber beschwert,
dass er „in seinem Land jetzt eine Kopfbedeckung tragen muss, wenn er auf den
Friedhof will“. Ebenfalls ein Drittel der Befragten erwähnt Vorfälle an Stätten der
Erinnerung an die Schoa. Ein Drittel der Befragten nennt als Tatorte antisemitischer
Vorfälle den öffentlichen Raum. Einige jüdische Befragte berichten von antisemiti-
schen Vorfällen, die sie im öffentlichen Personennahverkehr miterleben mussten.
Ein_e Betroffene_r schildert: „Ich fahre in der Straßenbahn und sehe, dass vor mir
eine Dame sitzt – schön angezogen, also gepflegt und so weiter – mit Enkelkind.
Und das Enkelkind fragt plötzlich: ‚Wer sind die Juden?‘ ‚Die Juden‘, liefert sie die
Antwort, ‚sind ein sehr altes Volk. Aber wir mögen die nicht.‘ Ups! Das Kind hat
nicht gefragt: ‚Oma, magst Du Juden?‘ Aber sie liefert es sofort mit negativer Infor-
mation dazu.“
Einige Befragte nennen Vorfälle, die sich im Arbeitsumfeld ereignet haben. Dazu
gehören unterschwellige Anschuldigungen von Kolleg_innen, als latent wahrge-
nommene Stimmungsbilder, antisemitische Witze oder die Konfrontation mit rechts-
extremen Einstellungen. Wenige Interviewte schildern Vorfälle in Geschäftsstellen
jüdischer Einrichtungen, beim Einkaufen, vor Privatgebäuden, im eigenen Wohnum-
feld, an Sportstätten bzw. Stadien, in Krankenhäusern, Behörden oder Gärten.
Eigene Erlebnisse oder beispielsweise die mediale Berichterstattung über Ereignisse
etwa in Freital, wo es 2015 zu rassistischen Protesten gegen die Unterbringung von
Geflüchteten in einem ehemaligen Hotel kam, führen bei einigen Befragten zu der
Einordnung, dass die Situation in Sachsen außerhalb der drei größten Städte noch
schlimmer sei.
Diese Aufzählung der unterschiedlichen Tatorte mit sehr unterschiedlicher Spezifik
zeigt, dass es kaum Orte gibt, an denen Jüdinnen_Juden in Sachsen sich sicher sein
können, nicht mit antisemitischen Vorfällen konfrontiert zu werden. Zudem ereig-
neten sich die von den Befragten beschriebenen antisemitischen Vorfälle vielfach an
Orten des Alltags, also an Orten, die die Befragten weder vermeiden können noch
wollen.
32
3.3.3
Gesellschaftlicher Umgang mit
Antisemitismus in Sachsen
Den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus in Sachsen schildern die
befragten Jüdinnen_Juden durchaus unterschiedlich und oftmals sehr differenziert.
Ein_e Befragte_r etwa sagt einordnend: „Antisemiten sind überall gleich, ob in Russ-
land oder in Deutschland oder in China, egal. Nicht gleich sind Zeichen, die sie
äußern, welche sich daran orientieren, was in diesem Land gewöhnlich ist.“ Die
Reaktionen in der Gesellschaft, die von Stillschweigen bis zur Akzeptanz antisemiti-
scher Äußerungen reichen, nehmen die Betroffenen deutlich wahr. Ein_e befragte_r
Jüdin_Jude nimmt eine zeitliche Einordnung vor: „Hier in Deutschland habe ich rich-
tige direkte Angriffe nicht erlebt, aber mich begleitet immer so ein Gefühl, dass,
wenn das erlaubt wird, dann kommt der ganze Dreck wieder raus. […] Ich glaube,
es hat angefangen mit Martin Walser und Günter Grass oder noch früher, dass Anti-
semitismus salonfähig wurde. Und dann Schritt für Schritt ist dieser ganze Dreck
rausgekommen.“
Dass die Situation in Deutschland besonders sei, ist auch die Wahrnehmung einer
weiteren Befragten. Aus ihrer Sicht sei dies das Land, das sich mit seiner antisemiti-
schen Weltanschauung besonders hervorgetan habe: „Es ist nicht nur ‚die Juden
sind blöd‘ oder ‚die Juden beherrschen die Welt‘, man hat versucht die Endlösung
zu finden. Und hat die Massenvernichtung der Juden praktisch organisiert.“
Dementsprechend verstört reagieren die Befragten darauf, wenn Relativierungen
der Schoa in der Gesellschaft normalisiert oder zu einer bloßen Meinung unter
vielen verharmlost würden. Dies sei, so ein_e Befragte_r, weitverbreitet: „Wenn man
so allgemein Sachen hört wie Menschen heute die Schoah, den Holocaust
irgendwie anders darstellen wollen, als es in Wirklichkeit war. Verbal, ohne hand-
greiflich zu werden, als ihre Meinung. Das ist in Sachsen sehr verbreitet. Andere
glauben dann auch daran, wenn jemand das erzählt und so entsteht diese falsche
Vorstellung und Meinung. Das ist dann verbreiteter Antisemitismus bei Menschen,
die gar nicht wissen, warum sie antisemitisch sind.“
Neben der Erinnerung an die Schoa werden Betroffene auch bei der Thematisierung
Israels von der Mehrheitsgesellschaft immer wieder mit Antisemitismus konfrontiert.
33
Ein_e Befragte_r schildert dies so: „Wenn irgendwas in Israel ist, wird man immer
noch gefragt: ‚Was ist denn wieder bei euch los?‘ Oder: ‚Was ist denn?‘ Das heißt,
bei aller Akzeptanz in der Gesellschaft, bei allem was hier in der Zivilgesellschaft
positiv zu beobachten ist, kriegt man aus den Köpfen nicht raus Israels Vertreter zu
sein.“
Sämtliche Befragte schildern persönliche Erfahrungen mit diffusen Äußerungen, die
sich als latenter Antisemitismus beschreiben lassen. Oftmals würden auch manifeste
antisemitische Äußerungen verharmlost. Dies beschreibt eine_r Befragte_r wie folgt:
„‚Du Jude‘ als Schimpfwort wird immer verharmlost: Das sei kein Antisemitismus.
Das sei eben ein modernes Schimpfwort. Und so habe jede Generation ihr Schimpf-
wort.“ Auch die Rolle der Medien thematisierten die Interviewten immer wieder kri-
tisch. Eine befragte Person äußert etwa ihre allgemeine Skepsis angesichts der
medialen Berichterstattung über Antisemitismus: „Manchmal machen die ihre
Berichte so, dass man es eindeutig nicht klassifizieren kann. Ich wünsche mir mehr
politische Reife und mehr Fingerspitzengefühl.“ Ein_e andere_r Befragte_r schildert:
„Also insofern höre ich von antisemitischen Vorfällen, die in Europa passieren,
eigentlich im israelischen Radio.“
3.3.4
Erscheinungsformen von Antisemitismus in Sachsen
Der Bundesverband RIAS unterscheidet fünf Erscheinungsformen von Antisemi-
tismus: antisemitisches Othering, modernen Antisemitismus, antijudaistischen Anti-
semitismus, Post-Schoa-Antisemitismus und israelbezogenen Antisemitismus (siehe
zur Erläuterung Abschnitt 1.2). Jeder antisemitische Vorfall wird bei der Erfassung
mindestens einer dieser Erscheinungsformen zugeordnet, wenn im Rahmen eines
Vorfalls unterschiedliche antisemitische Stereotype geäußert werden, kann der Vor-
fall aber auch mehreren Erscheinungsformen zugeordnet werden. Für jede der fünf
Erscheinungsformen nennen die Befragten Beispiele aus Sachsen.
Beim antisemitischen Othering werden Jüdinnen_Juden als fremd oder nicht dazu-
gehörig zum eigenen Kollektiv markiert. Sämtliche 23 Befragten schildern antisemi-
tische Vorfälle dieser Erscheinungsform aus Sachsen. Einige Interviewte nennen
34
gleich mehrere Vorfälle dieser Art. Ein typisches Beispiel ist die Beschimpfung von
Personen als „Jude“. Diese Beschimpfung erfolgt unabhängig davon, ob die betrof-
fene Person tatsächlich Jüdin_Jude ist. Ein_e Befragte_r wendet sich gegen den
Begriff Mitbürger, der beim ersten Hören unverfänglich klingen mag: „Also auf
jeden Fall noch, das würde ich schon sagen, der Ausdruck Mitbürger. Und das sage
ich auch überall. Man muss endlich einsehen: Die Menschen sind Bürger, wenn eine
einen deutschen Pass hat, egal wo sie herkommt, ist sie eine deutsche Bürgerin.
Und ich hasse, was man jetzt macht und von ‚jüdischen Wurzeln‘ spricht. Das meint
ja jüdische Eltern, also Juden. Da muss man die Eltern nicht erwähnen, dann ist sie
Jüdin_Jude. Ob ‚jüdische Wurzeln‘ oder ‚jüdischer Herkunft‘ – ich muss das nicht
erwähnen, nur wenn es sein muss, wenn es sich ergibt. Und genau so muss ich so
etwas nicht erwähnen wie ‚türkischer Herkunft‘. Wenn eine Deutsche ist, einen
deutschen Pass hat, ist sie deutsche Bürgerin. Etwa nicht?“
Wesentlich häufiger berichten Befragte von Post-Schoa-Antisemitismus, also von
antisemitischen Vorfällen im Kontext des Umgangs mit den nationalsozialistischen
Massenverbrechen. Zwei Drittel der Interviewten sprechen über Post-Schoa-Anti-
semitismus in Sachsen, manche berichten auch von mehreren Fällen. Ein_e
Befragte_r berichtet von der E-Mail eines Nachbarn. Am Vorabend hatte in ihrer Ein-
richtung ein Treffen von Rabbinern stattgefunden. Sie erzählt: „Der hat geschrieben,
dass wir bedenken müssten, dass Leute auch am nächsten Tag arbeiten müssten
und nicht so einen Krach machen müssten. Weil wir jüdisch sind, dächten wir, dass
uns alles erlaubt sei. Wie lange nach dem Krieg solle man diese Schuldgefühle noch
haben? Was damit überhaupt nichts zu tun hatte. Ich habe natürlich geantwortet:
‚Zur Kenntnis genommen.‘“
Eine andere befragte Person berichten von einem Vorfall, der ihr erzählt wurde und
exemplarisch die Kombination mehrerer Erscheinungsformen von Antisemitismus
zeigt: „Bei einer Stolpersteinverlegung in der Innenstadt haben sie Kerzen zum
Gedenken aufgestellt. Da sind Leute, die von dieser Pegida-Demonstration kamen,
vorbeigekommen und haben gefragt, wer denn die zionistische Veranstaltung hier
finanziere.“
35
Diese Frage der Pegida-Demonstrant_innen verhöhnt nicht nur die Erinnerung an
die Opfer der Schoa, sondern stellt diese zugleich als von Israel finanziertes Projekt
dar, womit unterstellt wird, Israel instrumentalisiere die Schoa für seine Interessen.
Zwei Drittel der Befragten nennen antisemitische Vorfälle, die sich der Erscheinungs-
form des israelbezogenen Antisemitismus zuordnen lassen. So berichtet ein_e
Befragte_r von einer akademischen Tagung: „Und dann am Ende des Tages kommt
ein alter Mann zu mir und sagt: ‚Es ist so, Sie haben das alles so wunderbar gesagt,
dass die Juden ganz normale Menschen sind und dass sie als ganz normale Men-
schen gesehen werden müssen. Aber Sie wissen, dass Israel diese Atomwaffe
benutzt?‘ Ich habe gedacht: ‚Na, wie bitte?‘ Es bleibt immer in den Köpfen. Ich weiß
nicht, warum das bleibt. Aber ich bin mittlerweile schon müde geworden, über
diese ganze Geschichte zu streiten.“ Der erwähnte Mann nimmt die Tatsache, dass
Israel wie zahlreiche andere Staaten Atomwaffen besitzt, als Legitimation, um
Jüdinnen_Juden pauschal abzuwerten.
Etwa die Hälfte der Interviewten berichtet von antisemitischen Vorfällen, die der
Erscheinungsform des modernen Antisemitismus zuzurechnen sind. Darunter fallen
u. a. Stereotype über eine angeblich heimliche oder ökonomische Macht von
Jüdinnen_Juden, aber auch viele antisemitische Verschwörungsmythen. Ein_e
Befragte_r erzählt: „Nach dem Mittagessen hat plötzlich ein Mann angefangen, […]
alle sitzen noch 15 Minuten und genießen: ‚Es wird bald schlecht in Deutschland.‘
Ich reagiere nicht. Zweiter Kollege: ‚Wieso meinst Du?‘ Wieder der erste: ‚Na ja, so
viele Juden sind nach Deutschland gekommen. Bald haben wir nicht mehr so viel
Geld und nicht mehr so viel Arbeit. Die Juden sind so reich.‘ Ich habe nicht reagiert,
weil es für mich interessant war, was andere sagen. Ich verstehe, dass wenn ein
Mensch sowas anfängt, will er sehr oft eine Reaktion provozieren. Und mein
anderer Kollege hat gesagt: ‚Weißt Du, an Deiner Stelle, ich würde meine Finger aus
dieser Geschichte halten.‘ Das hat er gesagt und sonst hat niemand noch etwas
dazu gesagt. Und ich habe verstanden, dass dieses Thema heiß ist. Weil, wenn die
Leute mit dem ersten Kollegen einverstanden wären, dann sagten sie: doch, doch,
doch. Das wurde nicht gesagt. Wenn sie mit dem anderen einverstanden wären,
dann sollten sie sagen: Ja, genau. Aber: gar nichts. Lieber übers Wetter sprechen.
Das bedeutet, dass dieses Thema schwer ist und darüber muss man sprechen. Weil
meine Kollegen wussten nicht, was sie sagen können und was sie nicht sagen
36
können oder dürfen, wussten nicht, ob das korrekt ist oder nicht. Wer ich bin,
wussten sie auch nicht.“
Ein Drittel der Befragten schildert antisemitische Vorfälle, die von ihrer Erschei-
nungsform als antijudaistischer Antisemitismus einzuordnen sind. Darunter fallen
antisemitischer Äußerungen über das Judentum als Religion. Oftmals erwähnen die
Interviewten in diesem Zusammenhang Martin Luther bzw. die Auswirkungen seiner
antisemitischen Schriften. Ein_e Befragte_r schildert eine Situation beim Besuch
einer Gruppe in der Synagoge: „Es gab auch relativ viele antisemitische Klischees die
mit christlichem Antijudaismus verbunden waren. Also von sehr gutwilligen Leuten,
die dann aber nie verstanden, wieso Jüdinnen_Juden glauben der Messias ist noch
nicht angekommen oder solche Dinge. Oder es müsse doch was dran sein, dass die
Jüdinnen_Juden seit so vielen Jahrhunderten verfolgt werden. Das sind alles solche
Sprüche, die dort in Stücken zur Sprache kommen.“
Antisemitische Äußerungen oder Handlungen können nicht nur gleichzeitig mehrere
Erscheinungsformen von Antisemitismus betreffen. Sie können auch gleichzeitig
sexistisch oder rassistisch sein. Viele Befragte berichten von entsprechenden Erfah-
rungen. Ein_e Befragte_r ordnet dies wie folgt ein. Man sei zwar von Rassismus
offenkundiger betroffen, dennoch schätze man die Gefahr des Antisemitismus
höher ein: „Wir haben gehört: ‚Sprechen Sie Deutsch?‘, wenn wir auf der Straße
Russisch sprechen. Aber dass wir Juden sind, das ist noch schlimmer. [Auch] das
haben wir gehört.“
3.3.5
Antisemitische Akteur_innen in Sachsen
Die Befragten erwähnen bei ihren Schilderungen konkreter antisemitischer Vorfälle
in verschiedenen Kontexten die unterschiedlichsten antisemitische Akteur_innen. Sie
beschreiben also ein breites Spektrum von Personen aus unterschiedlichen Milieus,
die antisemitisch reden oder handeln. Dabei sind mit Abstand die meisten antisemi-
tisch Agierenden Männer. Nur sieben geschilderte antisemitische Vorfälle gingen
von Frauen aus. Etwa die Hälfte der Interviewten nennt allerdings auch antisemiti-
sche Vorfälle, die von Kindern und Jugendlichen ausgingen – häufig von
37
Mitschüler_innen. Fünf geschilderte antisemitische Vorfälle gingen von
Mitarbeiter_innen in Behörden aus.
Bei vielen antisemitischen Akteur_innen ist der politische oder gesellschaftliche Hin-
tergrund unbekannt. Dennoch gehen die absolut meisten in den Interviews geschil-
derten Vorfälle in Sachsenvon Personen aus rechtsextremen oder
rechtspopulistischen Milieus aus. Sämtlichen Befragten ist das in Sachsen gut veran-
kerte rechtsextreme Milieu bewusst. Alle berichten von einer enormen Zahl anti-
semitischer Vorfällen, die von diesem Milieu ausgehen. Ein Drittel der Befragten
nennt als antisemitische Akteur_innen das Umfeld von Pegida in Dresden. Auch Mit-
glieder und Anhänger_innen der Alternative für Deutschland (AfD) neben einige
Interviewte als antisemitische Akteur_innen wahr. Gleiches gilt für Mitglieder und
Anhänger_innen der sogenannten Bürgerbewegung Pro Chemnitz.
Etwa die Hälfte der Befragten verortet antisemitische Vorfälle auch in einem islami-
schen bzw. islamistischen Milieu.
Einige Befragte berichten auch von antisemitischen Akteur_innen aus einem links-
antiimperialistische Milieu. Allerdings ordnet nur eine befragte Person Vorfälle von
israelbezogenem Antisemitismus eindeutig diesem Milieu zu.
Zwei geschilderte antisemitische Vorfälle werden einem christlichen/ christlich-fun-
damentalistischen Milieu zugeordnet. In einem Fall betrifft dies religiöses Unver-
ständnis gegenüber dem Judentum, zu dem eine die Jüdin_Jude bei einer
Synagogenbegehung aufgefordert wurde, sich zu äußern. In einem anderen Fall
wurde eine jüdische Einrichtung von einem Balkon in der Nachbarschaft nach Wahr-
nehmung der Befragten anlässlich des Weihnachtsfestes mit Eiern beworfen.
Keine der befragten Personen begrenzt Antisemitismus auf ein bestimmtes politi-
sches Milieu oder auf ein bestimmtes Bildungs- oder Sozialmilieu. Mehrere Befragte
sagen, dass sich Antisemitismus lediglich je nach Milieu anders äußere. So berichten
mehrere Interviewte von Vorfällen an Gymnasien und auch Akademiker_innen oder
die sogenannte gesellschaftliche Mitte werden von mehreren Befragten explizit als
antisemitische Akteur_innen benannt.
38
3.4
Der Umgang jüdischer Akteur_innen
mit Antisemitismus in Sachsen
In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie Betroffene mit antisemitischen Vor-
fällen umgehen. Im ersten Teil (Abschnitt 3.4.1) werden die individuellen Strategien
und Ressourcen beim Umgang mit Antisemitismus beschrieben. Dazu gehören
häufig die Vermeidung von Sichtbarkeit oder das Verdrängen von Gefahrenlagen,
aber auch vielfältige Präventionsmaßnahmen. Im Anschluss daran wird untersucht,
was die Befragten über das Melde- und Anzeigeverhalten bei unterschiedlichen
Stellen wie Polizei, jüdische Gemeinden oder zivilgesellschaftliche Anlaufstellen
sagen (Abschnitt 3.4.2). Im nächsten Abschnitt (3.4.3) geht es um die institutio-
nellen Strategien und Ressourcen im Umgang mit Antisemitismus. Dabei stehen
(strukturelle) Sicherheitsvorkehrungen der Gemeinden und Einrichtungen im Vorder-
grund, aber auch allgemeinere Fragen, etwa einer Sensibilisierung der Mehrheitsge-
sellschaft. Schließlich wird dargestellt, welche Unterstützungsangebote die
Interviewten kennen und inwieweit sie diese wahrnehmen (Abschnitt 3.4.4).
3.4.1
Individuelle Umgangsweisen
Die befragten Jüdinnen_Juden reagieren auf unterschiedliche Weise auf ihre alltäg-
liche Konfrontation mit Antisemitismus. Auch wenn sie häufig ähnliche Erfahrungen
machen, können sich die im Laufe eines Lebens entwickelten Umgangsweisen von
Person zu Person stark unterscheiden. Ein_e Befragte_r schildert beispielsweise den
eigenen Umgang mit vermeintlichen Witzen: „Also bei mir ist es so: Irgendwelche
schlimmen Vorfälle mit Antisemitismus hatte ich nicht. Also ich höre das oft in der
Stadt oder auch in der Schule, dass irgendwie solche Witze gemacht werden über
Juden. Die aber meistens nicht so ernst gemeint werden. Sogar meine Freundin
erzählt auch immer solche Witze, aber ich verstehe halt, dass das nur Spaß ist. Und
sie weiß, dass ich jüdisch bin. Ich sehe das alles relativ gelassen, weil ich weiß, dass
sie das nicht ernst meint oder es auch nicht antisemitisch ist. Oder auch andere
Leute auf der Straße, die schreien das richtig laut – irgendwelche richtig unange-
brachten Witze, bei denen ich wirklich, na ja, ich mich nicht ganz so wohl fühle
39
oder sie wirklich schlimm finde.“ Der_die Interviewte_r unterscheidet zwischen
Witzen, die nicht ernst gemeint und daher nicht antisemitisch seien und solchen,
die wirklich schlimm seien. Die Bedrohlichkeit wir hier eher als von außerhalb des
eigenen Freundes- und Bekanntenkreises kommende eingestuft, was der_die
Befragte_r im weiteren Gesprächsverlauf noch expliziert.
Im selben Interview bestätigen zwei andere Befragte, dass auch sie etwa online
getätigte antisemitische Aussagen ignorieren.
Eine andere befragte Person erinnert sich an die eigene Schulzeit in einer sächsi-
schen Kleinstadt: „Es war kurz nach der Ukraine. Ich war schon so immun dagegen.
Das vielleicht auch nicht. Ich habe mir nur vorgenommen, nicht mehr über meine
Identität herumzuerzählen.“ Die Vermutung, aufgrund der eigenen Erfahrungen mit
Antisemitismus in der Ukraine quasi immun gegen antisemitische Bemerkungen zu
sein, nimmt die_der Befragte sofort wieder zurück. Stattdessen vermeidet es die
Person, als jüdisch erkennbar zu sein – eine weitverbreitete Strategie.
Von ihrem Bemühen, sich anderen gegenüber nicht als jüdisch zu erkennen zu
geben, also die eigene Sichtbarkeit als Jüdin_Jude zu vermeiden, berichten viele
Interviewte. Alle befragten Jüdinnen_Juden geban auf Nachfrage an, dass sie selbst
oder Personen in ihrem persönlichen Umfeld es vermeiden, als Jüdinnen_Juden
erkennbar zu sein. Einige Befragte berichten hingegen, ganz bewusst offen eine
Kippa oder Schmuck wie einen Davidstern-Anhänger zu tragen. Ein Drittel der
Befragten berichtet, dass etwa Gemeindemitglieder jüdischen Einrichtungen fern-
blieben – aus Angst mit diesen assoziiert zu werden. Eine befragte Person erzählt:
„Wir hatten einen Fall, wo eine junge Frau, die aus Israel kommt, gerne Teil unserer
Gemeinde sein wollte. Aber ihr wurde von der Familie geraten: ‚Du solltest lieber
nicht in die Synagoge gehen, das ist ein gefährlicher Ort.‘ Seitdem ist sie nicht mehr
gekommen.“
Auch antisemitische Vorfälle haben Folgen, nicht nur für die selbst davon betrof-
fenen Jüdinnen_Juden, sondern auch für andere. Das zeigt etwa folgende Schilde-
rung: „Eine Freundin, die einen Davidsstern getragen hat, wurde im Zug von –
allerdings muslimischen – Jungs sehr beschimpft. Also das weiß ich. Aber das ist
auch schon sehr lange her. […] Sie haben sie auch angegriffen. […] Es reichte der
40
Davidstern. Seitdem trage ich auch selber keinen Davidstern mehr, einfach als Vor-
sichtsmaßnahme.“
Sich offen als jüdisch zu erkennen zu geben – so wird in den Interviews deutlich –
ist in Sachsen keine Selbstverständlichkeit. Es verlangt den Betroffenen vielmehr
eine ständige Abwägung mit der eigenen Gefährdung ab, etwa in der Schule.
Jüdinnen_Juden sind also ständig gezwungen, das Verhältnis zwischen ihrer jewei-
ligen jüdischen Identität und einer potenziellen Konfrontation mit Antisemitismus
auszuloten. Die Hälfte der Interviewten beschreibt in diesem Zusammenhang emo-
tionale Einordnungen und individuelle Strategien. Eine befragte Person ist sich
besonders bewusst, dass viele Betroffene antisemitische Vorfälle allein verarbeiten
und mit niemandem über diese Erfahrungen sprechen. Als Grund hierfür vermutet
sie die prägenden Vorerfahrungen der meisten Gemeindemitglieder in der Sowjet-
union bzw. in deren Nachfolgestaaten. Zwei Befragte fühlen sich als Männer
gewappnet genug. Sie betonen, dass Sie auch ohne Unterstützung in der Lage
seien, auf antisemitische Vorfälle zu reagieren. Ein Drittel der Befragten zeigt sich
durchaus resigniert angesichts der Tatsache, genau wie andere Jüdinnen_Juden
unausweichlich mit Antisemitismus konfrontiert zu sein. Hierbei spielen häufig die
persönlichen Erfahrungen der Migration nach Deutschland eine Rolle, wie in diesem
Fall: „Unsere Migration hat uns in Sand versteckt. Wir wurden nicht adäquat inte-
griert, unsere Qualifikationen wurden wenig genutzt – wir sind meistens Akade-
miker_innen und wir hatten keine Chance. Unsere Kinder, die können sich
durchboxen. Aber wir hatten einfach keine Chance. Weil es nur unzureichende Hilfe
gab, wir sollten alles selber schaffen. Wie hätten wir alles selber schaffen sollen?
Jetzt kriegen wir eine kleine Rente und sollen klarkommen. Das ist sehr wenig.“
Die starke Konfrontation mit Antisemitismus in Sachsen führten laut den Befragten
in einigen Fällen sogar dazu, dass Jüdinnen_Juden umziehen, manchmal in ein
anderes Wohnviertel in derselben Stadt, manchmal in ein anderes europäisches
Land, wo sie sich sicherer fühlen. Ein Drittel der Befragten beschreibt Fälle der Emi-
gration nach Israel. Diese könne „kulturelle“ Gründe haben, aber auch mit den
Erfahrungen in Deutschland zusammenhängen. Ein_e Befragte_r berichtet: „Leute
von hier oder meine Schüler und junge Erwachsene entscheiden sich eben für Israel,
aber nicht direkt wegen Antisemitismus. Sondern, weil sie argumentieren Deutsch-
41
land sei kein Land für Juden.“ Einige Befragte schildern mitunter sehr drastische Vor-
fälle, die zum Wegzug oder einem Schulwechsel von Betroffenen führten.
Einige befragte Personen berichten aber auch von einem Umgang mit Antisemi-
tismus, der eher konfrontativ ist und dazu beitragen könnte, die eigene jüdische
Identität zu stärken. Diese Interviewten gehen sie u. a. sehr offen mit ihrem Jüdisch-
sein um und konterkarieren vermeintliche Witze. Eine Person berichtet,
Verfasser_innen antisemitischer Onlinezuschriften an die jüdische Gemeinde kurzer-
hand zum Gespräch einzuladen – auf dieses Angebot sei allerdings noch niemand
eingegangen. Befragte erwähnen auch verschiedene Beispiele politischer Interventi-
onen oder konkreten Widerspruchs, bei denen die eigene jüdische Identität betont
würde. Ein_e Befragte_r begründet ihre Unermüdlichkeit so: „Das ist so eine Erfah-
rung, die ich wiederholt gemacht habe. […] Also nach dem Motto: Wir doch nicht,
und wir haben Jüdinnen_Juden als Freund_innen und was dann alles als Argumen-
tation kommt. Weil man das eben nicht zugeben will, weil man eigentlich weiß,
Antisemitismus darf man nicht haben, man hat ihn aber. Und das ist so ein Stück-
chen im Widerspruch. Und deswegen sage ich, dann bin ich schon froh, wenn ich
mit den Leuten ins Gespräch komme, weil vielleicht bleibt doch was hängen.“
Gesprächsbereitschaft und das Bemühen um ein Gespräch auch in der direkten Kon-
frontation mit Personen, sie sich antisemitisch äußern, beschreibt auch ein_e
andere_r Befragte_r: „Das erste, was ich mache, ist gleich mit diesem Menschen
weitersprechen. Hauptsache einen klaren Kopf bewahren und sich nicht provozieren
lassen, weil das hat meistens ebenso einen Charakter. Wenn ein Mensch sieht, dass
du nicht so reagierst, wie er geplant hat, dann wundert er sich und manchmal fängt
er an zu überlegen, was er weiter machen soll. Gerade zu diesem Zeitpunkt ist
wenigstens die Beziehung noch nicht zerrissen, was wichtig ist, wenn du weiter mit
diesem Menschen kommunizieren willst. […] Zweitens probiere ich weiter zu kom-
munizieren. Wenn das nicht klappt, dann braucht dieser Mensch das nicht und
diese Geschichte ist vorbei.“
42
3.4.2
Anzeige- und Meldeverhalten
Nahezu alle Befragten berichten davon, dass sie selbst, ihr Umfeld oder ihre Einrich-
tung antisemitische Vorfälle der Polizei melden würden. Allerdings thematisieren sie
dies oftmals sehr vage und betonen, dass viele Vorfälle unterhalb der Strafbarkeits-
grenze lägen. Nur sieben Befragte haben in der Vergangenheit wegen antisemiti-
scher Vorfälle selbst Anzeige erstattet oder wurden als Zeug_innen vernommen.
Einige Interviewte räumen ein, sogar selbst erlebte antisemitische Vorfälle nicht bei
der Polizei angezeigt zu haben. Dabei handelte es sich auch um schwerwiegendere
Vorfälle wie gezielte Sachbeschädigungen oder Angriffe. Als Gründe für eine unter-
lassene Anzeige führen die Befragten u. a. negative Erfahrungen mit der Polizei an,
aber auch geringe Erwartungen an den Nutzen einer Anzeige. Mehrere Interviewte
schildern Erfahrungen mit Polizei oder Staatsanwaltschaft, bei denen die Sicht der
Betroffenen nicht ernst genommen wurde. Auch eingestellte oder in die Länge
gezogene Ermittlungen wirken sich nach Ansicht der Befragten negativ auf die
Anzeigebereitschaft aus. Lediglich vier Personen berichten von Gerichtsverfahren zu
antisemitischen Straftaten. Die Hälfte der Befragten verneint auf Nachfrage, jemals
von einem entsprechenden Gerichtsverfahren gehört zu haben.
Die Hälfte der Befragten berichtet davon, dass antisemitische Vorfälle einer jüdi-
schen Gemeinde zur Kenntnis gebracht werden. Zwei Personen sagten jedoch ein-
schränkend, dass auch Gemeindemitglieder häufig antisemitische Vorfälle nicht in
der Gemeinde teilten, sondern alleine oder in ihrem privaten Umfeld versuchten,
damit umzugehen. Auch anderen Befragte scheint das eigene nähere soziale Umfeld
der geeignete Ort zu sein, um antisemitische Vorfälle zu besprechen. Ein_e
Befragte_r benennt dies explizit als Strategie aus dem eigenen Herkunftsland, in
dem Antisemitismus insbesondere als Problem staatlichen Handelns wahrge-
nommen wurde.
Einen konkreten Vorfall thematisieren mehrere Befragte: Dabei wurde ein Schoa-
Überlebender im Zuge von Dreharbeiten für einen Film an einer Gedenkstätte vor
laufenden Kameras von Rechtsextremen bedroht. Ein_e Befragte_r erzählt, nach
diesem Vorfall Kontakt zur Politik gesucht zu haben. Die Person war jedoch unzu-
frieden mit den Reaktionen: „Zwei Jahre. Und wie viel Nachhaken. Wie gesagt. Und
43
ich habe im Innenausschuss, da war der Innenminister dabei, da war der damalige
Sicherheitssprecher der Regierungspartei dabei, fürchterlich. Also dieser Prozess
muss ich sagen, oder die Mühlen, die laufen so langsam. Und da haben sie eben,
wie gesagt, einen Vorfall gehabt, wo die Täter klar waren. Also wo sie nicht mal
mehr suchen mussten.“
Abgesehen von diesem einen Fall geben nur vier Befragte an, sich bei antisemiti-
schen Vorfälle an die Medien zu wenden. Überleitend zu den institutionellen
Umgangsweisen, die im nächsten Abschnitt behandelt werden, sei an dieser Stelle
die gesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit antisemitischen Vorfällen
erwähnt, die ein_e Befragte_r so beschreibt: „Vorfälle liegen oft unterhalb der Straf-
barkeitsgrenze. […] Da – und selbst wenn es Zivilorganisationen vor Ort gibt –
werden die [jüdischen Gemeinden] ja nicht wirklich immer gehört. Also eigentlich
fehlt diese grundsätzliche Aufmerksamkeit für das Thema. Und das ist so was, wo
man sagt: ‚Okay es gibt Orte, wo das registriert wird, es gibt eine Stelle, wo es
ankommt und diese Stelle hat auch möglichst Befugnisse dann so was deutlich zu
machen.‘ […] Weil das können die jüdischen Gemeinden nicht leistenmüssen sie
auch nicht, weil es ein Problem der Gesellschaft ist.“
3.4.3
Institutionelle Umgangsweisen
Als Repräsentant_innen bzw. Funktionsträger_innen jüdischer Gemeinden und Insti-
tutionen schildern Befragte auch verschiedene institutionelle Umgangsweisen mit
antisemitischen Vorfällen. Dazu zählen beispielsweise lokale Sicherheitsmaßnahmen,
der institutionalisierte Kontakt zu Behörden und Politik, die Zusammenarbeit mit
Medien. Dieser Abschnitt beschreibt vor allem die Vernetzung jüdischer Instituti-
onen auf Landes- bzw. Bundesebene sowie den Umgang mit Sicherheitsaspekten.
Die Hälfte der Befragten hebt die Unterstützung von und durch Gemeindemitglieder
hervor. Zwei Interviewte weisen auf langjährige Kooperation mit dem Landesver-
band Sachsen der Jüdischen Gemeinden hin, drei Befragte erwähnen die Kontakte
zum Zentralrat der Juden in Deutschland. Einige Befragte beschreiben auch die
ZWST als wichtigen Kontakt beim Umgang mit antisemitischen Vorfällen, aber auch
44
bezüglich spezieller Angebote für jüdisches Leben in all seinen Facetten. Für die
Gemeindemitglieder spielten dabei ein eng koordinierter Austausch sowie Informa-
tionsveranstaltungen und Seminare eine wichtige Rolle.
Keine_r der Befragten beschreibt ein klar definiertes Verfahren bei konkreten anti-
semitischen Vorfällen. Die Rede ist vielmehr von internen Abstimmungsprozessen.
Ein_e Befragte_r führt dazu aus: „Na ja, ich sag es mal so: Es gab nicht so viele Vor-
fälle damit wir ein Verfahren dafür etablieren, aber wenn die Notwendigkeit
besteht, wird das natürlich besprochen.“ Ein_e andere_r Interviewte_r betont, es
ginge immer darum, im Austausch zu bleiben und möglichst ein bestimmtes Etap-
penziel zu erreichen, beispielsweise bei der Zusammenarbeit mit einer konkreten
schulischen Einrichtung. Eine weitere befragte Person kommentiert den Umgang mit
antisemitischen Vorfällen so: „Ich denke, das wird von Fall zu Fall entschieden. Also
es gibt da jetzt keine Mechanismen oder sowas.“
Neben der Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit versuchen jüdische Gemeinden und
Institutionen in Sachsen auch, ihre Mitglieder und Mitarbeiter_innen für Sicherheits-
fragen zu sensibilisieren. Das können beispielsweise Ratschläge sein, wie man die
eigene Erkennbarkeit als Jüdin_Jude in der Öffentlichkeit vermeidet. Eine befragte
Person sagt hierzu: „Ja, es gibt Sicherheitssensibilisierungen für Mitglieder und das
kann ich nur unterstützen, leider. Weil die Leute müssen sich schützen, wenn
andere das nicht schaffen, wenn die Politik das nicht schafft, wenn Polizei, wenn
Stadtverwaltung, wenn öffentliche Medien das nicht schaffen. Dann sollen die
Leute selber was unternehmen und lieber über ihr Jüdischsein schweigen.“
Ein Weg des institutionellen Umgangs mit Antisemitismus sind konkrete Sicherheits-
maßnahmen von jüdischen Gemeinden, Einrichtungen oder Betrieben. Diese
umfassen Absprachen mit Polizei, aber vor allem bauliche Maßnahmen wie Über-
wachungskameras. Die Bewertung dieser Maßnahmen ist in den Interviews
durchaus unterschiedlich. Zwei Drittel der Befragten sind mit der gegenwärtigen
Zusammenarbeit mit der Polizei beim Schutz der eigenen Räumlichkeiten zufrieden.
Eine Person zeigt sich sehr enttäuscht von dem polizeilichen Schutz in der Vergan-
genheit. Einige der jüdischen Interviewten kritisieren jedoch auch die getroffenen
Maßnahmen oder halten diese für unzureichend. Die Einstufung der Terroran-
schläge vom 11. September 2001 als antisemitisch hatte die sächsische Staatsregie-
45
rung veranlasst, den jüdischen Gemeinden mehr polizeilichen Schutz zu gewähren –
so zumindest die Wahrnehmung von Befragten. Mit den baulichen Sicherheitsvor-
kehrungen sind einige Befragte sehr zufrieden, besonders im Vergleich zu jüdischen
Gemeinden in anderen Bundesländern oder Städten. Doch fünf Befragte sehen dies
gänzlich anders und kritisieren aus ihrer Sicht unzureichende Schutzkonzepte. Ein
Problem, das mehrfach angesprochen wird, ist die fehlende finanzielle Unterstüt-
zung für derlei Sicherheitsmaßnahmen. Unabhängig von konkreten Maßnahmen
gäbe es laut etwa der Hälfte der Befragten bei Gemeindemitgliedern oder jüdischen
Gästen Verunsicherung und Angst. Ein_e Befragte_r erinnert sich an eine Diskus-
sion: „Zum Beispiel in der Zeit […] war es auch eine große Frage, ob wir überhaupt
eine Internetseite haben sollten und so. Schon das war für viele angsteinjagend, die
fanden das nicht gut.“
In zwei Fällen plädieren Befragte dafür, dass sich die Gemeinde nach außen
abgrenzt. Sie begründen dies u. a. mit einer geteilten Betroffenenperspektive bzw.
mit religiöser Verbundenheit. Viele Befragte schildern hingegen ihre positiven Erfah-
rungen mit einer grundsätzlichen Offenheit ihrer Gemeinde nach außen – dazu
zählen sie vielfach auch Präventionsmaßnahmen der jüdischen Gemeinden und Ein-
richtungen.
3.4.4
Wahrnehmung von Unterstützungsangeboten
Bei den Interviews fiel auf, dass die meisten Befragten Unterstützungsangebote bei
antisemitischen Vorfällen entweder nicht kennen oder nicht nutzen – dies gilt insbe-
sondere für Angebote zivilgesellschaftlicher Träger_innen. Die Angebote der
Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus oder der Opfer- und Betroffenenbera-
tungsstellen, beispielsweise vom Kulturbüro Sachsen oder der RAA Sachsen, aber
auch Angebote zur Rechtsberatung, etwa zum Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setz, sind den meisten befragten Jüdinnen_Juden unbekannt. Lediglich drei Befragte
kennen Angebote der Mobilen Beratung. Keine dieser Befragten hat es jedoch in
der jüngeren Vergangenheit selbst genutzt. Die befragten Vertreter_innen des Bil-
dungsvereins kennen die Angebote und sind mit deren Träger_innen vernetzt.
Zugleich betonen sie den Grundsatz ihrer eigenen Arbeit, wonach das pädagogische
46
Setting ein geschützter Raum sei, in dem sie mit Interessierten reden. Das schließe
ein gleichzeitiges Monitoring aus. Auch diese Befragten geben an, bisher keine Vor-
fälle gemeldet zu haben. Ein_e Befragte_r erklärt dazu: „Aber ich denke, es könnte
in Zukunft dazu kommen. Also wir haben diese beiden Ansprechpartner OFEK
34
und
RIAS, wo das durchaus für die Zukunft denkbar wäre.“
Nur eine Person bejaht die Frage, ob Betroffene antisemitischer Vorfälle vorhandene
Unterstützungsangebote nicht-jüdischer Organisationen nutzen. Allerdings macht
sie eine deutliche Einschränkung: „Das hat aber wirklich was damit zu tun, ob die
bekannt sind und ob man zu denen Vertrauen hat“. Alle anderen Befragten
verneinen die Frage. Viele können sich eine Inanspruchnahme solcher Angebote in
ihrem Umfeld zumindest vorstellen. Das Zitat deutet bereits an, dass es die Existenz
zivilgesellschaftlicher Unterstützungsangebote in Sachsen viel zu wenig bekannt ist.
Dies führt zu einem zurückhaltenden Meldeverhalten. Um dies zu ändern, bräuchte
es einen engeren Kontakt zu jüdischen Communities in Sachsen. Eine befragte
Person beschreibt das aus ihrer Sicht bestehende Defizit vor Ort wie folgt: „Ja, aber
ich glaube, das ist eher sogar einfacher, wenn man nicht so weit weg ist. Weil ich
finde, bei diesen Beratungsstellen sitzen meistens Leute, die zwar ausgebildet sind,
die es aber nie persönlich erlebt haben – meistens. Deswegen finde ich es besser,
wenn man für eine Beratungsstelle jemanden nimmt, der es schon erlebt hat. Damit
er aus seiner eigenen Erfahrung berichten kann. Weil es ist immer einfach zu sagen:
‚Ja, so ist es, so ist es immer und mach das so.‘ Deswegen finde ich viele Tipps oft
auch nicht sinnvoll gedacht. Wie gesagt, auch, wie man damit umgehen soll. Die
Menschen sind alle unterschiedlich – dem einen kann man sagen, dass es besser ist,
wenn du zurück schreist und auf sein Niveau runtergehst – anderen muss man
sagen: ‚Ignorier das!‘ Die Person muss dann trotzdem für sich entscheiden, was
eigentlich das Beste ist.“
Zwei befragte Personen schließen für sich selbst eine Inanspruchnahme solcher
Angebote gänzlich aus. Als Grund geben sie an, dass dies auch nichts wieder rück-
gängig machen würde. Mit dem gesellschaftlich weitverbreiteten Antisemitismus
müssten sie ohnehin alleine klarkommen.
34 OFEK ist eine Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung der ZWST. Vgl.
47
3.5
Bedarfe
Die Befragten – Akteur_innen in jüdischen Gemeinden oder Institutionen,
Künstler_innen, Gewerbetreibende und Aktive in unterschiedlichen Vereinen – for-
mulieren unterschiedliche Bedarfe für die zukünftige Auseinandersetzung mit Anti-
semitismus im Allgemeinen sowie für die Gestaltung von Unterstützungsstrukturen
in Sachsen im Besonderen. Diese Bedarfe beziehen sich auf die Beziehungen jüdi-
scher Akteur_innen zu Stadt- und Zivilgesellschaft, auf mögliche Umgangsweisen
mit Antisemitismus und die hierfür zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die kon-
kret genannten Bedarfe werden in Abschnitt 3.5.1 dargestellt. Anschließend wird
gezielt auf die Anforderungen an eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemi-
tische Vorfälle in Sachsen eingegangen (Abschnitt 3.5.2).
3.5.1
Bedarfe für eine Auseinandersetzung
mit Antisemitismus
Insgesamt sehen die Befragten Aufklärung und Bildungsarbeit über Antisemitismus
als zentral für die Bekämpfung von Antisemitismus an. Dabei setzen sie vor allem
auf Schulen. Viele Interviewte sehen diesbezüglich jedoch erheblichen Verbesse-
rungsbedarf. Ein_e Befragte_r formuliert dies so: „Ja, die Verantwortung von
Schulen, gerade für Jugendliche. Lehrer_innen müssten das richtig vermitteln, es ist
wichtiger als anderes. Denn die Schule hat großen Einfluss – wenn jemand die
Schule besucht und danach auf die Straße geht, eine Meinung vertritt. Ich bleibe
dabei: Die Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag.“
Einigen Befragten stößt besonders auf, dass jüdisches Leben in Sachsen vor allem im
Zusammenhang mit der Schoa thematisiert werde, etwa in Geschichtsbüchern. Sie
betonen, dass die Mehrheitsgesellschaft sich ansonsten lediglich im Rahmen von
Ethikunterricht mit dem Judentum beschäftige, und dieses insgesamt eher als etwas
Sonderbares betrachte. Eine nicht-jüdische Befragte meint hierzu: „Geschichts-
bücher zum Beispiel, da kommen Juden nur von ‘33 bis ‘45 vor – ansonsten eigent-
lich nicht; liest man nichts von jüdischem Leben davor oder danach.“ Nach Ansicht
der Befragten habe sich durch die Förderung zivilgesellschaftlicher Einrichtungen die
48
Möglichkeit, Antisemitismus im schulischen Rahmen zu thematisieren, stark verbes-
sert. Dies zeige sich beispielsweise bei Projekttagen. Jedoch bestünde weiterhin der
Bedarf nach mehr Förderung und einem Ausbau entsprechender Angebote. Diese
müssten auch außerhalb der drei größten Städte des Freistaats möglich sein.
Die Befragten formulieren auch Bedarfe jenseits des schulischen Kontextes. Eine
befragte Person äußert die Erwartung, dass in einer funktionierenden Demokratie
jeder Mensch einer Relativierung der Schoa mit Courage entgegentritt. Für die Ver-
breitung rechten Gedankenguts, etwa durch Pegida oder durch Lehrer, die im
Unterricht von vermeintlichen Rassen sprächen, dürfe es keine Akzeptanz geben.
Eine andere interviewte Person kritisiert, dass es in Sachsen kein jüdisches Museum
gibt. Hinsichtlich eines aktiveren jüdischen Lebens in der Gegenwart fordert sie bes-
sere Integrationsbedingungen für jüdische Zuwanderer_innen sowie weniger büro-
kratische Hürden. Auch bei der Polizei sei eine Sensibilisierung für Antisemitismus
überaus wichtig, damit Beamt_innen in der konkreten Situation einschätzen
können, ob es sich um einen antisemitischen Vorfall handle sowie um entsprechend
sensibel mit Betroffenen umgehen zu können.
In sämtlichen Interviews kommen Antisemitismus und die Notwendigkeit einer
gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema ausführlich zur Sprache.
Ein_e Befragte_r betont dabei besonders dialogische Angebote: „Meine Überzeu-
gung ist wirklich, dass nur die Begegnung hilft, diese Berührungsängste abzubauen,
wirklich eine offene Haltung zu schaffen. Und auch eine Gemeinsamkeit zu
schaffen. Das ist ein bisschen das, was ich immer gemacht habe mit unserem Pro-
gramm. Zu versuchen damit niemandem ein, ich sag mal, ein schlechtes Gewissen
einzujagen. Sondern versuchen wirklich auch andere Seiten des Judentums über
gezielte Angebote zu vermitteln. Ich denke, da könnte man langfristig einfach viel
mehr Toleranz und Verständnis erzeugen.“
Ein anderer zentraler Bedarf, den die Hälfte der Befragten artikuliert, ist eine gezielte
Ansprache von jüdischen Communities, beispielsweise mit Fortbildungen oder Schu-
lungen zum Thema Antisemitismus. Dabei ginge es auch um ein Bewusstsein für
den Migrationshintergrund vieler Jüdinnen_Juden und damit um die Berücksichti-
gung besonderer sprachlicher Anforderungen. Ein_e Befragte_r konkretisiert das
Ziel: „Ja, es fehlt Beratung, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten kann.
Beratung, was man tun kann, wenn so etwas Antisemitisches passiert. Dass man
das jetzt in die Öffentlichkeit bringen kann und sich nicht dafür schämen muss.“
49
Ein_e andere_r Interviewte_r ergänzt: „Also, ich fange mal beim Kleinen an, was ich
vorhin gesagt habe. Ich denke, wir brauchen auch innerjüdische Beratungsangebote
– speziell für unsere Gruppe der Zugewanderten, vor allem der älteren Zugewan-
derten.“
3.5.2
Anforderungen an eine zivilgesellschaftliche
Meldestelle für antisemitische Vorfälle
Keine der befragten Personen berichtet davon, dass in ihrer jeweiligen Einrichtung
antisemitische Vorfälle registriert oder gar an zivilgesellschaftliche Stellen weiter-
gemeldet würden. Bei drei Interviews brachten Befragte aufbewahrte Pressemel-
dungen, Fotos oder E-Mails zu antisemitischen Vorfällen mit. Sämtliche Schilde-
rungen der Befragten machen deutlich, dass aktuell keine der drei Gemeinden,
keine der jüdischen Einrichtungen, noch der Bildungsverein mit seinen vorhandenen
Ressourcen und Strukturen in der Lage wäre, ein Monitoring antisemitischer Vorfälle
zu leisten. Die Bedeutung einer solchen Meldestelle bzw. deren Effekt schätzt ein_e
Befragte_r so ein: „Ich denke mal, wenn mehr solcher Fälle bekannt würden, würde
das einfach helfen“. Auch wenn die Befragten keine Aussagen zu einer möglichen
Träger_innenschaft einer solchen Meldestelle machen, ist doch klar, dass diese
unbedingt direkt mit den jüdischen Communities in Sachsen vernetzt sein müsste.
Hierzu ein_e Befragte_r: „Ich denke, wenn jemand wirklich Hilfe sucht und verzwei-
felt ist, dann nutzt er die Angebote. Aber es gibt natürlich Menschen, wenn sie sehr
misstrauisch sind, dann wissen sie nicht, ob sie den nicht-jüdischen Einrichtungen
trauen können. Also das hängt von der jeweiligen Person ab.“
Repräsentant_innen jüdischer Gemeinden ist klar, dass in Sachsen – wie auch in
anderen Bundesländern – viele Jüdinnen_Juden nicht in jüdischen Gemeinden orga-
nisiert sind und auch sonst kaum öffentlich als jüdisch wahrnehmbar sind. Das kann
im Einzelfall subkulturell oder nicht-religiös motiviert sein. Doch die Distanzierung
von einer jüdischen Gemeinde kann ihren Grund auch im Bemühen um die eigene
Sicherheit haben (siehe Abschnitt 3.4.1). Auch diese Menschen sollte ein Meldean-
gebot erreichen. In drei Interviews machten Befragte deutlich, dass sie eine RIAS-
Meldestelle in Sachsen begrüßen würden. Eine Interviewte führt aus: „Eines von
50
unseren Mitgliedern kam zu mir und sagte, dass sie gerne möchte, dass wir hier
auch eine RIAS-ähnliche Stelle einrichten.“
Für den Aufbau einer möglichen zivilgesellschaftlichen Meldestelle für antisemitische
Vorfälle in Sachsen lässt sich sagen, dass diese alle jüdischen Communities im Frei-
staat ansprechen müsste. Das Ziel müsste sein, mit fortlaufender Arbeit die Mel-
debereitschaft zu steigern, insbesondere außerhalb der drei größten Städte. Das
würde Betroffene und jüdische Institutionen in Sachsen davon entbinden, selbst
Antisemitismus fachlich einordnen und geeignete Umgangsweisen ausmachen zu
müssen. Ein_e Befragte_r formuliert dies so: „Wir brauchen eine professionelle
Stelle. Ja, genau – wir sind zu klein und wir sind zu beschäftigt mit unseren Tätig-
keiten. […] Nicht nur die Gemeinde bräuchte Beratung, sondern wir brauchen
jemanden, der diese Leistung übernimmt, also wie antisemitische Vorfälle einzu-
ordnen sind und der das Knowhow hat, wie man solche Situationen behandelt.“
3.6
Zusammenfassung: Antisemitismus im Bundesland
aus der Perspektive jüdischer Akteur_innen
Im Winter 2018/2019 hat der Bundesverband RIAS in Sachsen insgesamt 19 leitfa-
dengestützten Interviews geführt. Darunter waren neben Einzelgesprächen auch
zwei Gruppeninterviews mit jeweils drei Befragten. Insgesamt wurden 20 jüdischen
Akteur_innen und drei nicht-jüdische Vertreter_innen der Zivilgesellschaft befragt. In
den Interviews ging es um die Vernetzung mit der lokalen Stadt- und Zivilgesell-
schaft, um Wahrnehmungen von und die Erfahrungen der Befragten mit Antisemi-
tismus in Sachsen. Ein weiteres Thema waren die verschiedenen Umgangsweisen
mit antisemitischen Vorfällen und die Bedarfe für die zukünftige Auseinanderset-
zung mit Antisemitismus. Dabei regten Befragte auch die Schaffung einer zivilgesell-
schaftlichen Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Sachsen an.
Die Befragung verdeutlicht, dass viele Jüdinnen_Juden, jüdische Gemeinden und
Institutionen ihrer Einschätzung nach gut und verlässlich in den Stadt- und Zivilge-
sellschaften, mit anderen religiösen Akteur_innen sowie mit Bildungseinrichtungen
vernetzt sind. Das Verhältnis zur Politik sehen viele Befragte ambivalent, die Verbin-
51
dungen zur Zivilgesellschaft sind aus Sicht der Befragten jedoch deutlich schwächer
ausgeprägt.
Nur wenige Jüdinnen_Juden geben an, selbst (noch) keine relevanten Erfahrungen
mit Antisemitismus gemacht zu haben. Doch auch diese Befragten wissen – wie alle
anderen – von zahlreichen antisemitischen Vorfällen in Sachsen. Jüdinnen_Juden in
Sachsen sind häufig und auf vielschichtige Weise mit Antisemitismus konfrontiert.
Diese Vielschichtigkeit ergibt sich aus den unterschiedlichen Vorfalltypen, den ver-
schiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus, den diversen politisch-weltan-
schaulichen Milieus antisemitischer Akteur_innen sowie aus den vielfältigen
Tatorten. Aus den Schilderungen der Befragten lässt sich schließen: Antisemitismus
ist für Jüdinnen_Juden in Sachsen eine alltagsprägende Erfahrung. Konkret heißt
das: Jüdinnen_Juden in Sachsen sind gezwungen, ihren Alltag an eine potenziell
immer und überall lauernde Konfrontation mit Antisemitismus anzupassen. Dies
betrifft Fragen der Sicherheit und Sichtbarkeit, die Jüdinnen_Juden mit ihrer jewei-
ligen jüdischen Identität in Einklang bringen müssen.
Erlebnisse und Erfahrungen mit Antisemitismus sind für die befragten
Jüdinnen_Juden in Sachsen sehr präsent. Dennoch bewerten die Befragten die Situ-
ation in den drei größten Städten des Freistaats überwiegend als positiv, etwa im
Vergleich zu anderen Regionen oder Städten. Eher alarmierend ist hingegen die
Sicht der Befragten auf das Ausmaß von Antisemitismus in Sachsen insgesamt.
Betroffene äußern ihre Angst vor einer weiteren Zunahme antisemitischer Vorfälle.
Die Vernetzung jüdischer Communities mit der nicht-jüdischen Zivilgesellschaft ist
schwach. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, dass den meisten Befragten
zivilgesellschaftliche Melde- und Unterstützungsangebote unbekannt sind. Dieser
Umstand verweist auf die gesellschaftliche Verantwortung, Jüdinnen_Juden bei
ihrem Umgang mit Antisemitismus zu unterstützen. Als konkrete Bedarfe nennen
die Befragten hierbei mehr Aufklärung und Bildungsarbeit zu Antisemitismus. An
Schulen wird konkret eine Verankerung des Themas in Lehrplänen und eine Sensibi-
lisierung von Lehrer_innen gefordert. Auch in der Erwachsenenbildung solle Anti-
semitismus stärker thematisiert werden. Zugleich kritisieren Befragte, dass es an
einem gezielten Unterstützungsangebot für Betroffene Jüdinnen_Juden fehle. Dies
komme in dem zurückhaltenden Meldeverhalten zum Ausdruck.
52
4.
Antisemitismus in Sachsen aus
staatlicher Perspektive
Für zivilgesellschaftliche Recherche- und Beratungsprojekte ist die Berücksichtigung
polizeilicher Statistiken über antisemitische Straftaten aus mehreren Gründen
wichtig. Erstens sind sie in der medialen Öffentlichkeit, aber auch in der Politik die
wichtigste Referenz für die Bewertung von Antisemitismus. Dadurch werden auch
Einschätzungen zivilgesellschaftlicher Projekte an diesen Zahlen gemessen. Zweitens
werden die polizeilichen Statistiken seit über 15 Jahren nach bundesweit einheitli-
chen Kriterien erhoben. Das macht sie zur einzigen verlässlichen Erfassung
antisemitischer Straftaten, die aussagekräftige Daten sowohl über langfristige Ent-
wicklungen auf Bundesebene als auch über regionale Besonderheiten liefern kann.
Aus diesen Gründen befindet sich RIAS Berlin seit Beginn ihrer Arbeit im intensiven
Austausch mit Beamt_innen des Berliner LKA und des Kriminalpolizeilichen Melde-
dienstes (KPMD). Gegenstand der Beratungen sind die statistischen Verfahrens-
weisen sowie die Aussagekraft der Erfassung antisemitische Straftaten in der
Statistik für politisch motivierte Kriminalität (PMK-Statistik). Seit 2018 gibt es einen
solchen Austausch auch zwischen dem Bundesverband RIAS und Vertreter_innen
des Bundesinnenministeriums (BMI) und dem Bundeskriminalamt (BKA) bzw. mit
den LKA in einzelnen Bundesländern (Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Hessen,
Bayern).
Analysen der PMK-Statistik von RIAS Berlin und dem Bundesverband RIAS haben
jedoch ergeben, dass die Daten nur eine eingeschränkte Aussagekraft haben. Wie
der der UEA-Bericht bestätigt,
35
besteht eine erhebliche Wahrnehmungsdiskrepanz
bezüglich Antisemitismus. Betroffene nehmen diesen als deutlich gravierender wahr
35 Vgl. Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017,, S. 30–54.
53
als staatliche Akteur_innen wie Polizei- und Sicherheitsbehörden. Das bezieht sich
sowohl auf das Ausmaß als auch auf die Qualität antisemitischer Vorfälle. Die Wahr-
nehmungsdiskrepanz resultiert aus einer Reihe von Faktoren. Dazu gehören die
Anzeigebereitschaft, Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Tatmotivs oder eine
Zuordnung zu einem politischen Spektrum (die Polizei verwendet hier den Begriff
Phänomenbereich). Die Abschnitte 4.1. bis 4.5 verstehen sich vor allem als Lesehilfe
für die PMK-Statistik. Sie sollen eine Einordnung der Zahlen erleichtern. Dabei wird
das Vorgehen der PMK-Statistik durch aus auch problematisiert. Das soll den Wert
und das grundsätzliche Anliegen dieser Statistik jedoch nicht infrage stellen. Die
folgenden Abschnitte beziehen sich nicht nur auf den Freistaat Sachsen. Sie dienen
auch dazu, die Erfassung antisemitischer Straftaten durch das das LKA Sachsen in
einen gesamtdeutschen Zusammenhang einzuordnen.
Im Folgenden werden zunächst grundlegende Begriffe und Verfahrensweisen der
PMK-Statistik vorgestellt (Abschnitt 4.1). Daran anschließend wird die Problematik
des Dunkelfeldes nicht angezeigter Straftaten erläutert (Abschnitt 4.2). Der folgende
Abschnitt behandelt die Schwierigkeiten, Antisemitismus als Tatmotiv zu identifi-
zieren (Abschnitt 4.3). Im Anschluss daran werden die Besonderheiten bei der Erfas-
sung antisemitischer Straftaten mit Bezug zum Nahostkonflikt erörtert (Abschnitt
4.4) und die Zuordnung der Straftaten nach politischen Spektren (sogenannten Phä-
nomenbereichen) erläutert (Abschnitt 4.5). In Abschnitt 4.6. werden dann schließ-
lich die Zahlen der PMK-Statistik für Sachsen der Jahre 2014 bis 2019 analysiert.
Diese stellte der polizeiliche Staatsschutz des LKA Sachsen für diese Problembe-
schreibung dem Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische
Leben zur Verfügung.
4.1
Lesehilfe für die PMK-Statistik
Die PMK-Statistik basiert auf bundeseinheitlichen Vorgaben von BKA und BMI. Straf-
taten, bei denen eine politische Motivation zugrunde gelegt wird, werden dabei
einem bestimmten politischen Spektrum zugeordnet. Dieses wird als Phänomenbe-
reich bezeichnet. Die PMK-Statistik sieht die Phänomenbereiche „Rechts“, „Links“,
54
„ausländische Ideologien“, „religiöse Ideologien“
36
und „Sonstige / Nicht zuzu-
ordnen“ vor. Politisch motivierte Straftaten, für die keine dieser vier Kategorien
zutrifft, werden unter „sonstige/nicht zuzuordnen“ kategorisiert. Politisch motivierte
Straftaten werden zudem einem sogenannten Themenfeld zugeordnet. Antisemiti-
schen Straftaten fallen in das Themenfeld „Hasskriminalität“.
37
Bei der PMK-Statistik handelt es sich um eine sogenannte Eingangsstatistik, das
bedeutet: Die Entscheidung, ob es sich um eine politische motivierte Straftat han-
delt, wird getroffen, wenn eine Anzeige bei einer Polizeibehörde eingeht. Im Unter-
schied dazu beinhaltet die polizeiliche Kriminalstatistik auch Ergebnisse späterer
Ermittlungen. Eine spätere Korrektur einzelner Einträge in der PMK-Statistik, etwa
weil sich bei einem Gerichtsverfahren neue Erkenntnisse über die Motivation für
eine Straftat ergeben haben, findet nur selten statt. Die Anordnung über die Mittei-
lung von Strafsachen (MiStra) verpflichtet zwar Staatsanwaltschaften, die ermit-
telnde Polizeibehörde über den Ausgang eines Gerichtsverfahrens zu informieren,
38
doch ist dadurch noch keine zeitnahe Weiterleitung an den KPMD gewährleistet
und somit keine systematische nachträgliche Korrektur der PMK-Statistik. Seit Ende
2018 sind die Staatsanwaltschaften durch die Richtlinien für das Strafverfahren und
das Bußgeldverfahren (RiStBv) zudem angehalten, bei politisch motivierten Straf-
taten das BKA zu informieren. Diese Regelung schließt antisemitische Straftaten mit
ein.
39
Allerdings regelt die RiStBV nicht, dass diese Daten auch an die jeweiligen
LKA gemeldet werden müssen, die für die Erstellung der PMK-Statistik verantwort-
lich sind. Nachträgliche Korrekturen der PMK-Statistik sind also grundsätzlich mög-
lich, finden aber praktisch nicht systematisch statt. Zudem gibt es bundesweit
36 Bis zum 31. 12. 2016 wurden die Phänomenbereiche „Ausländische Ideologien“ und „Religiöse
Ideologien“ in dem Phänomenbereich „Ausländerkriminalität“ zusammengefasst.
37 Vgl. Dorina Feldmann/Christoph Kopke/Gebhard Schultz, Todesopfer rechtsextremer Gewalt in
Brandenburg (1990–2008). Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch motivierter
Kriminalität, in: Wolfgang Frindte/Daniel Geschke/Nicole Haußecker/Franziska Schmidtke (Hrsg.),
Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“. Interdisziplinäre Debatten, Befunde
und Bilanzen, Wiesbaden 2016, S. 341–358, hier S. 348.
38 Verwaltungsvorschriften im Internet. Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra). Fassung
vom 1. 5. 2019,
,
abgerufen am 7. 3. 2020.
39 Verwaltungsvorschriften im Internet. Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
(RiStBV). Fassung vom 1. 12. 2018,
,
abgerufen am 19. 2. 2020.
55
unterschiedliche Nachmeldefristen. Deshalb sind die Daten unterschiedlicher
Bundesländer mitunter nur eingeschränkt vergleichbar. So werden Straftaten auch
nach Ablauf eines Kalenderjahres der Statistik des abgelaufenen Jahres zugeordnet,
wenn sie beispielsweise erst später angezeigt oder übermittelt werden. Im Freistaat
Sachsen wird die Statistik des Vorjahres jedoch am 31. Januar geschlossen. Durch
den unterschiedlichen Umgang mit nachgemeldeten Zahlen können sich so kleine
Abweichungen zwischen verschiedenen PMK-Statistiken in Bund und Ländern
ergeben.
Die in der PMK-Statistik erfassten Straftaten sind sogenannte Lebenssachverhalte.
Das sind mitunter komplexe Tatgeschehen, die mehrere Straftatbestände erfüllen,
von denen aber nur der Straftatbestand mit der höchsten Strafandrohung in der Sta-
tistik aufgeführt wird. Ruft beispielsweise auf einer Demonstration eine klar definier-
bare Personengruppe antisemitische Parolen, bedroht aber gleichzeitig umstehende
Passant_innen und begeht noch dazu eine gemeinschaftliche Körperverletzung, so
wird nur die gemeinschaftliche Körperverletzung in die PMK-Statistik aufge-
nommen.
Die LKA veröffentlichen ihre PMK-Statistiken grundsätzlich nicht oder zumindest
nicht detailliert. Die Daten fließen jedoch in sogenannte Lagebilder und in jährliche
Berichte über politisch motivierte Kriminalität ein.
4.2
Hohe Dunkelziffer bei antisemitischen Vorfällen
Die Erfassung antisemitischer Straftaten wird durch eine hohe Dunkelziffer
erschwert. Diese mindert auch die Aussagekraft der PMK-Statistik, nicht nur in
Sachsen, sondern in allen Bundesländern. Die PMK-Statistik kann definitionsbedingt
nur Auskunft über Straftaten geben, die bei der Polizei angezeigt wurden. Viele
antisemitische Vorfälle sind aber strafrechtlich nicht relevant. Zudem meiden viele
betroffene Jüdinnen_Juden selbst bei strafrechtlich relevanten antisemitischen Vor-
fällen den Gang zur Polizei (siehe Abschnitt 3.4.2). Die PMK-Statistik lässt also
immer nur Aussagen über das sogenannte Hellfeld zu, also über jene antisemiti-
schen Straftaten, die tatsächlich angezeigt wurden. Das wirft die Frage nach dem
Dunkelfeld, also der Zahl der nicht angezeigten Straftaten auf.
56
Seit den 1970er-Jahren existiert in der Bundesrepublik eine Dunkelfeldforschung. In
jüngster Zeit wurden hierzu jedoch nur in Niedersachsen und Schleswig-Holstein
Studien durchgeführt. Die Kriminologische Forschungsstelle des LKA Niedersachsen
erfasste in ihrer dritten Dunkelfeldstudie 2017 erstmals auch die Deliktart „Hasskri-
minalität“.
40
Die Ergebnisse der Studie wurden im Februar 2018 gemeinsam mit
dem Hellfeld, also der polizeilichen Kriminalitätsstatistik für Niedersachsen, vorge-
stellt. Die Studie ermittelte eine Anzeigequote. Diese beschreibt das „Verhältnis der
angezeigten Opfererfahrungen zur Anzahl der erlebten Opfererfahrungen“. Diese
Quote erlaubt es, aus der Zahl der polizeilich registrierten Straftaten die tatsächliche
Zahl der Straftaten hochzurechnen und damit das Ausmaß des Dunkelfelds zu
bestimmen. Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik für Niedersachsen führte 2016
insgesamt 867 angezeigte Straftaten von „Hasskriminalität“ auf. Laut der Dunkel-
feldstudie betrug die Anzeigequote für „Hasskriminalität“ im gleichen Zeitraum
12
. Das heißt, dass 88 % der Straftaten oder „Opfererfahrungen“ in diesem
Bereich nicht angezeigt wurden. Rechnet man dieses Dunkelfeld mit ein, so hat es
2016 in Niedersachsen ungefähr 7.225 Straftaten im Bereich „Hasskriminalität“
gegeben. Laut der Studie gibt es in allen Bereichen der Kriminalität ein Dunkelfeld.
Bei vorurteilsmotivierten Straftaten sei es aber besonders groß. Lediglich bei Sexual-
delikten sei die Anzeigequote mit gut 6
noch geringer. Bezogen auf die Erfassung
von „Hasskriminalität“ nennt die Studie eine Reihe von Gründen, aus denen Geschä-
digte keine Anzeige erstatten. So hätten Opfer von „Hasskriminalität“ häufiger als
Opfer anderer Straftaten Gründe für eine unterlassen Anzeige genannt. Darunter
waren schlechte Erfahrungen mit der Polizei (23
), zu viel Mühe, die Polizei einzu-
schalten (19
), Angst vor einem Gerichtsverfahren (8 %), Wunsch nach Ruhe bzw.
danach, das Erlebnis zu vergessen (25
) sowieAngst vor den Täter_innen (8 %).
Auch wenn die Dunkelfeldstudien in Niedersachsen und Schleswig-Holstein anti-
semitische Straftaten nicht ausdrücklich behandelt haben, unterstreichen ihre Ergeb-
nisse doch die Bedeutung regelmäßiger Erhebungen, welche die polizeiliche
Kriminalstatistik ergänzen. Nur durch sie kann das tatsächliche Ausmaß antisemi-
tisch motivierter Straftaten ermittelt werden. Das BKA führt derzeit eine bundes-
40 Landeskriminalamt Niedersachsen, Kriminologische Forschung und Statistik. Befragung zu Sicherheit
und Kriminalität in Niedersachsen 2017. Bericht zu Kernbefunden der Studie,
abgerufen am 15. 5. 2018.
57
weite Dunkelfeldstudie durch, an der auch einzelne Bundesländer beteiligt sind.
Regelmäßig durchgeführte Dunkelfeldstudien liefern belastbare Daten, mit denen
sich Veränderungen des Anzeigeverhaltens feststellen lassen. Dies ist wiederum
wichtig, um die Wirksamkeit neu eingeführter Maßnahmen zur Verbesserung des
Anzeigeverhaltens überprüfen zu können.
Auf das sogenannte Underreporting, also das Problem nicht gemeldeter bzw. nicht
angezeigter Straftaten im Bereich Antisemitismus hat bereits 2013 eine europaweite
Umfrage der FRA hingewiesen. In der nicht repräsentativen Onlinebefragung
nahmen über 500 Jüdinnen_Juden aus Deutschland teil. 26
von ihnen gaben an,
in den zwölf Monaten vor der Erhebung wegen ihres Jüdisch-Seins beleidigt oder
beschimpft worden zu sein. 76
der Befragten sagten zudem, selbst den schwer-
wiegendsten Vorfall weder bei der Polizei angezeigt noch einer zivilgesellschaftli-
chen Organisation mitgeteilt zu haben.
41
Laut einer aktuelleren FRA-Studie von 2018
hat sich die Anzeigebereitschaft gegenüber 2013 noch weiter verschlechtert.
42
Als
Gründe für ihr Meldeverhalten gaben die Befragten mehrheitlich an, dass eine
Anzeige nichts geändert hätte, dass ihnen so etwas ständig passiere, dass sie damit
allein zurechtkämen und dass eine Anzeige oder eine Meldung bei einer zivilgesell-
schaftlichen Organisation zu bürokratisch und zeitaufwendig sei.
43
Zu einer ähnli-
chen Einschätzung des Underreporting kam eine Online-Befragung von 2016, an
der 535 Jüdinnen_Juden in Deutschland teilnahmen. 72
von ihnen gaben an,
„einen besonders ausgeprägten Fall von Antisemitismus“ nicht oder eher nicht bei
der Polizei anzuzeigen bzw. bei einer Beschwerdestelle oder einer jüdischen
Gemeinde zu melden.
44
41 Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung
mit Diskriminierung und Hasskriminalität in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
S. 4 f., abgerufen am 26. 9. 2017.
42 Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) 2018.
43 Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): Diskriminierung und Hasskriminalität
gegenüber Juden in den EU-Mitgliedsstaaten. Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang
mit Antisemitismus.
S. 51–55, abgerufen am 2. 10. 2017.
44 Andreas Zick et al. 2017.
58
4.3
Erkennen des antisemitischen Motivs
von angezeigten Straftaten
Ob eine angezeigte Straftat an das zuständige LKA weitergeleitet, vom polizeilichen
Staatsschutz verfolgt und in die PMK-Statistik aufgenommen wird, hängt in hohem
Maß von den Informationen ab, die bei der Anzeigenstellung erfasst werden. Ent-
scheidend sind dabei häufig die Erfahrungen, der Kenntnisstand und die Sensibilität
der Polizeibeamt_innen, die eine Anzeige aufnehmen.
45
Dies zeigen Beispiele aus
der Vergangenheit. So wurde RIAS Berlin 2016 eine Bedrohung mit einem Messer
auf einem Berliner U-Bahnhof gemeldet. Dieser waren antisemitische Beschimp-
fungen vorausgegangen. Trotz Strafanzeige tauchten die Beschimpfungen aber
nicht in der entsprechenden PMK-Statistik auf. Bereits bei der Vernehmung vor Ort
hatte die anzeigende Person den Eindruck gehabt, dass die zuständigen Polizei-
beamt_innen den antisemitischen Äußerungen keine besondere Aufmerksamkeit
schenkten. Dabei waren diese Beleidigungen letztlich tatauslösend für die Stichbe-
wegungen mit dem Messer. Weitere ähnliche Fälle sind dem Bundesverband RIAS
bekannt. Daher kann angenommen werden, dass die ermittelnden Beamt_innen
sich bei ihrer Beurteilung eines Falles (beispielsweise bei der Fokussierung auf
bestimmte Aspekte des Tathergangs) von ihrem Wissen über die Zählweise und die
statistischen Begriffe in der PMK-Statistik leiten lassen. Mit anderen Worten: Es
besteht die Gefahr, dass relevante Informationen zum Tathergang gar nicht erst
aktenkundig werden, da die Wahrnehmung der Sachverhalte durch
Polizeibeamt_innen am Tatort bereits vom Raster der späteren statistischen Erfas-
sungspraxis eingeschränkt ist. Um auf das Beispiel aus Berlin zurückzukommen:
Bereits bei der Aufnahme der Anzeige wurde den antisemitischen Äußerungen
weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der Bedrohung mit dem Messer, da dies
eine schwerwiegendere Straftat ist, die entsprechend höher bestraft wird. Die Ver-
mutung, dass sich ermittelnde Polizeibeamt_innen bei der Erfassung von Straftaten
nicht nur am zu erwartenden Strafmaß, sondern auch an spezifischen Zählweisen
der PMK-Statistik orientieren, wird durch einen weiteren Fall gestützt. Einem Israeli
wurde aus antisemitischen Gründen eine Dienstleistung verweigert. Als er daraufhin
Anzeige erstatten wollte, behauptete der_die aufnehmende Beamt_in, der Fall habe
45 Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, S. 33.
59
nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern sei als Ausdruck des „Israel-Palästina-Kon-
flikts“ zu deuten (siehe dazu ausführlich Abschnitt 4.4). Die ohnehin schwere
gerichtsfeste Motivklärung bei Straftaten mit antisemitischen Bezügen wird so noch-
mals beeinträchtigt.
Ein weiteres Beispiel aus Thüringen verdeutlicht, dass die Analyse eines antisemi-
tisch motivierten Lebenssachverhaltes auch dort für LKA und Staatsanwaltschaft
eine Herausforderung darstellt. Im Februar 2018 wurden teilweise großflächig die
Worte „Juden Jena“ an mehrere Häuserwände in Thüringen geschrieben. Dagegen
wurde Anzeige erstattet. Die zuständige Ordnungsverwaltung teilte der
anzeigenden Person mit, laut Polizei und polizeilichem Staatsschutz handle es sich
„nicht um antisemitische Schmierereien, sondern um szenetypische Fanbegriffe“.
46
Zu einer ähnlichen Einschätzung kam nach einer Kleinen Anfrage im Thüringer
Landtag auch die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft.
47
Der UEA sprach in seinem Bericht allgemeiner von einer Vermeidungsstrategie der
Polizei. Selbst bei offensichtlichen antisemitischen Tatmotiven würden häufig alter-
native und oftmals unpolitische Tatmotive angenommen.
48
Erschwerend kommt
hinzu, dass antisemitische Straftaten als politisch motiviert gelten müssen, um in der
PMK-Statistik erfasst zu werden. Im geschilderten Fall aus Thüringen führte dies
dazu, dass selbst ein eindeutig antisemitischer Sprachgebrauch wegen der Zuord-
nung zu Fußballfans nicht als solcher erkannt und ein vermeintlich unpolitischer Hin-
tergrund der Tat angenommen wurde.
Die skizzierten Schwierigkeiten bei der Erkennung und statistischen Erfassung anti-
semitischer Tatmotive werden durch einen unscharfen begrifflichen Referenzrahmen
noch verstärkt. Seit September 2019 ist die Arbeitsdefinition Antisemitismus (siehe
zur Erläuterung Abschnitt 1.2) Teil des bundesweiten Klassifizierungssystems für
politisch motivierte Straftaten des BKA. Bis dahin lautete die einzige inhaltliche Ori-
entierung des BMI zur Bestimmung antisemitischer Straftaten: „Darunter sind nach
der Erläuterung im Definitionssystem zur politisch motivierten Kriminalität Straftaten
zu subsumieren, die aus einer antijüdischen Haltung heraus begangen werden.“
49
46 Das Schreiben liegt dem Bundesverband RIAS vor.
47 Thüringer Landtag, Drucksache 6/5728, 6. Juni 2018.
48 Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, S. 259.
49 Ausschussdrucksache des Deutschen Bundestags 18(4)347 vom 18. 6. 2015: Antwort des BMI auf die
Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Volker Beck (Bündnis 90 / Die Grünen).
60
Diese sehr knappe Orientierung setzte voraus, dass bei einer antisemitischen Straftat
die „anti-jüdische Haltung“ der_des Tatverdächtigen nachgewiesen werden kann.
Allerdings ist es für antisemitische Täter_innen ein Leichtes, eine solche Haltung zu
leugnen. Diese hohen Anforderungen an eine Identifikation eines antisemitischen
Tatmotivs – nicht nur bei polizeilichen Ermittlungen, sondern bei der Behandlung
dieser Straftaten durch Justizbehörden – kann daher dazu führen, dass antisemiti-
sche Motivlagen im Zweifelsfall außer acht gelassen werden. Eine Straftat an sich ist
leichter nachweisbar als ein antisemitisches Tatmotiv.
Darüber hinaus nimmt laut einer Studie von Kati Lang die Bewertung von Straftaten
als „vorurteilsmotiviert“ im Verlauf eines Strafverfolgungsprozesses sukzessive ab.
50
Gegenwärtig führen der Bundesverband RIAS und das MMZ hierzu ein gemein-
sames Forschungsprojekt durch. Untersucht wird, inwieweit bei Straftaten, die die
Berliner Polizei als antisemitisch eingestuft hat, antisemitische Motive im weiteren
Verfahren berücksichtigt werden. Das betrifft die Strafanträge der Berliner Justizbe-
hörden, die Gerichtsurteile und die jeweilige Strafzumessung. Ein Anlass für das
Forschungsvorhaben ist die nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle ins Straf-
gesetzbuch aufgenommene Berücksichtigung „antisemitischer“ Beweggründe (§ 42,
Abs. 2 StGB).
51
Neben Langs Studie liegen dem Bundesverband RIAS zahlreiche
Begründungen für Verfahrenseinstellungen nach angezeigten antisemitischen Vor-
fällen vor. Diese zeigen bereits jetzt eine deutliche Diskrepanz zwischen der Wahr-
nehmung der Betroffenen antisemitischer Vorfälle auf der einen Seite und der
Einordnung seitens der Strafermittlung- und Strafverfolgungsbehörden.
Eine detailliertere Orientierungshilfe wie die Arbeitsdefinition Antisemitismus
erscheint deshalb dringend geboten. Dies gilt vor allem angesichts der vielfältigen
Erscheinungsformen und Ausdrucksweisen von Antisemitismus, etwa im Kontext
von Verschwörungsmythen oder mit Bezug auf Israel sowie angesichts von kommu-
nikativen Strategien, die mitunter den Gebrauch des Wortes „Jude“ gänzlich ver-
meiden.
abgerufen am 2. 10. 2017.
50 Vgl. Kati Lang, Vorurteilskriminalität. Eine Untersuchung vorurteilsmotivierter Taten im Strafrecht
und deren Verfolgung durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte, Baden-Baden 2014, S. 467.
51 Vgl.: Deutscher Bundestag, BT-Drs. 19/16399, 8. 1. 2020.
61
4.4
Antisemitische und
antiisraelische Straftaten
Besonders sichtbar werden die Schwierigkeiten bei der Einordnung antisemitischer
Straftaten, wenn diese einen Bezug zu Israel aufweisen. Oftmals werden sie dann
nicht als antisemitisch interpretiert, sondern als lediglich im Zusammenhang mit
dem Nahostkonflikt stehend oder gar als vermeintliche Kritik an Israel. Dies finden
auch seinen Ausdruck in den Kategorien der PMK-Statistik. Diese sieht im Themen-
feld „Krisenherde/Bürgerkriege“ ein Unterthema „Israel“ bzw. „Palästina“ vor. Eine
Verbindung mit oder eine Abgrenzung von antisemitischen Straftaten fehlt aller-
dings, ebenso wie eine weitere Erläuterung. Dass dies auch zu Problemen bei der
Aufnahme von Straftaten führen kann, zeigt das im Abschnitt 4.3 erläuterte Bei-
spiel. Immerhin hat das BMI darauf verwiesen, dass antiisraelische Straftaten parallel
auch als antisemitische Straftaten erfasst werden sollen, wenn sie aus einer antijüdi-
schen Haltung heraus begangen wurden.
52
Die beschriebene mehrdimensionale Erfassung antisemitischer und antiisraelischer
Straftaten in den PMK-Statistiken ist grundsätzlich begrüßenswert. Allerdings führt
sie durch die fehlende Abgrenzung zu Verzerrungen. Wie groß diese sind, lässt sich
nicht immer feststellen. Straftaten, die in der PMK-Statistik dem Unterthema „Israel-
Palästina-Konflikt“, später dem Unterthema „Israel“ zugeordnet wurden und
werden, müssen nicht zwangsläufig antisemitisch motiviert sein. Es kann sich bei-
spielsweise um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz oder um Widerstands-
handlungen gegen Polizeibeamt_innen bei antiisraelischen Demonstrationen
handeln.
RIAS Berlin sind mehrere antisemitische Straftaten bekannt, die sich gegen israeli-
sche Staatsangehörige richteten – darunter antisemitische Beschimpfungen. Diese
Fälle wurden der Polizei mitgeteilt, jedoch in der PMK-Statistik nicht als antisemitisch
erfasst. Nach Ansicht des Berliner KPMD hätten sich die Aussagen ausschließlich
gegen die israelische Staatsangehörigkeit der Geschädigten gerichtet. Diese Begrün-
dung offenbart nicht nur die besondere Herausforderung bei der Erkennung anti-
semitischer Straftaten oder Tatmotive im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt,
52 Vgl. Deutscher Bundestag: Antwort auf MdB Volker Beck, Ausschussdrucksache 18(4)347.
62
sondern auch mangelndes Wissen bei der Polizei, etwa über den Zusammenhang
zwischen jüdischen und israelischen Identitäten.
Antisemitischen Straftaten mit Bezug zum Nahost-Konflikt stellen mitunter auch
Gerichte vor erhebliche Herausforderungen. Dies zeigte in besonders deutlicher
Weise ein Urteil des Amtsgerichts Wuppertal von 2015,
53
das von höheren
Instanzen bestätigt wurde.
54
Die drei Täter hatten 2014, während militärischer Aus-
einandersetzungen zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation Hamas,
mehrere Molotowcocktails auf eine Synagoge geworfen. Das Gericht verurteilte sie
zwar wegen versuchter schwerer Brandstiftung, konnte jedoch ein antisemitisches
Tatmotiv nicht eindeutig feststellen. Zwar habe „die in Deutschland lebende jüdi-
sche Bevölkerung, insbesondere die jüdische Gemeinde in X, nichts mit der Politik
der israelischen Regierung und ihrer Auseinandersetzung mit den im Gazastreifen
lebenden Palästinensern zu tun“, so das Gericht. Dennoch sei es „keineswegs fern-
liegend“, dass die Täter gerade diesen Schluss nicht zogen, „sondern – auch man-
gels eines anderen dem Staat Israel in der Tatnacht eindeutig zuzuordnenden
Tatobjekts – eine Synagoge als Zeichen jüdischen Lebens zum Tatobjekt gewählt“
55
hätten. Knapp formuliert urteilte hier ein deutsches Gericht, dass ein Brandanschlag
auf eine Synagoge in Deutschland nicht zwangsläufig antisemitisch motiviert sein
muss. Nach der Arbeitsdefinition Antisemitismus ist „das kollektive Verantwortlich-
machen von Juden für Handlungen des Staates Israel“ hingegen eindeutig eine
Form von Antisemitismus (siehe dazu Abschnitt 1.2).
Das zuständige Gericht lieferte mit seinem Urteil nicht nur potenziellen Täter_innen
eine argumentative Vorlage, um Anschläge auf Synagogen als nicht-antisemitische
zu verstehen. Das Urteil führte vor allem zu einem massiven Vertrauensverlust in
jüdischen Gemeinden – und zwar in sämtlichen bisher vom Bundesverband RIAS
untersuchten Bundesländern. Nicht nur sie fragen sich, wie Betroffene von antisemi-
tischen Straftaten – wie etwa Beleidigungen – motiviert werden sollen, sich an die
53 AG Wuppertal, AZ 84 Ls 50 Js 156/14 – 22/14, Urteil vom 5.2.2015,
abgerufen am 30. 12. 2020. BeckRS 2015, 116583.
54 OLG Düsseldorf, AZ III-3 RVs 95/16, Beschluss vom 9. 11. 2016,
abgerufen am 30. 12. 2020.
55 AG Wuppertal, AZ 84 Ls 50 Js 156/14 – 22/14, Urteil vom 5. 2. 2015,
abgerufen am 30. 12. 2020, hier Rn. 37.
63
Polizei zu wenden, wenn selbst ein Anschlag auf eine Synagoge nicht als antisemi-
tisch bewertet wird.
56
Eine präzise begriffliche Bestimmung von Antisemitismus ist wichtig für die polizei-
liche Arbeit – insbesondere bei Bezügen zu Israel. Dies verdeutlicht ein Blick auf den
Sommer 2014, als es militärische Auseinandersetzungen zwischen Israel und den
islamistischen Terrororganisationen Hamas und Hisbollah gab. Statistiken des BMI
zeigen einen Anstieg antisemitischer Straftaten in diesem Zeitraum. Laut der Sta-
tistik war die Zahl antisemitischer Straftaten 2014 fast 17
höher als 2015 und
21
höher als 2016. Die Zahl der registrierten Straftaten im Unterthema „Israel-Pa-
lästina-Konflikt“ betrug 2014 sogar 800
von jenen in 2015 und 1.300
der Straf-
taten von 2016 (siehe Tabelle 1).
57
Während der militärischen Auseinandersetzungen
zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen zwischen dem 7. Juli und dem
31. August 2014 verdoppelte sich die durchschnittliche Zahl antisemitischer Straf-
taten von 31 pro Woche auf 62 pro Woche. Bei den Straftaten, die dem „Israel-Pa-
lästina-Konflikt“ zugerechnet wurden, erhöhte sich die Zahl von 11 pro Woche
(Jahresdurchschnitt) auf 67 pro Woche.
Tabelle 1
Bundesweite PMK 2014–2016: „Antisemitische Straftaten“
und Straftaten im Kontext des „Israel-Palästina-Konflikts“
Jahr
Antisemitisch
Israel-Palästina-Konflikt
Doppelnennungen
2014
1.596
575
214
Davon
12.7.–31. 8.2014
463
470
2015
1.366
62
31
2016
1.313
40
23
56 Vgl. hierzu Liebscher/Pietrzyk/Lagodinsky/Steinitz, Antisemitismus im Spiegel des Rechts, in: Neue
Juristische Online Zeitung, (2020), S. 897–902.
57 Vgl. Deutscher Bundestag, Antwort des BMI auf die Schriftliche Anfrage der Bundestagsfraktion von
Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache 18/11152 vom 14. 2. 2017,
abgerufen am 2. 10. 2017.
64
Für den Freistaat Sachsen scheint die geschilderte Problematik allerdings nicht sta-
tistisch relevant zu sein. Zwischen 2014 und 2019 wurden in Sachsen lediglich 24
Lebenssachverhalte registriert, die den Unterthemen „Israel-Palästina-Konflikt“ bzw.
später „Israel“ zugeordnet wurden.
4.5.
Verzerrungen durch die Zuordnung
antisemitischer Straftaten zu „Phänomenbereichen“
Auch die Zuordnung antisemitischer Straftaten zu sogenannten „Phänomenberei-
chen“ verursacht verschiedene Probleme. Der UEA stellte hinsichtlich der Zuordnung
antisemitischer Straftaten zu den Phänomenbereichen „Rechts“, „Links“ und „Aus-
länder“ (seit 2017 ausdifferenziert in „ausländische Ideologie“ und „religiöse Ideo-
logie“) fest, dass bei der Polizei weiterhin das Extremismuskonzept handlungsleitend
sei. Das erschwere die Erkennung vorurteilsmotivierter Straftaten, die jenseits „des
klassischen Musters rechtsextremer Tatbegehung“ lägen. Sobald Bezüge zum
Nationalsozialismus zu erkennen sind, würden Straftaten dem Phänomenbereich
„Rechts“ zugeordnet. Dies sei auch der Fall, wenn Täter_innen, die eindeutig nicht
einem rechtsextremen Milieu angehören, z. B. NS-Symbole zeigten. Auch antisemiti-
sche Straftaten würden grundsätzlich immer dem Phänomenbereich „Rechts“ zuge-
ordnet – zumindest wenn keine weiteren Spezifika erkennbar sind oder keine
Tatverdächtigen ermittelt wurden.
58
So wird beispielsweise ein gesprühter Schriftzug
„Juden raus“ automatisch als politisch rechts motivierte Straftat registriert. Ein Bei-
spiel, das RIAS Berlin analysiert hat, zeigt, dass der KPMD antisemitische Straftaten
mit Bezug zum Nationalsozialismus sogar dann dem Phänomenbereich „Rechts“
zuordnet, wenn es deutliche Hinweise auf einen Täter_innen-Kreis gibt, der nicht
dem rechtsextremen Milieu angehört. Im konkreten Fall wurden „Sieg Heil“-Rufe
von Anhänger_innen der islamistischen Terrororganisation Hisbollah auf dem Al-
Quds-Marsch in Berlin 2014 dem Phänomenbereich „Rechts“ zugeordnet.
58 Vgl. Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, S. 34.
65
Die Antwort auf eine Große Anfrage
59
der Bundestagsfraktion Die LINKE zu „anti-
semitisch motivierten Schändungen jüdischer Friedhöfe“
60
verdeutlicht diese proble-
matische Zuordnung: Zwischen 2000 und 2008 registrierten die Polizeibehörden
bundesweit 471 antisemitische Straftaten mit dem Angriffsziel „Friedhof“. Zu diesen
Taten wurden insgesamt 170 Tatverdächtige ermittelt. Nach Angaben der Justizbe-
hörden kam es lediglich in 13 Fällen zu strafrechtlichen Sanktionen, von denen
insgesamt 31 Personen betroffen waren. Das sind im Durchschnitt 2,38 verurteilte
Täter_innen pro Fall). Bei 27 dieser 31 verurteilten Täter_innen wurde eine rechtsex-
treme Motivation festgestellt oder zumindest vermutet. Rechnet man den Schnitt
von 2,38 Täter_innen auf die 170 ermittelten Tatverdächtige hoch, so ergeben sich
lediglich 71 Fälle, in denen die Polizeibehörden aufgrund von Vernehmungen oder
Hausdurchsuchungen weitere Hinweise zur Ermittlung des jeweiligen politischen
Tathintergrunds hatten. Im Umkehrschluss hieße das, dass bei 400 Fällen keine aus-
reichenden Informationen vorlägen, um die Täter_innen einem politischen Milieu
zuzuordnen. Aus der Antwort der Bundesregierung geht jedoch hervor, dass bei
443 der 471 Taten ein „politisch rechts motivierter Hintergrund“ angenommen
wurde. Drei Fälle seien der „politisch motivierten Ausländerkriminalität“ und ledig-
lich eine Tat der Kategorie „sonstige/nicht zuzuordnen“ in der PMK-Statistik zuge-
ordnet worden.
Das Beispiel macht deutlich, dass die seit Einführung des PMK-Systems des Kriminal-
polizeilichen Meldedienstes (KPMD) im Jahr 2001 vorgenommene Zuordnung anti-
semitischer Straftaten zum Phänomenbereich „Rechts“ lediglich Folge eines
festgelegten statistischen Verfahrens ist. Dass dies zumindest bei antisemitischen
Friedhofsschändungen auch zutreffen mag, lässt sich aus den 87
festgestellten
oder vermuteten rechtsextremen Motiven bei den Verurteilten vermuten – ob diese
Bewertung aber auch auf andere Deliktsarten übertragbar ist, bleibt spekulativ.
Der UEA konstatiert, dass sowohl bei „antisemitischen Straftaten generell wie auch
bei den antisemitischen Gewalttaten“ sei „ein klares Übergewicht ‚rechtsmotivierter
politischer Kriminalität‘“
61
zu erkennen. Gleichzeitig gäbe es aber eine Differenz zwi-
59 Vgl. Drucksache des Deutschen Bundestags 16/14122 vom 7. 10. 2009: Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
abgerufen am 2. 10. 2017.
60 Ebd.
61 Bundesministerium des Innern/Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, S. 40.
66
schen der Wahrnehmung über die Hintergründe der Täter_innen seitens der Betrof-
fenen. Diese Differenz ergibt sich möglicherweise daraus, dass Straftaten, zu den
keine Tatverdächtigen ermittelt wurden und zu auch keine anderen Hinweise vor-
lagen, lediglich aufgrund bestimmter Verfahrensregeln einem bestimmten Phäno-
menbereich zugeordnet werden. Damit beruhe die Aussagekraft der PMK-Statistik
zum Teil auf Regeln.
62
4.6
Auswertung der PMK-Statistik über antisemitische
Straftaten zwischen 2014 und 2019
Im November 2019 (und ergänzend im November 2020) übermittelte das LKA
Sachsen, vermittelt durch den Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für das
Jüdische Leben, dem Bundesverband RIAS in anonymisierter Form sämtliche Straf-
taten aus den PMK-Statistiken von 2014 bis 2019, die den Themenfeldern „Anti-
semitismus“ und „Israel“ zugeordnet wurden. Die vom LKA Sachsen übermittelten
Datensätze umfassen
–
Zuordnungen zu den unterschiedlichen Phänomenbereichen,
–
Zuordnungen zu Delikten,
–
Angaben über Datum und Ort der Tat
–
Angaben über Anzahl und Geschlecht von Tatverdächtigen
–
eine Kurzbeschreibung des Sachverhalts.
Der Bundesverband RIAS hat diese Daten der Straftatbestände, der zugeordneten
Phänomenbereiche und der ermittelten Tatverdächtigen ausgewertet (siehe
Abschnitte 4.6.1 und 4.6.2.). Für die Jahre 2014 bis 2019 erfasste die PMK-Statistik
für den Freistaat Sachsen insgesamt 693 antisemitische Straftaten. 692 dieser Straf-
taten wurden ausgewertet.
63
62 Ebd., S. 30.
63 Ein Vorfall wurde nicht berücksichtigt, da es sich nicht um eine antisemitische Straftat handelt,
sondern um eine Beleidigung einer Person als „Antisemit“. Das LKA Sachsen hat auch Daten für
Januar bis September 2020 zur Verfügung gestellt. Diese wurden jedoch nicht berücksichtigt, da der
Bundesverband RIAS in seinen Problembeschreibungen nur vollständige Jahre auswertet.
67
4.6.1.
Übersicht: Antisemitische Straftaten
in der PMK-Statistik von 2014 bis 2019
Die PMK-Statistik unterscheidet zwischen den Phänomenbereichen „Rechts“,
„Links“, „ausländische Ideologie“
64
, „religiöse Ideologie“ und „nicht zuzuordnen“.
Zwischen 2014 und 2019 wurden 652 der 692 erfassten antisemitischen Straftaten
(94,2
) dem Phänomenbereich „Rechts“ zugeordnet (zur Problematisierung dieser
Zuordnungspraxis siehe Abschnitt 4.5). 17 Fälle (2,5
) wurden dem Phänomenbe-
reich „ausländische Ideologie“ zugeordnet. 9 Fälle (1,3
) wurden dem Phäno-
menbereich „Links“ zugerechnet. 5 Fälle (0,7
) wurden dem Phänomenbereich
„religiöse Ideologie“ zugerechnet. Bei 9 Fällen (1,3
) nahm das LKA keine Zuord-
nung vor, das entspricht dem Phänomenbereich „nicht zuzuordnen“.
64 Der Phänomenbereich wurde bis 2016 als „Phänomenbereich-Ausländer“ geführt und 2017 durch die
Bezeichnung „Ausländische Ideologie“ ersetzt.
68
Tabelle 2
Antisemitische Straftaten in der PMK-Statistik 2014–2019
Phänomenbereich/
Straftatbestand
Rechts
Links
Ausländ.
Ideologie
religiöse
Ideologie
Nicht zu-
zuordnen
Gesamt
Anteil
Gesamt
Volksverhetzung
(§
139 StGB)
350
2
1
3
1
359
52
%
Gewaltdarstellung
(§ 131 StGB)
-
-
1
-
-
1
Verwend. verfassungs-
widriger Kennzeichen
(§ 86a StGB)
156
1
3
1
1
162
23
%
Beleidigung
(§ 185 StGB)
20
-
1
-
2
23
Verleumdung
(§ 188 StGB)
1
-
-
-
-
1
Verunglimpfung d. An-
denkens Verstorbener
(§ 189 StGB)
1
-
-
-
-
1
Körperverletzung
(§ 223 StGB)
4
-
1
-
-
5
Gefährliche
Körperverletzung
(§ 224 StGB)
1
1
2
-
-
4
Nötigung
(§ 240 StGB)
1
-
-
-
-
1
Bedrohung
(§ 241 StGB)
17
-
2
-
-
19
Diebstahl
(§ 242 StGB)
9
-
-
-
-
9
Schwerer Diebstahl
(§ 243 StGB)
2
-
-
-
-
2
Sachbeschädigung
(§ 303 StGB)
69
4
1
-
4
78
11
%
Gemeinschädliche
Sachbeschädigung
(§ 304 StGB)
13
-
-
-
1
14
Brandstiftung
(§ 306 StGB)
-
-
-
1
-
1
Sonstige
8
1
3
-
-
12
Gesamt
652
9
17
5
9
692
69
359 der 692 Fälle (52
) entfallen auf den Straftatbestand Volksverhetzung (§ 130
StGB) zu. In 162 Fällen (23
) lautet der Straftatbestand Verwenden von Kennzei-
chen verfassungswidriger Organisationen“ (§ 86a StGB). 92 Fälle (13
) betreffen
den Straftatbestand der Sachbeschädigung (§ 303, 304 StGB). In 14 Fällen handelt
es sich um gemeinschädliche Sachbeschädigung. Insgesamt wurden 9 Gewaltstraf-
taten erfasst (1
). Vier dieser Gewaltstraftaten erfüllten den Straftatbestand der
gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB). Insgesamt wurden 52 antisemitische
Straftaten (8 %) erfasst, die sich direkt gegen Personen richteten. Dazu zählen Belei-
digungen (§ 185 StGB), Nötigungen (§ 240 StGB) und Bedrohungen (§ 241 StGB).
Unter den Betroffenen dieser 52 Straftaten waren Jüdinnen_Juden, als jüdisch mar-
kierte Personen sowie Personen, die sich solidarisch mit Israel zeigten.
Zwischen 2014 und 2019 wurden in der PMK-Statistik 34 Straftaten erfasst, die dem
Themenfeld „Israel“ zugeordnet wurden. 10 davon wurden zugleich als antisemiti-
sche Straftaten erfasst. Ein Großteil dieser 34 Straftaten wurde 2014 registriert (16
von 34 Fällen). Bei 4 Fällen – allesamt von 2014 – handelt es sich um Körperverlet-
zungen, darunter eine gefährliche Körperverletzung.
Tabelle 3
Straftaten in der PMK-Statistik, die dem Themenfeld „Israel“ zugeordnet wurden; 2014–2019
Themenfeld „Israel“
zusätzl. als antisemitische Straftat erfasst
Summe
2014
9
7
16
2015
1
1
2016
2
2
4
2017
1
1
2018
4
4
2019
7
1
8
Summe
24
10
34
70
4.6.2.
Ermittlung von Tatverdächtigen in Sachsen
Die Aufklärungsquote im Bereich der politisch motivierten Kriminalität lag
2019 bundesweit bei 41
und damit unter der Quote des Vorjahres (45
).
In Sachsen lag die Aufklärungsquote bei politisch motivierten Straftaten 2019
jedoch bei nur 32
.
65
Zu 385 der 692 zwischen 2014 und 2019 registrierten antisemitischen Straftaten
konnten Tatverdächtige ermittelt werden. Das entspricht einer Aufklärungsquote
von 56
– ein deutlich höherer Wert als die für Sachsen genannten 32
im Bereich
der politisch motivierten Kriminalität. Von den 52 antisemitischen Straftaten zwi-
schen 2014 und 2019, die sich direkt gegen Personen richteten, konnten zu 38 Tat-
verdächtige ermittelt werden. Das entspricht einer Quote von 73
. Zu allen 9
erfassten Gewaltstraftaten wurden jeweils Tatverdächtige ermittelt.
Der Quote der Fälle, in denen Tatverdächtige ermittelt werden konnten, ist beson-
ders wichtig für das Anzeigeverhalten. Viele Jüdinnen_Juden schätzen nach eigenen
Aussagen die Erfolgsaussichten einer Anzeige als eher gering ein und verzichten
daher bei antisemitischen Vorfällen häufig auf eine Anzeige. Allerdings bedeutet die
Ermittlung von Tatverdächtigen nicht automatisch, dass ein Strafverfahren auch im
Sinne der Betroffenen zufriedenstellend verläuft (siehe Abschnitt 4.3.). Sie ist stets
nur ein erster Schritt. Im Interesse der Betroffenen sollte daher darüber hinaus eine
Untersuchung der Gerichtsverfahren und der entsprechenden Urteile in Sachsen
erfolgen. Zudem bedeutet selbst die im bundesweiten Vergleich gute Quote von
56
in Sachsen, dass in 44
der Fälle keine Tatverdächtigen ermittelt werden
konnten.
Von den 385 erfassten antisemitischen Straftaten, zu denen Tatverdächtige ermittelt
wurden konnten, gab es in 326 Fällen (78
) einzelne Tatverdächtige. Bei den
anderen 59 Fällen wurden mehrere Tatverdächtige ermittelt. Die tatverdächtigen
Gruppen hatten eine Größe von bis zu 14 Personen. Insgesamt wurden laut PMK-
Statistik 494 Tatverdächtige ermittelt. 463 davon (94
) waren männlich und 31
(6
) weiblich.
65 Staatsministerium des Inneren: Kriminalitätsentwicklung im Freistaat Sachsen im Jahr 2019.
Verfügbar unter:
abgerufen am 5. 10. 2020.
71
In den übermittelten Daten der PMK-Statistik wurden nur bei 7 Fällen (1 ) Angaben
zu Betroffenen vermerkt. Das schließt allerdings die 52 Straftaten, die sich gegen
Personen richteten, bereits mit ein. Auf Nachfrage wurde von Seiten des LKA mitge-
teilt, dass die Anzahl der Geschädigten nicht ohne weiteres auswertbar sei, zu dem
würde der Begriff des “Opfer” eine physische Schädigung oder deren Absicht vor-
aussetzen. Weshalb mehrere Betroffene körperlicher Angriffe denoch nicht erfasst
wurden, konnte nicht abschließend aufgeklärt werden.
Alle Betroffenen waren männlich. Aus den zu Verfügung gestellten Daten der PMK-
Statistik gehen keine Angaben zur Altersstruktur der Betroffenen und Tatverdäch-
tigen hervor.
72
5.
Vergleichende Analyse der polizeilichen und
zivilgesellschaftlichen Statistiken in Sachsen
Der Bundesverband RIAS hat für diese Problembeschreibung auch einen Abgleich
der PMK-Statistik mit den Daten zivilgesellschaftlicher Erhebungen antisemitischer
Vorfälle vorgenommen. Da die entsprechenden zivilgesellschaftlichen Initiativen
meist regionale Arbeitsschwerpunkte haben, gibt es jedoch keine landesweite
zivilgesellschaftliche Erhebung antisemitischer Vorfälle in Sachsen. Dennoch sind
diese Erhebungen eine wichtige Ergänzung der polizeilichen Statistiken, insbeson-
dere weil sie Rückschlüsse auf das Dunkelfeld bei antisemitischen Straftaten und das
Meldeverhalten von Betroffenen ermöglichen und so das Lagebild vollständiger
machen. Zudem erfassen zivilgesellschaftlichen Stellen auch antisemitische Vorfälle,
die strafrechtlich nicht relevant sind und daher auch nicht in die PMK-Statistik mit
einfließen.
Die folgenden Abschnitte zeigen die vergleichende Auswertung der polizeilich und
zivilgesellschaftlich erfassten antisemitischen Vorfälle in Sachsen zwischen 2014 und
2019. In Abschnitt 5.1. wird zunächst die Datengrundlage erläutert. Dann folgt ein
Abgleich der PMK-Statistik mit den Daten aus der Zivilgesellschaft. Die nach-
folgenden Abschnitte analysieren die Daten nach ihrer geografischen Verteilung
(Abschnitt 5.2.), nach unterschiedlichen Erscheinungsformen von Antisemitismus
(Abschnitt 5.3.), nach verschiedenen Vorfalltypen (Abschnitt 5.5), nach Verände-
rungen im Zeitverlauf (Abschnitt 5.6) sowie nach spezifischen Tatorten (Abschnitt
5.7). In Exkursen wird auf das Versammlungsgeschehen in Dresden eingegangen
(Abschnitt 5.4) sowie die Erfahrungen eines jüdischen Gewerbetreibenden geschil-
dert (5.8), bevor die Ergebnisse der vergleichenden Analyse zusammengefasst
werden (5.9).
73
5.1
Datengrundlage: zivilgesellschaftlich
erfasste antisemitische Vorfälle 2014–2019
Die hier analysierten Daten über antisemitische Vorfälle wurden von zivilgesell-
schaftlichen Initiativen erhoben. Dies erfolgte über Medienrecherchen, Monitoring
oder lokale Meldestrukturen. Weitere zivilgesellschaftliche Quellen sind die online
verfügbare „Chronik antisemitischer Vorfälle“ der Amadeu Antonio Stiftung
66
, die
„chronik.LE – Dokumentation faschistischer, rassistischer und diskriminierender
Ereignisse in und um Leipzig“
67
. Herangezogen wurden außerdem Daten Mobiler
Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt, wie dem Kulturbüro Sachsen
68
oder der
Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie
69
in Sachsen.
Nicht zuletzt wurden antisemitische Vorfälle berücksichtigt, die dem Bundesverband
RIAS direkt gemeldet wurden oder die durch dessen Recherchen bekannt wurden.
All diese zivilgesellschaftlichen Initiativen zusammen erfassten im Untersuchungs-
zeitraum von 2014 bis 2019 insgesamt 278 antisemitische Vorfälle. Von diesen sind
nur 50 Vorfälle ebenfalls in der PMK-Statistik aufgeführt. Diese 50 Vorfälle werden
daher im Folgenden als Schnittmenge bezeichnet.
Auffällig ist, dass unter den zivilgesellschaftlichen Daten ein Vorfall ist, der RIAS
gemeldet wurde. Bei dem Vorfall war die Polizei anwesend, dennoch taucht er nicht
in der PMK-Statistik auf. Am 11. Januar 2016 kam es während eines Fußballspiels in
Leipzig zu Rangeleien auf der Tribüne und einem versuchten Platzsturm. Dabei gab
es auch antisemitische und rassistische Beleidigungen aus einem Fanblock.
Um die zivilgesellschaftlichen Erhebungen mit der PMK-Statistik vergleichbar zu
machen, wurden nur diejenigen Meldungen übernommen, die nach den Kriterien
des Bundesverbands RIAS als antisemitische Vorfälle einzuordnen sind (siehe dazu
Abschnitt 1.2). Von den 692 antisemitischen Straftaten in der PMK-Statistik für
Sachsen von 2014 bis 2019 wurden somit 208 Fälle ausgeklammert, da sie nach
66 Chronik antisemitischer Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung,
abgerufen am 21. 1. 2021.
67 Chronik.LE
abgerufen am 21. 1. 2021.
68 Kulturbüro Sachsen.
abgerufen am 21. 1. 2021.
69 regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie
abgerufen am 21. 1. 2021.
74
RIAS-Kriterien operational keine antisemitischen Vorfälle sind.
70
In den meisten
Fällen betrifft das Straftaten, bei den antisemitische Inhalte im Internet verbreitet
wurden, ohne dass dabei konkrete Personen oder Institutionen direkt adressiert
wurden. Diese direkte Adressierung ist allerdings nach RIAS-Definition ein ent-
scheidendes Merkmal für einen antisemitischen Vorfall. Ausgenommen wurden
auch Straftaten im Zusammenhang mit dem Besitz oder Vertrieb von Medien mit
volksverhetzenden Inhalten sowie Straftaten, die außerhalb Sachsens begangen
wurden.
Abbildung 2
Datengrundlage: absolute Anzahl antisemitischer Vorfälle in Sachsen 2014–2019
Die vergleichende Analyse der polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Statistiken
basiert damit auf insgesamt 712 antisemitischen Vorfällen in den Jahren 2014 bis
2019. Davon entfallen 484 Vorfälle (68 %) auf die PMK-Statistik und 228 Vorfälle
(32
) auf zivilgesellschaftliche Quellen. Lediglich 50 Fälle (7
) der Vorfälle sind
70 Diese Datengrundlage bezieht sich auf die Abschnitte 5.3, 5.5 und 5.6.
75
2019
2018
2017
2016
2015
2014
0
50
100
150
200
250
89
81
61
55
62
86
9
11
15
3
7
5
64
96
48
7
3
10
54
48
26
29
32
19
PMK-Statistik
Schnittmenge
Zivilgesellschaft
keine Vorfälle nach RIAS-BK
sowohl in der PMK-Statistik als auch in den zivilgesellschaftlichen Erhebungen ent-
halten und werden daher als Schnittmenge bezeichnet. Die folgenden Analysen
beziehen sich nach der Ergänzung der polizeilichen Daten um die Vorfälle aus
zivilgesellschaftlichen Quellen somit auf 712 antisemitische Vorfälle.
5.2
Geografische Verteilung antisemitischer
Vorfälle 2014–2019
Zur Analyse der geografischen Verteilung der antisemitischen Vorfälle in Sachsen
wurde eine Auswertung nach Raumtypen, Landkreisen und Polizeidirektionen (siehe
Abschnitt 2) vorgenommen.
Abbildung 3
Anzahl antisemitischer Vorfälle nach Raumtypen 2014–2019
Für die Analyse wurden die erfassten antisemitischen Vorfälle in Sachsen nach Ein-
wohner_innenzahlen den vier Raumtypen „Metropole“ (mehr als 500.000 Ein-
wohner_innen), „Großstadt“ (100.000 bis 500.00), „Mittelstadt“ (20.000 bis
100.000) und „Kleinstadt und ländlicher Raum“ (weniger als 20.000) zugeordnet
(siehe hierzu Abschnitt 2). Die Analyse nach Raumtypen zeigt ein deutliches
Ungleichgewicht: Über die Hälfte aller antisemitischen Vorfälle (55
bzw. 390 Vor-
76
Metropole
Kleinstadt
Mittelstadt
Großstadt
0
50
100
150
200
250
300
350
145
165
85
39
20
16
5
9
163
33
18
14
PMK
Schnittmenge
Zivilgesellschaft
fälle) ereignete sich in den drei größten Städten des Landes: den beiden Metropolen
Dresden und Leipzig sowie der Großstadt Chemnitz. Fast ein Drittel der Vorfälle
(30
bzw. 214 Vorfälle) wurde in Kleinstädten und dem ländlichen Raum erfasst.
Der geringste Anteil wurde mit 15
(108 Vorfälle) in Mittelstädten registriert. Dabei
variiert der Anteil der zivilgesellschaftlich erfassten Vorfälle deutlich: In den beiden
Metropolen wurden 163 von 328 Vorfällen (50
) nur der Zivilgesellschaft bekannt.
In der Großstadt Chemnitz waren dies 14 von 62 Vorfälle (23
). In Kleinstädten
und dem ländlichen Raum lag der Anteil mit 33 von 214 Vorfällen bei 15
, in Mit-
telstädten mit 18 von 108 Vorfällen bei 17
. Diese unterschiedliche Verteilung
kann ein Indiz dafür sein, dass zivilgesellschaftliche Initiativen an einigen Orten
aktiver und besser verankert sind als an anderen.
Die Auswertung nach Landkreisen zeigt, dass die meisten antisemitischen Vorfälle in
den drei kreisfreien Städten Dresden (20,8
bzw. 148 Vorfälle), Leipzig (25,3
bzw. 180 Vorfälle) und Chemnitz (8,7
bzw. 62 Vorfälle) bekannt wurden. In
Leipzig wurde auch ein Großteil der Straftaten erfasst, die sich gegen Personen rich-
teten (19 von 52 Vorfällen, das entspricht 37
).
Abbildung 4
Gesamtzahl antisemitischer Vorfälle nach Landkreisen und kreisfreien Städten 2014–2019
77
Meißen
Sächsische Schweiz
Vogtlandkreis
Zwickau
Bautzen
Erzgebirgskreis
Görlitz
Mittelsachsen
Leipzig
Nordsachsen
Chemnitz*
Dresden*
Leipzig (Stadt)*
0
20
40
60
80
100
120
140
160
180
200
17
19
20
30
31
31
36
40
44
54
62
148
180
Bei der Auswertung nach Landkreisen muss deren unterschiedliche Bevölkerungs-
dichte berücksichtig werden. So gibt es in Kleinstädten und ländlichen Regionen
weniger Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Vorfälle.
Die Auswertung nach den fünf Polizeidirektionen des Landes weist ebenfalls auf
Unterschiede hin. Die meisten antisemitischen Vorfälle wurden in der Polizeidirek-
tion Leipzig (278 Vorfälle oder 39
) erfasst. Der geringste Anteil entfällt auf die
Polizeidirektion Zwickau (50 Vorfälle oder 7
).
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Verteilung der Angriffe und Bedrohungen auf
die Polizeidirektionen. 24 von 59 Vorfällen (41 ) wurden in der Polizeidirektion
Leipzig erfasst. Weitere 14 Angriffe und Bedrohungen im Zuständigkeitsbereich der
Polizeidirektion Chemnitz, elf in Dresden, sechs in Görlitz und vier in Zwickau.
Abbildung 5
Gesamtzahl antisemitischer Vorfälle nach Polizeidirektionen 2014–2019
78
Leipzig
Dresden
Chemnitz
Görlitz
Zwickau
0
50
100
150
200
250
300
137
101
99
55
42
25
9
10
4
2
116
74
24
8
6
PMK
Schnittmenge
Zivilgesellschaft
5.3
Vorfalltypen antisemitischer Vorfälle 2014–2019
Die systematische Auswertung der antisemitischen Vorfälle nach verschiedenen Vor-
falltypen (siehe Abschnitt 1.2.) ergibt für Sachsen folgendes Bild: In Sachsen wurde
zwischen 2014 und 2019 kein einziger Vorfall des Vorfalltyps
extreme Gewalt
registriert. Erfasst wurden im selben Zeitraum 16
Angriffe
, 43
Bedrohungen
, 68
gezielte Sachbeschädigungen
, 6
Massenzuschriften
und 579 Fälle
verlet-
zenden Verhaltens
. 48 von diesen 579 Fällen waren
Versammlungen
.
Abbildung 6
Antisemitische Vorfälle nach Vorfalltypen 2014–2019 (in Prozent)
Vergleicht man die antisemitischen Vorfälle in der PMK-Statistik mit denen der
zivilgesellschaftlichen Erfassung getrennt nach Vorfalltypen, so fällt auf, dass die
Schnittmenge beider Datenquellen bei Angriffen und Bedrohungen eher gering ist.
Sie beträgt lediglich drei bzw. zwei Vorfälle. Bei den Angriffen und Bedrohungen
wurden fast ein Drittel (18 von 59 Vorfälle oder 31 ) nur zivilgesellschaftlichen
Stellen bekannt. Diese geringe Schnittmenge lässt sich aus dem fehlenden statisti-
79
10 %
6 %
2 %
1 %
81 %
gezielte Sachebeschädigung
Bedrohungen
Angriffe
Massenzuschriften
Verletzendes Verhalten
schen Abgleich der Gewaltvorfälle zwischen polizeilichen Stellen und zivilgesell-
schaftlicher Initiativen einerseits und den unterschiedlichen Begriffsapparaten und
Arbeitsweisen andererseits bleiten.
Im Folgenden werden einige antisemitische Vorfälle beschrieben, die den Vor-
falltypen Angriff und Bedrohung zuzuordnen sind. All diese Vorfälle wurden aus-
schließlich zivilgesellschaftlichen Initiativen bekannt und wurden nicht in der PMK-
Statistik erfasst.
–
Am 16. Februar 2014 wurde zwei Männer an einer Straßenbahnhaltestelle von
Fußballfans Gewalt angedroht. Die Fußballfans beschimpften die Männer zudem
sexistisch und brüllten sie wiederholt mit „Juden“ an. Am 11. Januar 2016 wurden
zwei Israelis im Dresdener Stadtgebiet beschimpft und angegriffen.
–
Am 27. Oktober 2017 beobachtete eine Zeugin, wie ein Mann auf das Gelände
eines öffentlichen Gedenkortes urinierte. Als sie ihn darauf ansprach, wurde er
aggressiv und beleidigte sie misogyn. Hinzugekommene Passant_innen stellten
den Mann ebenfalls zur Rede. Daraufhin bedrohte dieser die Gruppe mit einem
Messer, rief rassistische und antisemitische Parolen und warf eine Flasche in Rich-
tung der Gruppe.
–
Am 21. Juli 2018 wurde einem Mann, der eine Regenbogenflagge mit einem
Davidstern an seinem Rucksack trug, am Rande des Christopher Street Days die
Vernichtungsdrohung „Ab ins Gaslager!“ entgegengerufen. Der Rufende stellte
sich ihm in den Weg, der Betroffene konnte jedoch ausweichen.
–
Am 9. November 2018 putzte eine Person in Plauen anlässlich des Jahrestags der
Novemberpogrome Stolpersteine. Eine unbekannte Person spuckte ihr daraufhin
ins Gesicht und bedrohte sie. Einen anschließenden versuchten Angriff konnte
die_der Betroffe abwenden.
Die größte Schnittmenge zwischen polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Erfassung
antisemitischer Vorfälle gibt es bei gezielten Sachbeschädigungen. In dieser Kate-
gorie wurden 39 Vorfälle nur in der PMK-Statistik und 16 Vorfälle nur von zivilgesell-
schaftlichen Stellen erfasst. Auch diese Fälle sind strafrechtlich relevant. Die
Schnittmenge beträgt 13 Vorfälle (19
).
Antisemitische Vorfälle des Vorfalltyps Verletzendes Verhalten – Versammlungen
unterstreichen ebenfalls die Bedeutung einer zivilgesellschaftlichen Erfassung. Ein
80
Vorfall wird diesem Vorfalltyp zugeordnet, wenn auf Versammlungen in Reden oder
Parolen, auf mitgeführten Transparenten oder in Aufrufen antisemitische Inhalte
transportiert werden. Zwischen 2014 und 2019 gab es in dieser Kategorie in
Sachsen insgesamt 48 Vorfälle. 41 dieser Fälle (85
) wurden ausschließlich zivilge-
sellschaftlichen Stellen bekannt. (Zu den Vorfällen auf Versammlungen in Dresden
vgl. Abschnitt 5.4) Aufgrund dieses hohen Anteils werden im Folgenden einige
dieser Vorfälle exemplarisch geschildert.
–
Am 21. September 2017 wurden in Leipzig aus einem Demonstrationszug des
Leipziger PEGIDA Ablegers LEGIDA (Leipziger Europäer gegen die Islamisierung
des Abendlandes) israelbezogene antisemitische Parolen wie „Nie wieder Israel“
gerufen.
–
Am 25. Mai 2019 kam es in Annaberg-Buchholz auf einer Versammlung christli-
cher Fundamentalist_innen gegen Schwangerschaftsabbrüche zu antisemitischen
Vergleichen, mit denen die Schoa relativiert wurde.
–
Am 3. November 2018 gab es in Ostritz bei einem rechtsextremen Festival Solida-
ritätsbekundungen mit der verurteilten Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck.
Außerdem wurde ein antisemitischer und geschichtsrevisionistischer Aufmarsch in
Bielefeld wenige Tage später beworben.
Im Untersuchungszeitraum dokumentierten zivilgesellschaftliche Initiativen zudem
mehrfach Solidaritätsbekundungen für Schoa-Leugner_innen im Umfeld von Pegida-
Demonstrationen in Dresden.
Auch wenn die genannten antisemitischen Vorfälle unterhalb der Strafbarkeits-
grenze liegen und daher nicht in der PMK-Statistik aufgeführt sind, sind sie dennoch
relevant. Ohne Presseberichte oder das Monitoring durch zivilgesellschaftliche Initia-
tiven wären die genannten antisemitischen Vorfälle nicht bekannt geworden. Sie
zeigen, dass Diese und Beispiele aus dem folgenden Abschnitt zeigen, dass für eine
umfangreiche Erfassung antisemitischer Vorfälle eine ergänzende zivilgesellschaft-
liche Erfassung unerlässlich ist.
81
5.4
Exkurs 1:
Zivilgesellschaftliches Monitoring und
staatliche Erfassung antisemitischer Vorfälle
beim Versammlungsgeschehen in Dresden
Seit vielen Jahren ist das Versammlungsgeschehen in der Landeshauptstadt Dresden
sowohl hinsichtlich der Anzahl, als auch bezüglich der Größe der Versammlungen
und den dort sichtbaren antisemitischen Ausdrucksformen Gegenstand öffentlicher
Auseinandersetzungen. Bereits seit den 2000er Jahren wurden anlässlich des Jahres-
tags der Bombardierung Dresdens durch die britische Royal Air Force am Ende des
Zweiten Weltkriegs zeitweise die europaweit größten rechtsextremen, geschichtsre-
visionistischen Demonstrationen in der sächsischen Landeshauptstadt durchgeführt.
Seit Oktober 2014 kommt es zudem zu wöchentlich abgehaltenen „abendlichen
Spaziergängen“ der so genannten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung
des Abendlandes“ (PEGIDA). Für beide Versammlungskontexte gilt, dass sie auf ganz
unterschiedliche Art und Weise Gelegenheitsstrukturen für offene und eher codiert
artikulierte antisemitische Ausdrucksformen schaffen.
In diesem Abschnitt wird daher anhand der Auswertung des Versammlungsgesche-
hens in der Landeshauptstadt Dresden zwischen Anfang 2017 und Ende 2019, die
Notwendigkeit eines unabhängigen zivilgesellschaftlichen Monitorings auf Grund-
lage der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA dargestellt.
71
5.4.1
Hohes Dunkelfeld von (antisemitischen)
Vorfällen und Straftaten
Im gesamten Untersuchungszeitraum von 2014 bis 2019 wurden durch die Auswer-
tung der PMK-Statistik, zivilgesellschaftlicher und journalistischer Quellen 33 anti-
semitische Vorfälle in Dresden bekannt, die als Formen des verletzenden Verhaltens
im Zusammenhang mit Versammlungen unter freiem Himmel klassifiziert wurden.
71 RIAS – BK hat erst ab 2017 mit der synchronen systematischen Auswertung des
Versammlungsgeschehens im Bundesgebiet begonnen, weshalb die ersten drei Jahre des
Untersuchungszeitraum hier ausgespart werden mussten.
82
Einschränkend muss hier erwähnt werden, dass für die Jahre 2014 bis 2016 eine
retrograde Zählung geschweige denn eine Sichtung antisemitischer Vorkommnisse
bei PEGIDA-Versammlungen nicht möglich war, da RIAS–BK erst ab dem Jahr 2017
eine synchrone Erfassung der antisemitischen Vorfälle im Kontext der Versamm-
lungen gewährleisten konnte und daher auf die verfügbaren zivilgesellschaftlichen
Quellen zurückgreifen musste. Laut der Antwort des Staatsministeriums für Justiz
des Freistaats Sachsen auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten André
Schollbach (Die Linke) vom 29.
April 2019 kann von „etwa 170 Versammlungstagen
von >PEGIDA< in Dresden“ ausgegangen werden.
72
PEGIDA selbst gibt an, bis zum
31.
Dezember 2019 196-mal einen „Abendspaziergang“ durchgeführt zu haben. Es
ist daher von einem erheblichem Dunkelfeld nicht bekannt gewordener bzw. in
dieser Analyse nicht berücksichtigter antisemitischer Vorfälle im Kontext der Ver-
sammlungen in Dresden im Zeitraum 2014 bis 2019 auszugehen.
73
5.4.2
Post-Schoa-Antisemitismus und moderner
Antisemitismus als kontinuierliche Ausdrucksformen
Bei den 33 erfassten Vorfällen des Vorfalltyps „Verletzendes Verhalten – Versamm-
lungen“ handelt es sich um sechs Vorfälle im Kontext der Jahrestage der Bombar-
dierung Dresdens, um acht Vorfälle auf Versammlungen von PEGIDA, um 17
sogenannte „Mahnwachen“ bzw. Solidaritätsstände für Schoa-Leugner_innen,
welche seit Juli 2018 regelmäßig im Umfeld der PEGIDA-Versammlungen durchge-
führt wurden, sowie um zwei Versammlungen aus dem Spektrum sogenannter
Reichsbürger_innen im Jahr 2019.
72 Sächsischer Landtag: Antwort auf MdL André Schollbach, Drs.--Nr.: 6/17242, S.4. Der Antwort des
Staatsministeriums für Justiz ist auch entnehmbar, dass eine statistische Auswertung von Straftaten
im Zusammenhang mit PEGIDA-Versammlungen auf Grundlage der durch Polizei- und Justizbehörden
erhobenen Daten nicht möglich ist. So würde der zeitliche Aufwand hierfür laut Angaben des
Staatsministerium für Justiz „auf rd. 1.688 Arbeitstage für einen in Vollzeit tätigen Mitarbeiter
geschätzt“. Schließlich sei, so die Einschätzung, eine Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik
in der zur Verfügung stehenden Frist zur Beantwortung der Anfrage nicht „ohne den Verlust der
Funktionsfähigkeit der Polizei“ leistbar.
73 Das Projekt „Durchgezählt klicken zählen schätzen“ wertete allein zwischen dem 20. Oktober 2014
und dem 26. September 2016 86 PEGIDA-Versammlungen aus. Vgl.: Durchgezählt: Analyse der
Teilnehmerzahlen zu Pegida und Gegendemos am 7. 11. 2016 in Dresden. In:
abgerufen am 14. 1. 2021.
83
Lediglich vier der antisemitischen Vorfälle im Kontext des Versammlungsgeschehens
in Dresden wurden in der PMK-Statistik erwähnt. Dieser Umstand ist einerseits auf
die fehlende strafrechtliche Relevanz der Aussagen und andererseits auf das an den
strafrechtlichen Bestimmungen angelehnte Antisemitismus-Verständnis der Polizei
zurückzuführen. Hinzu kommt, dass Redner_innen und Teilnehmende häufig Chif-
fren verwenden, um antisemitische Inhalte zu transportieren. Die Kenntnis antisemi-
tischer Verschwörungsmythen oder Formen der Erinnerungsabwehr unter den
Teilnehmenden der Versammlungen führt jedoch dazu, dass Codes wie „Soros“,
„Rothschilds“, „Kalergi-Plan“ oder „Bombenholocaust“ in diesen Kontexten als ein-
deutige Bezugnahmen auf antisemitische Weltsichten verstanden werden müssen.
Die inhaltliche Auswertung des Versammlungsgeschehens in Dresden zeigt, dass
sich Antisemitismus im Untersuchungszeitraum insbesondere als Post-Schoa-Anti-
semitismus und in Formen des modernen Antisemitismus äußerte.
Auf den jährlich stattfindenden Veranstaltungen zum Jahrestag der Bombardierung
Dresdens relativierten Redner_innen beispielsweise die Schoa und sprachen bei der
Bombardierung von einem „Bomben-Holocaust“ und bedienten so eine besonders
in der rechtsextremen Szene verbreitete Form der Täter-Opfer-Umkehr. So verherr-
lichte der Schoa-Leugner Gerd Ittner auf einer von ihm am 11. Februar 2017 ange-
meldeten Demonstration anlässlich der Bombardierung Dresdens den
Nationalsozialismus. In seiner Rede hieß es: „Was Adolf Hitler dem deutschen Volk
mit dem Nationalsozialismus an die Hand gegeben hat: Es wäre ein Modell, heute,
für die ganze Welt.“ Zudem sagte er: „Warum sollte der Holocaust die Wahrheit
sein?“.
74
Im September 2017 wurde Ittner deshalb zu einer Geldstrafe von 5400
Euro verurteilt. Ein Jahr später, am 17. Februar 2018, meldete Ittner wieder eine Ver-
sammlung an, auf der es ihm jedoch polizeilich untersagt war, zu den ca. 200 Teil-
nehmenden aus der rechtsextremen Szene zu sprechen. Auf dieser Versammlung
leugnete die Australierin Michèle Renouf in ihrer Rede die Schoa, rechtfertigte die
Errichtung von Konzentrationslagern und verbreitete unter Applaus weitere rassisti-
sche sowie antisemitische Verschwörungsmythen. Übersetzt wurde ihre Rede von
dem durch die Berliner Senatsverwaltung für Bildung freigestellten Berliner ex-
Lehrer Nikolai N.
75
Kurz nach dem Auftritt Renoufs unterbrach die Polizei aufgrund
von volksverhetzenden Inhalten die Versammlung und forderte nach gerichtlicher
74
abgerufen 20. 1. 2021.
84
Prüfung Ittner auf, die Veranstaltung abzubrechen und untersagte die geplante
Demonstration. Laut Angaben der Polizei wurden gegen zwei Redner_innen
Strafverfahren eingeleitet und die Personalien von 81 Personen festgestellt, die den-
noch versuchten eine Demonstration durchzuführen.
76
Bei den Vorfällen, die im Kontext der PEGIDA-Demonstrationen erfasst wurden,
handelte es sich sowohl um antisemitische Inhalte in Reden als auch um Hand-
lungen von Teilnehmenden. So wurde in einer Rede am 10. April 2017 die Erinne-
rung an die Schoa abgewehrt, indem ein „Schuldkult“ imaginiert wurde. Mit dieser
Aussage geht auch eine Täter-Opfer-Umkehr einher, wonach die deutsche Mehr-
heitsgesellschaft pauschal als „Opfer“ der Erinnerung an die Schoa inszeniert wird.
Neben geschichtsrevisionistischen Äußerungen verbreiteten Redner_innen auch ver-
schwörungsideologische Inhalte. So bediente ein Redner am 8. Mai 2017 den Ver-
schwörungsmythos einer (jüdischen) Elite, die im Geheimen Macht ausübe, als er
von dem „langen Arm der Rothschilds“ sprach. Auf einem am 5. Juli 2018 mitge-
führten Plakat hieß es: „Frau Merkel! Kein Mischvolk in Europa! Überfremdung ist
auch eine Form von Völkermord! Und Sie sind eine der Vollstreckungsgehilfen des
Kalergi-Planes!“. Bei dem sogenannten „Kalergi-Plan“ handelt es sich um eine rassis-
tische und antisemitische Erzählung, welche unterstellt, dass Migrationsbe-
wegungen aus dem Geheimen gesteuert würden, mit dem Ziel die weiße
Bevölkerung Europas zunächst zu minorisieren, um sie anschließend unter eine
„jüdische Kontrolle“ stellen zu können.
77
Unter den Vorfällen sind auch zwei, bei denen sich Teilnehmende durch das Tragen
von T-Shirts und dem Zeigen eines Transparents mit der verurteilten Schoa-Leug-
nerin Ursula Haverbeck solidarisierten und ihre Freiheit forderten.
75 Vgl.: „‚Volkslehrer‘ legt Berufung ein. Richter habe ‚politisch‘ argumentiert.“ In Tagesspiegel vom
24. 6. 2019,
berufung-ein/24489002.html, abgerufen am 14. 1. 2021.
76 Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antsiemitismus (JFDA): Holocaustleugnung auf
rechtsextremer Kundgebung in Dresden,
abgerufen am 20. 1. 2021.
77 Hope Not Hate. Exposed: For Britain and the “White Genocide” Conspiracy Theory.
abgerufen am 20. 1. 2021.
85
Abbildung 7
5. Juli 2018, Poster auf der PEGIDA Versammlung, Quelle: Matthias Schwarz
Über die Jahre gab es im direkten Umfeld der PEGIDA-Demonstrationen regelmäßig
Stände, die ihre Solidarität mit Schoa-Leugner_innen zeigten und extrem rechte Pro-
paganda auslegten, so wurde im Jahr 2018 ein Verfahren wegen Volksverhetzung in
diesem Zusammenhang eingeleitet. Dem Bundesverband RIAS sind im Unter-
suchungszeitraum durch die Dokumentation zivilgesellschaftlicher Initiativen 17 sol-
cher Solidaritätsstände bekannt geworden. Das ausgelegte Informationsmaterial
bezieht sich nicht nur positiv auf die Leugnung der Schoa im Allgemeinen, sondern
verfolgt auch die Inszenierung einer Täter-Opfer-Umkehr. Verurteilte Leugner_innen
der Schoa werden zu Märtyrer_innen und Opfern stilisiert, deren freie Meinungsäu-
ßerung durch die geltenden Gesetze und die deutsche Öffentlichkeit unrechtmäßig
eingeschränkt sei.
86
Abbildung 8
5. Juli 2018, Teilnehmende der PEGIDA Versammlung
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zwei Formen des Antisemitismus das
Versammlungsgeschehen in Dresden prägen: der Post-Schoa Antisemitismus und
der moderne Antisemitismus. Ersterer zeigt sich in mannigfaltigen Formen der
Erinnerungsabwehr etwa durch Schoa-Leugnungen oder geschichtsrevisionistischen
Inszenierungen einer Täter-Opfer-Umkehr. Der moderne Antisemitismus wird durch
die ständige Präsenz von Chiffren, die verschwörungsmythologische Erzählungen
einer geheimen jüdischen Einflussnahme auf Politik, Medien und Öffentlichkeit evo-
zieren, belegt. Die unterschiedlichen Versammlungskontexte existieren nebenein-
ander, haben jeweils eigenständige Organisator_innen und genießen
unterschiedlich starke gesellschaftliche Anschlussfähigkeiten, wenngleich es auch
immer wieder zu punktuellen Überschneidungen kommen kann. Zweifelsfrei fun-
gieren antisemitische Weltsichten als ideologisches Amalgam für die unterschiedli-
chen Spektren der Versammlungen. Die Analyse hat auch gezeigt, dass die Polizei
aufgrund der an strafrechtlichen Normen angelehnten statistischen Erfassungssys-
teme nicht annähernd ein realistisches Bild von den antisemitischen Ausdrucks-
87
formen im Kontext der Versammlungen zeichnen kann. Zudem führt die schiere
Anzahl der Versammlungskontexte dazu, dass ohne ein systematisches und kontinu-
ierliches zivilgesellschaftliches Monitoring das erhebliche Dunkelfeld antisemitischer
Vorfälle weiterhin bestehen bleibt.
5.5.
Auswertung antisemitischer Vorfälle 2014–2019
nach Erscheinungsformen von Antisemitismus
Der Bundesverband RIAS unterscheidet bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle
fünf verschiedene Erscheinungsformen von Antisemitismus (siehe zur Erläuterung
Abschnitt 1.2). Dabei kann ein einzelner Vorfall durchaus mehreren Erscheinungs-
formen gleichzeitig zugeordnet werden. Dies ist entweder der Fall, wenn bei einem
Vorfall mehrere antisemitische Stereotype benutzt werden oder weil einzelne Ste-
reotype gleichzeitig verschiedenen Erscheinungsformen zugeordnet werden können.
Von den 712 antisemitischen Vorfällen wurden 704 einer oder mehreren Erschei-
nungsformen zugeordnet. Bei acht Vorfällen war diese Zuordnung aufgrund feh-
lender Informationen nicht möglich. Von den 704 Vorfällen wurden 551 Vorfälle
einer Erscheinungsform zugeordnet. 148 Vorfälle wurden zwei Erscheinungsformen
zugeordnet und fünf Vorfälle drei Erscheinungsformen. Die folgenden Prozentan-
gaben beziehen sich daher nicht auf die Anzahl der Vorfälle, sondern auf die
Gesamtzahl von 862 Zuordnungen von Erscheinungsformen.
Tabelle 4
Antisemitische Vorfälle nach Erscheinungsformen 2014–2019 (in Prozent)
Erscheinungsform
2014–2019
Post-Schoa-Antisemitismus
44,7 %
antisemitisches Othering
40,5 %
israelbezogener Antisemitismus
9 %
moderner Antisemitismus
5,5 %
Antijudaismus
0,3 %
88
In Sachsen äußert sich der Antisemitismus ähnlich wie in Brandenburg und Sachsen-
Anhalt vorwiegend in Form des Post-Schoa-Antisemitismus und des antisemitischen
Otherings. So ließen sich 44,7
der Stereotype dem Post-Schoa-Antisemitismus
zuordnen. Ähnlich hoch ist mit 40,5
auch der Anteil an Vorfällen mit einem anti-
semitischen Othering. Bei der Auswertung der Erscheinungsformen fallen einerseits
hinsichtlich eines bundesweiten Vergleichs Unterschiede in der Verbreitung und
Feststellung israelbezogener Stereotype in Bezug auf antisemitische Straftaten auf.
Anders als in Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen
78
spielten in Sachsen die mili-
tärischen Auseinandersetzungen in Israel 2014 keine zentrale Rolle in Bezug auf die
registrierten antisemitischen Vorfälle. Auch in den folgenden Jahren wurde mit neun
Prozent nur ein geringer Teil von Vorfällen erfasst, in denen sich israelbezogener
Antisemitismus äußerte. Bei der zusätzlichen Analyse der Quellen zeigt sich anderer-
seits, dass der Anteil, der nur der Zivilgesellschaft bekannt wurde, auffallend hoch
ist: Von den 78 Vorfällen mit Israelbezug liegt der Anteil bei 58
(45 von 78 Fällen).
30 Fälle wurden nur in der polizeilichen Statistik erfasst, die Schnittmenge von der
PMK-Statistik und den zivilgesellschaftlichen Daten umfasst drei Fälle. In 5,5
der
Fälle konnten verwendete Stereotype dem modernen Antisemitismus zugeordnet
werden. Beispiele dafür sind Verschwörungsmythen wie eine imaginierte jüdische
Allmacht. In weniger als einem Prozent der Fälle äußerte sich Antijudaismus in Form
religiös begründetet Stereotype. Aufgrund des bundesweit zu beobachtenden
Demonstrationsgeschehens im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-
19-Pandemie könnte für das Jahr 2020 eine Zunahme von modernem Antisemi-
tismus in Kombination mit Post-Schoa-Antisemitismus im Jahr 2020 registriert
werden.
79
78 Vgl. u. a. die Analyse des „Summer of Hate“ in der Problembeschreibung Antisemitismus in
Nordrhein-Westfalen,
S. 73 ff., abgerufen am
14. 12. 2020.
79 Vgl.: Monitoring: Antisemitismus im Kontext der Covid-19-Pandemie. Verfügbar unter:
abgerufen am 3. 12. 2020.
89
5.6
Antisemitische Vorfälle im Zeitverlauf 2014–2019
Die Auswertung antisemitischer Vorfälle im Zeitverlauf ermöglicht Aussagen dar-
über, ob es einen längerfristigen Anstieg oder als Reaktion auf bestimmte Ereignisse
einen zeitweisen Anstieg antisemitischer Vorfälle gab. In Sachsen lässt sich insge-
samt seit 2017 ein Anstieg der erfassten antisemitischen Vorfälle erkennen – sowohl
in der PMK-Statistik als auch in den zivilgesellschaftlichen Erfassungen. Im gesamten
Auswertungszeitraum von 2014 bis 2019 wurden durchschnittlich knapp zehn anti-
semitische Vorfälle pro Monat erfasst. Die meisten Vorfälle wurden im Mai 2018
registriert.
Abbildung 9
Gesamtzahl antisemitischer Vorfälle im Zeitverlauf von Januar 2014–2019
90
2014 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
2015 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
2016 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
2017 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
2018 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
2019 Jan
Feb
M är
Apr
M ai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
0
5
10
15
20
25
30
35
5.7
Tatorte antisemitischer Vorfälle 2014–2019
Bei der Analyse der Tatorte antisemitischer Vorfälle spielen die jeweiligen Auswir-
kungen auf die Betroffenen eine zentrale Rolle. Vorfälle, die sich im öffentlichen
Raum ereigneten, besitzen eine andere Qualität als Vorfälle im privaten oder auch
beruflichen Umfeld. Hier sind Täter_innen und Betroffene möglicherweise persönlich
miteinander bekannt oder begegnen sich potenziell immer wieder (Nachbar_innen,
Arbeitskolleg_innen etc.).
Von den 712 antisemitischen Vorfällen konnten 80 keinem konkreten Tatort zuge-
ordnet werden, meist aufgrund fehlender Informationen. Die folgenden Prozentan-
gaben beziehen sich daher nur auf die 632 Vorfälle, denen ein konkreter Tatort
zugeordnet werden konnte.
Ein Großteil der Vorfälle (290 Vorfälle oder 46
) ereignete sich auf öffentlichen
Straßen. Der zweit- und dritthäufigste Tatort waren Gedenkorte bzw. Erinnerungs-
zeichen wie Stolpersteine sowie öffentliche Verkehrsmittel mit jeweils 9
.
Antisemitische Vorfälle ereigneten sich auch im direkten Wohnumfeld von Betrof-
fenen. Neben Schmierereien in Wohnhäusern und an Briefkästen waren Betroffene
auch mit antisemitischen Anfeindungen durch Nachbar_innen konfrontiert. Dar-
unter sind auch drei Bedrohungen, die sich im Wohnumfeld von Betroffenen ereig-
neten. Von den Vorfällen an Bildungseinrichtungen ereigneten sich acht in
unmittelbarer Umgebung von Kindergärten. Darunter war ein Brandanschlag auf ein
Gelände, welches zeitweise auch von einer jüdischen Kindergaartengruppe genutzt
wird. 21 Vorfälle richteten sich gegen jüdische Einrichtungen wie Synagogen oder
Gemeindehäuser, aber auch gegen ein jüdisches Restaurant. Von den Vorfällen, die
sich gegen jüdische Einrichtungen richteten, ereigneten sich allein neun Vorfälle
2018 in Chemnitz.
91
Abbildung 10
Antisemitische Vorfälle nach konkreten Tatorten 2014–2019 (in Prozent)
5.8
Exkurs 2:
Erfahrungen eines jüdischen Gewerbetreibenden
An dieser Stelle werden kurz die Erfahrungen eines jüdischen Gewerbetreibenden in
einer sächsischen Großstadt dargestellt. Der Betroffene betreibt ein jüdisches
Restaurant in Chemnitz und hat die zahlreichen antisemitischen Vorfälle, die er in
den vergangenen Jahren erleben musste, ab einem gewissen Zeitpunkt weder der
Polizei noch zivilgesellschaftlichen Stellen zur Kenntnis gegeben. Sie konnten daher
nicht in die in der Problembeschreibung dargestellten zivilgesellschaftlichen Vorfälle
und die vergleichende Auswertung inkludiert werden. Die persönliche Dokumenta-
92
Arbeitsplatz
Synagoge
öffentliche Grünanlagen
Friedhof
Privatgelände
Geschäftsstelle
Stadion
Gaststätten
Gewerbe
öffentliche Gebäude
Wohnumfeld
Bildungseinrichtungen
Internet
ÖPNV
Gedenkorte
Straße
1%
1%
1%
1%
1%
1%
2%
3%
3%
4%
4%
6%
8%
9%
9%
46%
tion des Betroffenen liegt dem Bundesverband RIAS jedoch vor, auf sie stützen sich
folgende Ausführungen. Die Geschehnisse zeigen exemplarisch, inwiefern die poli-
zeiliche, an Straftatbeständen orientierte Erfassung antisemitischer Vorfälle der Per-
spektive von Betroffenen oft nicht gerecht wird und aufgrund schlechter
Erfahrungen bei der Anzeigenstellung ein hohes Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle
entsteht (Vgl. Abschnitt 4.2).
Im Untersuchungszeitraum 2014 bis 2019 erhielt das jüdische Restaurant laut der
Dokumentation des Betroffenen 325 antisemitische Briefe und E-Mails sowie 1.086
antisemitische Anrufe. Aus den gezielten Sachbeschädigungen entstand für den
Gewerbetreibenden in dem genannten Zeitraum ein geschätzter wirtschaftlicher
Schaden in Höhe von mehr als 2.700 €. Allerdings hatte sich der Betroffene,
nachdem es jahrelang zu Beschädigungen im Außenbereich des Restaurants, bei-
spielsweise an Schildern, Fensterscheiben und einem Transporter gekommen war, zu
einem weitgehenden Abbau der Außenanlagen entschieden. Insgesamt dokumen-
tierte der betroffene Gewerbetreibende seit dem Jahr 2000 einen Schaden in Höhe
von mehr als 40.000 € aufgrund der gezielten Sachbeschädigungen und registrierte
über 3.300 antisemitische Anrufe. Neben den gezielten Sachbeschädigungen und
Anrufen erlebte der Gewerbetreibende aber auch andere Vorfälle verletzenden Ver-
haltens wie Sieg-Heil-Rufe, das Zeigen von Hitlergrüßen und Beschimpfungen vor
dem Restaurant. In den Jahren kam es auch zu Angriffen auf den jüdischen Gewer-
betreibenden selbst. So wurde er allein dreimal in der Stadt angespuckt und am
27. August 2018 von einer größeren Personengruppe mit einer Reihe von Gegen-
ständen angegriffen (siehe weiter unten).
Die Erfahrungen des jüdischen Gewerbetreibenden und seiner Mitarbeiter_innen in
Chemnitz zeigen nicht nur deutlich das Ausmaß und die Qualität von Antisemi-
tismus als alltagsprägendes Phänomen, sondern sind auch exemplarisch für das oft
beschriebene fehlende Vertrauen in die Arbeit der polizeilichen Behörden und den
Konsequenzen, die Betroffen daraus unter Umständen ziehen. Dass in den Jahren
2000 bis 2012 kein zur Anzeige gebrachter Vorfall aufgeklärt wurde und sich der
Gewerbetreibende von den zuständigen Beamten nicht ernstgenommen fühlte,
führte schließlich dazu, dass zwischen 2012 und 2018 vom Restaurant ausgehend
keine Anzeigen mehr gestellt wurden. Der Gewerbetreibende teilte dies dem verant-
wortlichen Kommissariat in einem Schreiben mit, auf das er keine Antwort erhielt.
Das Verhältnis zur Polizei verbesserte sich aus Sicht des Betroffenen erst im Jahr
93
2018 als ein Angriff auf ihn und das Restaurant im Zuge der extrem rechten Aus-
schreitungen des Sommers in die breite Öffentlichkeit gelangte:
Am Abend des 27. Augusts 2018 hatte der Gewerbetreibende eine Gruppe von bis
zu elf zum Teil vermummten Personen vor dem Restaurant bemerkt. Kurz darauf
wurde aus dieser ein Pflasterstein in Richtung des Restaurants geworfen, der den
Gewerbetreibenden an der Schulter traf und verletzte. Begleitet von antisemitischen
Beschimpfungen wie „Judensau“ folgten dem ersten Angriff Stein-, Flaschen- und
Eisenstangenwürfe. Nachdem die Polizei nach der Tat schnell vor Ort war, warteten
der Gewerbetreibende und seine Mitarbeiter_innen am nächsten Tag vergeblich auf
das Eintreffen von Beamt_innen zur Spurensicherung und weiteren Ermittlung. Mit
einer erheblichen zeitlichen Verzögerung kamen diese jedoch erst zehn Tage, als
bereits alles gereinigt war und das Restaurant wieder geöffnet hatte.
80
In dem Ende 2020 aufgrund neuer Beweise wiederaufgenommenen Verfahren
gegen einen Tatverdächtigen findet die antisemitische Beleidigung, keine Berück-
sichtigung, da die Rufe laut Medieninformation der Generalstaatsanwaltschaft
Dresden nicht zweifelsfrei einer Person zugeordnet werden konnten.
81
Derartige
Ermittlungspannen können bei Betroffenen antisemitischer Vorfälle zu einem Rück-
gang der Anzeigebereitschaft führen. Im Falle des hier beschriebenen Gewerbetrei-
benden wurde zumindest nach dem schweren Angriff die Präsenz der
Sicherheitsbehörden erhöht und so das Vertrauen des Betroffenen ein Stück weit
zurückgewonnen.
80 Claus Christian Malzahn: Attacke von Neonazis auf jüdisches Restaurant in Chemnitz (7. 9. 2018):
abgerufen am 18. 1. 2021; Ronen Steinke: Terror gegen
Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage, Berlin 2020, S. 102.
81 Medieninformation der Generalstaatsanwaltschaft Dresden: Angriff auf den Wirt eines jüdischen
Restaurants in Chemnitz Ende August 2018 – Generalstaatsanwaltschaft Dresden erhebt Anklage
gegen einen Tatverdächtigten.
Vgl. „Zweieinhalt Jahre später: Anklage auf jüdischen Wirt in Chemnitz“,
abgerufen am 19. 1. 2020.
94
5.9
Zusammenfassung: Vergleichende Analyse der polizeilichen
und zivilgesellschaftlichen Statistiken in Sachsen
In den zurückliegenden Abschnitten wurde eine vergleichende Analyse der polizeili-
chen und zivilgesellschaftlichen Statistiken zu antisemitischen Vorfällen und Straf-
taten in Sachsen vorgenommen. Auch wenn zivilgesellschaftliche Erkenntnisse nicht
flächendeckend vorliegen, sondern regional sehr unterschiedlich sind, ist deren Ver-
gleich mit polizeilichen Statistiken dennoch aufschlussreich.
So erfassten zivilgesellschaftliche Initiativen im Untersuchungszeitraum 2014–2019
insgesamt 278 antisemitische Vorfälle, von denen 50 auch in der PMK-Statistik auf-
geführt werden. Ein Vorfall findet sich ausschließlich in zivilgesellschaftlich erfassten
Daten, obwohl die Polizei während des Vorfalls anwesend war. Fast ein Drittel (32
bzw. 228 Fälle) der von RIAS für die vorliegende Analyse herangezogenen 712 anti-
semitische Vorfälle waren somit nur zivilgesellschaftlichen Stellen bekannt, 68 %
(484 Fälle) nur den Polizeibehörden. (Vgl. Abschnitt 5.1) Auffallend ist, dass sich der
größte Teil der nur von zivilgesellschaftlichen Initiativen erfassten Vorfällen in Metro-
polregionen ereigneten. (Vgl. Abschnitt 5.2) Auch wenn mit 81
der deutlich
größte Teil aller von RIAS ausgewerteten Fällen der Kategorie „verletzendes Ver-
halten“ (zur Definition vgl. Abschnitt 1.2) zugeordnet wurden, gab es doch auch in
den Vorfalltypen „Angriff“ und „Bedrohung“ antisemitische Vorfälle, die in der PMK-
Statistik nicht erfasst wurden. Dazu zählt beispielsweise ein Fall, in dem ein Mann
auf einen Gedenkort für Opfer des Nationalsozialismus urinierte. Darauf angespro-
chen, beleidigte er eine Frau misogyn, bedrohte hinzukommende Personen mit
einem Messer, rief rassistische und antisemitische Parolen und warf eine Flasche in
Richtung der Gruppe (Vgl. Abschnitt 5.3). Besonders deutlich wird die Diskrepanz
zwischen zivilgesellschaftlichen und polizeilichen Statistiken jedoch bei der Betrach-
tung von antisemitischen Vorfällen auf Versammlungen. Hier nimmt Dresden einen
besonderen Stellenwert ein (Vgl. Abschnitt 5.4).
Die Auswertung aller antisemitischen Vorfälle und Straftaten zeigt zudem, dass in
Sachsen Stereotype des Post-Schoa Antisemitismus besonders häufig im Rahmen
von antisemitischen Vorfällen verwendet werden, dicht gefolgt vom antisemitischen
Othering. Israelbezogener, Moderner und antijudaistischer Antisemitismus spielen
hingegen nur eine untergeordnete Rolle (Vgl. Abschnitt 5.5). Insgesamt ist in
Sachsen ein Anstieg erfasster antisemitischer Vorfälle seit 2017 zu erkennen – dies
95
ergibt sich sowohl aus den Daten der PMK-Statistik als auch aus der zivilgesell-
schaftlichen Erfassung. In den ausgewerteten Jahren 2014–2019 wurden im Schnitt
fast zehn antisemitische Vorfälle in Sachsen pro Monat erfasst (Vgl. Abschnitt 5.6).
In einem zweiten Exkurs werden die massiven antisemitischen Vorfälle, die sich
gegen ein jüdisches Restaurant in Chemnitz richteten, aus Perspektive des Betrof-
fenen Gewerbetreibenden dargestellt. Es wird deutlich, dass das Vertrauen zu Polizei
und Sicherheitsbehörden durch Betroffene schnell beschädigt wird – dass dieser
Prozess aber auch teilweise umkehrbar ist, wenn antisemitische Vorfälle und Straf-
taten ernstgenommen werden. (Vgl. Abschnitt 5.8)
Die vergleichende Analyse zivilgesellschaftlicher und polizeilicher Statistiken hat
gezeigt, dass erstere grundsätzlich ein bedeutsames Korrektiv für staatliche Perspek-
tiven auf Antisemitismus sind – dies gilt selbst für strafrechtlich relevante Vorfälle.
Die Analyse zeigt aber auch, dass bislang zivilgesellschaftliche Erfassung antisemiti-
scher Vorfälle nur regional eingeschränkt möglich ist – eine landesweite Meldestelle
für antisemitische Vorfälle könnte dem Abhilfe verschaffen.
96
6.
Anforderungen an eine zukünftige
Meldestelle
Dieser Abschnitt skizziert das idealtypische Modell einer zivilgesellschaftlichen Mel-
destelle für antisemitische Vorfälle und deren zentrale Arbeitsbereiche. Dieses
Modell ist angelehnt an die Erfahrungen mit bereits etablierten Meldestellen und
trägt den spezifischen Anforderungen eines Flächenlandes Rechnung. Das Modell
diente bereits als Orientierung beim Aufbau entsprechender Meldestellen in Bayern,
Brandenburg und Schleswig-Holstein.
Eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle soll vor allem dazu
beitragen, verschiedene Formen von Antisemitismus sichtbarer zu machen – unab-
hängig von der Strafbarkeit einzelner Vorfälle. Ein niedrigschwelliges Angebot zur
Kontaktaufnahme soll mehr Menschen dazu bewegen, antisemitische Vorfälle zu
melden. Dies gilt für Personen, die selbst oder deren Freund_innen, Verwandte oder
Bekannte von antisemitischen Vorfällen betroffen sind, aber auch für Zeug_innen
solcher Vorfälle. Grundsätzlich sollen Betroffene Solidarität, Beistand und professio-
nelle Unterstützung erhalten. Auch eine Veröffentlichung konkreter Vorfälle kann im
Idealfall zu einer stärkeren gesellschaftlichen Solidarisierung mit Betroffenen von
Antisemitismus beitragen. Eine wesentliche Voraussetzung, damit eine solche Mel-
destelle tatsächlich in Anspruch genommen wird, ist der Aufbau von Vertrauen und
eine gute Vernetzung in die jüdischen Communities. Für eine erfolgreiche Vernet-
zung muss eine Meldestelle so in der Zivilgesellschaft verankert sein, dass sie mit
möglichst vielen jüdischen Akteur_innen eng kooperieren kann.
97
6.1
Internetbasiertes Meldeverfahren
Der wichtigste Arbeitsbereich einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle für antisemiti-
sche Vorfälle ist die akkurate Erfassung und Dokumentation eingehender Mel-
dungen. Ein internetbasiertes Meldeverfahren ist dabei das wichtigste Instrument.
Erstens wegen der einfachen, zeitlich und räumlich unbeschränkten Erreichbarkeit,
zweitens wegen des geringen zeitlichen Aufwands für die Meldenden und drittens
wegen der Möglichkeit, den Grad der Anonymität bei einer Meldung selber zu
bestimmen.
Das Meldeportal
trägt seine Funktion bereits im
Namen. Das Meldeformular ist mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Russisch) und so
niedrigschwellig wie möglich gehalten: lediglich eine Beschreibung des Vorfalls, Ort
und ggf. Orts- bzw. Stadtteil, Datum und Uhrzeit sowie eine E-Mail-Adresse für
Rückfragen müssen verpflichtend ausgefüllt werden. Die Website, die dazugehörige
Datenbank sowie die Server entsprechen hohen technischen Standards, vor allem in
puncto Datensicherheit. Das Meldeportal
ist bundes-
weit das bekannteste seiner Art. Es wird mittlerweile auch auf regionaler Ebene von
Träger_innen aus Bayern, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein
und Thüringen als Meldeplattform genutzt. In Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt
und dem Saarland ist eine regionale Nutzung in weit fortgeschrittener Planung.
Neben dem Online-Meldeportal sollte eine zivilgesellschaftliche Meldestelle weitere
Möglichkeiten für Vorfallmeldungen ermöglichen, etwa per E-Mail, Brief oder
Telefon. Insbesondere eine zuverlässige Erreichbarkeit per Telefon ist von hoher
Bedeutung. Für Menschen ohne Internetzugang ist dies die wichtigste Meldemög-
lichkeit.
6.2
Annahme von Meldungen
Sobald ein Vorfall aus einem bestimmten Bundesland gemeldet wird, erhält das
regional zuständige Projekt die entsprechenden Daten und kann die meldende
Person kontaktieren. Dies sollte möglichst rasch erfolgen. Die BAG – eine regelmä-
98
ßige Zusammenkunft regionaler Meldestellen, die nach RIAS-Standards arbeiten
oder dies in naher Zukunft beabsichtigen zu tun – hat sich darauf verständigt, dass
bei Gewaltvorfällen spätestens am nächsten Arbeitstag und bei sonstigen Vorfällen
spätestens nach 72 Stunden Kontakt zur meldenden Person aufgenommen werden
muss. Die Erstreaktion auf eine Meldung sollte in der Regel den Vorfall zusammen-
fassen, dessen antisemitischen Gehalt bestätigen und Parteilichkeit sowie Empathie
ausdrücken.
6.3
Verifizierung der Meldungen
Jede Meldung muss durch ein festgelegtes Verfahren verifiziert werden. Dazu zählen
u. a. die Erhebung zusätzlicher Daten zum Vorfall, Nachfragen zu Tatzeit und Tatort
sowie zum Verhalten von Betroffenen, Umstehenden, direkt Beteiligten sowie ggf.
der Polizei. Diese Verifikation erfordert ein hohes Maß an Sensibilität für die Bedürf-
nisse der betroffenen Person(en) und eine vertrauliche Handhabung sämtlicher
Informationen. Im Sinne eines betroffenenzentrierten und parteilichen Ansatzes
82
dürfen Aussagen von Betroffenen – anders als bei der Polizei – nicht infrage gestellt
werden. Das beschriebene Verifikationsverfahren dient dazu, die Schilderung der
meldenden Person zu plausibilisieren.
6.4
Unterstützung für die Betroffenen
Werden Angriffe, Bedrohungen oder Fälle verletzendes Verhalten wie z.B.
Beschimpfungen gemeldet, so sollte den Betroffenen so schnell wie angeboten
werden, Kontakt zu professionellen Beratungsstellen oder anderen Unterstützungs-
bzw. Gesprächsangeboten herzustellen. Die Meldestelle muss daher in der Lage
sein, Meldende und Betroffene solcher Vorfälle an Kooperationspartner_innen im
Bereich der Opfer-, Antidiskriminierungs- oder Prozessberatung zu vermitteln und
82 Vgl.: Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
e.V. (Hrsg.): Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland
– Qualitätsstandards für eine professionelle Unterstützung. Berlin 2015.
99
sie zur Nutzung solcher Angebote zu ermuntern. Eine Weiterleitung der in der Mel-
dung enthaltenen Angaben an geeignete Partner_innen erspart der meldenden
Person Aufwand, darf jedoch nur nach deren Zustimmung geschehen. Deshalb
empfiehlt sich eine entsprechende Nachfrage bereits bei der ersten Beantwortung
einer Meldung.
Eine solche Weiterleitung erfordert die genaue Kenntnis lokaler Unterstützungsan-
gebote wie Mobile Beratung, Opferberatung oder Antidiskriminierungsberatung.
Dabei sind unterschiedliche Kompetenzen, Profile sowie langjährig bewährte
Absprachen zwischen den professionalisierten Beratungs- und Unterstützungsan-
geboten dringend zu berücksichtigen. Die Zusammenarbeit mit den Beratungs-
stellen sollte in einer Vereinbarung mit den entsprechenden Träger_innen
festgehalten werden. Im Freistaat Sachsen gilt dies beispielsweise für den anonymi-
sierten Abgleich von Vorfallzahlen für die gegenseitige Berücksichtigung in den
jeweiligen Jahresauswertungen.
Außerdem wäre wünschenswert, dass die Meldestelle in der Lage ist, Betroffene bei
polizeilichen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Vorfall zu unterstützen.
Hierfür ist ein Austausch mit dem zuständigen LKA sowie und den jeweils zustän-
digen Ansprechpersonen in den Polizeidirektionen erforderlich. Denkbar wären
etwa Absprachen, die es der Meldestelle erlauben, bei Strafanzeigen ihre Adresse
als ladungsfähige Postanschrift anzugeben – anstelle der Privatadresse der
Anzeigenstellenden. Weitere Absprachen könnten etwa einen regelmäßigen
Abgleich mit den anonymisierten, polizeilich erfassten Daten betreffen.
6.5
Erfassung in der bundesweiten
Datenbank
Die akkurate Erfassung jedes einzelnen antisemitischen Vorfalls in einer Datenbank
ist der wichtigste Bestandteil einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle für antisemiti-
scher Vorfälle. Die hierfür notwendigen technischen Mittel stellt der Bundesverband
RIAS bereit. Die Kategoriensysteme, Codebücher und Codierleitfäden für die einheit-
liche Klassifikation von Vorfällen stellt das Projekt RIAS – BK bereit. Um in die BAG
sowie in die Meldetechnologie des Bundesverbands RIAS aufgenommen zu werden,
100
müssen Mitarbeitende einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle verpflichtende Quali-
fizierungsmodule durchlaufen.
Die Kategorisierung eingehender Meldungen orientiert sich an einem vom Projekt
RIAS – BK entwickelten Kategoriensystem. Sie basiert auf der international aner-
kannten Arbeitsdefinition Antisemitismus (siehe Abschnitt 1.2) sowie der Arbeitsde-
finition zur Leugnung und Verharmlosung des Holocaust.
83
Die Kategorisierung hat
sich in der mehrjährigen Arbeit bewährt und wird gemeinsam mit der wissenschaft-
lichen Beratung durch MMZ und IIBSA kontinuierlich überprüft und weiterentwi-
ckelt. Mithilfe dieser einheitlichen Kategorisierung können die gesammelten
Informationen nach sozialwissenschaftlichen Standards analysiert und ausgewertet
werden. Ein solches einheitliches Vorgehen bei der Kategorisierung ist auch die Vor-
aussetzung, um Zahlen antisemitischer Vorfälle aus unterschiedliche Regionen und
Zeiträumen miteinander vergleichen zu können. Die Kategorien in der Datenbank
umfassen u. a. den politischen Hintergrund der Tat, mögliche Straftatbestände, Ort
und spezifischen Tatort (ÖPNV, Bildungseinrichtung, Gedenkstätte etc.) sowie Infor-
mationen über Betroffene und Täter_innen. Die so kategorisierten Daten ermögli-
chen auch komplexere Suchfunktionen in der Datenbank und damit die Ausgabe
von präzisen Angaben über antisemitische Vorfälle und deren Entwicklung im
Zeitverlauf.
6.6
Aufbau und Betreuung des
Meldenetzwerks
Der Aufbau eines Netzwerks mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen und
Multiplikator_innen ist wesentlich für den Erfolg einer Meldestelle. Dieses Netzwerk
leitet Vorfälle an die Meldestelle weiter und ermutigt Betroffenen dazu, Vorfälle
überhaupt zu melden. Voraussetzung dafür ist ein fortwährender Prozess der Ver-
trauensbildung. Dieser erfordert eine genaue Kenntnis der jüdischen Communities,
aber auch der relevanten nicht-jüdischen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen vor
83 Vgl.:
abgerufen am 8. 3. 2020.
101
Ort und ist dementsprechend zeitintensiv.
84
Die Meldestelle muss in der Lage sein, jüdische Multiplikator_innen und Initiativen
wie jüdische Gemeinden, Schulen, Vereine, Betriebe und Einzelpersonen aktiv anzu-
sprechen, damit diese das Meldeangebot bekannt machen. Darüber hinaus sollte
ein regelmäßiger Austausch im Rahmen eines Meldenetzwerks institutionalisiert
werden.
Durch Vorträge und Gesprächskreise sollte das Meldeangebot regelmäßig einem
breiteren Kreis vorgestellt werden. Um Zugang zu jüdischen Communities zu
erhalten und dauerhafte vertrauensvolle Beziehungen herzustellen, braucht es
mehrsprachige Angebote. Dazu gehören etwa Vorträge auf Deutsch, Englisch oder
Russisch.
85
Außerdem ist es erforderlich, die in verschiedenen Communities
geführten Debatten über Antisemitismus zu verfolgen. Neben den jüdischen Organi-
sationen müssen auch nicht-jüdische zivilgesellschaftliche Organisationen in das
Meldenetzwerk integriert werden, etwa Gedenkinitiativen, Träger_innen von Bil-
dungsprojekten, Anlaufstellen für Diskriminierung oder Ortsverbände politischer Par-
teien.
Die wirkungsvolle und adäquate Betreuung des Meldenetzwerks verlangt eine regel-
mäßige Präsenz vor Ort. In einem Flächenland wie Sachsen mit mehreren urbanen
Zentren erfordert das eine hohe Mobilität der Mitarbeitenden einer zivilgesellschaft-
lichen Meldestelle.
6.7
Monitoring
Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld einer Meldestelle ist die Dokumentation und
Analyse antisemitischer Vorfälle bei öffentlichen Versammlungen sowie im Internet.
Im Austausch mit bestehenden zivilgesellschaftlichen Recherche- und Beratungspro-
jekten sollte eine regelmäßige Beobachtung rechtsextremer, israelfeindlicher und
84 Nach Erfahrungen des CST dauert der Prozess des Vertrauensaufbaus mindestens fünf Jahre. Bei
kontinuierlicher Arbeit einer Meldestelle und bei für die Betroffenen sichtbaren Erfolgen könne
davon ausgegangen werden, dass mehr als 50
aller tatsächlichen Vorfälle auch gemeldet werden.
85 Erfahrungsgemäß sprechen die meisten in Deutschland wohnenden Jüdinnen_Juden eine dieser drei
Sprachen. Deshalb gehört ein Angebot auf Hebräisch nicht zu den notwendigen Anforderungen.
102
islamistischer Versammlungen gewährleistet werden. Die Meldestelle sollte über
aktuelle Informationen zu derartigen Veranstaltungen verfügen und diese allein
oder in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumen-
tieren können. Die Dokumentation antisemitischer Vorfälle sollte auch Bildauf-
nahmen von zur Schau gestellten Symbole und Transparente sowie Tonaufnahmen
von auf Versammlungen verbreiteten Aussagen umfassen.
Das Monitoring von Versammlungen sollte ergänzt werden durch ein kontinuierli-
ches Online-Monitoring von rechtsextremen, israelfeindlichen, islamistischen und
verschwörungsmythischen Webseiten und Social-Media-Profilen sowie durch wei-
terführende Recherchen in diesem Bereich. Die Auswertung des Monitorings bzw.
die daraus erstellten Dokumentationen sollten akkurat, wortgetreu und nach-
weisbar sein. Zudem müssen Persönlichkeitsrechte sowie Anforderungen des Daten-
schutzes eingehalten werden.
6.8
Öffentlichkeitsarbeit
Hauptziel einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle für antisemitische Vorfälle ist es,
das Antisemitismus in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen – und zwar aus Per-
spektive der davon Betroffenen. Diese Parteilichkeit mit den Betroffenen sollte auch
nach außen deutlich werden. Die Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie eine Soli-
darisierung der Gesellschaft mit von Antisemitismus Betroffenen sollten kontinuier-
lich befördert werden. Die Meldestelle sollte daher in regelmäßigen Abständen
Meldungen über antisemitische Vorfälle veröffentlichen. Voraussetzung dafür ist,
dass die Person, die einen Vorfall gemeldet hat, ihr Einverständnis dazu gegeben
hat und ausgeschlossen werden kann, dass die Veröffentlichung negative Konse-
quenzen für direkt und indirekt Betroffene haben kann. Ziel dieser Veröffentli-
chungen ist es, anhand konkreter Vorfälle unterschiedliche Erscheinungs- und
Ausdrucksformen von aktuellem Antisemitismus nachvollziehbar zu machen – und
zwar möglichst ohne eigene Interpretationen der Meldestelle.
Für die Veröffentlichungen sollte die Meldestelle projekteigene Social-Media-Kanäle
(u. a. Facebook und Twitter). Darüber hinaus fungiert die Meldestelle als Auskunfts-
stelle für Anfragen von Medien und Politik zu antisemitischen Vorfällen, zu Wahr-
103
nehmungen von Antisemitismus durch Betroffene sowie zu mittel- und langfristigen
Tendenzen im Bereich Antisemitismus. Damit Erkenntnisse einem größeren Publikum
zugänglich gemacht werden können, sollte ein Netzwerk mit Journalist_innen regio-
naler wie überregionaler Print-, Online- und Rundfunkmedien aufgebaut und
gepflegt werden. Dieses sollte dann anlassbezogen mit Informationen über neueste
Entwicklungen und Einschätzungen versorgt werden.
6.9
Anforderungen an Träger_innen und
Mitarbeiter_innen
Die vielfältigen beschriebenen Anforderungen an eine zivilgesellschaftliche Melde-
stelle für antisemitische Vorfälle beinhalten auch spezifische Anforderungen an die
Träger_innen und Mitarbeiter_innen einer solchen Meldestelle. Im Folgenden
werden diese formuliert, zunächst die institutionellen Anforderungen (Abschnitt
6.9.1.), dann die Anforderung an die fachlichen Kompetenzen der
Mitarbeiter_innen (Abschnitt 6.9.2.) und schließlich die sonstigen erforderlichen
Eigenschaften und Kenntnisse der Mitarbeiter_innen (Abschnitt 6.9.3.).
6.9.1
Institutionelle Anforderungen
Die Erfahrungen der Meldestellen aus Berlin, Bayern, Brandenburg und Schleswig-
Holstein zeigen, dass eine zivilgesellschaftliche Meldestelle sehr viel parteilicher im
Sinne der Betroffenen auftreten kann, als das einer staatlichen Stelle möglich wäre.
Auch beim Aufbau eines Meldenetzwerks in Communities von Betroffenen kann sie
ungebundener agieren. Eine zivilgesellschaftliche Meldestelle kann zudem Vorfälle
registrieren, die nicht strafrechtlich relevant sind oder bei denen die Betroffenen
keine Anzeige erstattet haben. Das unterscheidet eine zivilgesellschaftliche Melde-
stelle grundlegend von der Arbeit der Strafermittlungsbehörden.
Potenzielle Träger_innen einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle sollten zum einen
eine Scharnierfunktion zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Zivilgesellschaft ein-
nehmen. Zum anderen sollten sie eine vermittelnde Rolle zwischen Betroffenen und
104
staatlichen Stellen ausüben.
In Sachsen ist vor diesem Hintergrund bei der Frage der Träger_innenschaft eine
enge Einbindung des Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden dringend
geboten. Zu berücksichtigen sind auch die negativen Erfahrungen mit der Polizei,
von denen Betroffene berichtet haben, die nach antisemitischen Vorfällen Anzeige
erstattet haben. Die_der Träger_in sollte es ermöglichen, dass solche Erfahrungen
unabhängig von Einzelfällen zwischen Meldestelle und zuständigen Polizeibehörden
besprochen werden können. Ein solcher kritisch-konstruktiver Austausch mit den
Strafermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden kann dazu genutzt werden,
Behörden die Sichtweisen und Bedürfnisse von Betroffenen zu verdeutlichen.
Zudem können Vereinbarungen getroffen werden, die negativen Erfahrungen vor-
beugen und damit möglicherweise zu einer Verbesserung des Melde- und Anzei-
geverhaltens von Betroffenen führen können.
Die Meldestelle sollte den Anspruch haben, sämtliche Ausprägungen und Formen
von gegenwärtigem Antisemitismus zu thematisieren – unabhängig vom gesell-
schaftlichen und politischen Milieu der Täter_innen. Aus diesem Anspruch ergibt
sich die Anforderung strikter parteipolitischer Neutralität und Unabhängigkeit. Dar-
über hinaus muss die Meldestelle mit ihrer Arbeit überparteilich anerkannt sein,
allein schon, um die Thematisierung von Antisemitismus vor einer eventuellen par-
teipolitischen Instrumentalisierung zu schützen.
Für die Zusammenarbeit mit jüdischen Communities ist es wichtig, dass die Melde-
stelle bei etwaigen Konflikten innerhalb dieser Communities keinerlei Position
bezieht. Sie darf auch nicht für Konfliktparteien instrumentalisierbar sein. Eine nicht-
jüdische, zivilgesellschaftliche Organisation wird von unterschiedlichen Fraktionen
am ehesten als unabhängig und nicht involviert in bestehende Konflikte wahrge-
nommen. Eine solche Träger_innenschaft steigert die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Meldestelle für alle jüdischen Communities ansprechbar bleibt. Gleichwohl sollte
die_der Träger_in in der Lage sein, kontinuierlich und öffentlich engen Kontakt zu
jüdischen Organisationen zu pflegen.
105
6.9.2
Anforderungen an die fachliche Kompetenz
der Mitarbeiter_innen
Empfehlenswert wäre, wenn die_der Träger_in einer zivilgesellschaftlichen Melde-
stelle bereits über praktische Erfahrungen in der professionellen Unterstützung von
Betroffenen, in der Beratungstätigkeit im Allgemeinen sowie in der Bekämpfung
von Antisemitismus im Besonderen verfügt. Idealerweise sollte sie__er für diese
Arbeit bereits bekannt sein. Dies ist etwa der Fall bei Träger_innen von Opferbera-
tungsstellen und Mobilen Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus. Erfahrungen
aus Berlin haben gezeigt, dass Beratungen zu antisemitischen Vorfällen bei der
Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin deutlich zugenommen haben,
seit RIAS Berlin bei demselben Träger (VDK) arbeitet. In Schleswig-Holstein ist die
Landesweite Informations- und Dokumentationsstelle Antisemitismus (LIDA) beim
Zentrum für Betroffene rechter Gewalt e. V. (zebra) angesiedelt. Auch hier ergänzen
sich die Expertisen aus unterschiedlichen Bereichen gegenseitig. Die Arbeit von LIDA
verstärkt die Wirkung der Beratungsangebote von Zebra in jüdischen Communities.
Aufgrund der langjährig erprobten Arbeitsweisen und der entwickelten Qualitäts-
standards der Mobilen Beratung oder der Opferberatung können Anfragen pro-
blemlos bearbeitet werden. Neben Unterstützungsangeboten für Betroffene haben
auch zivilgesellschaftliche Monitoring-Projekte, Initiativen aus dem Bereich der Bil-
dungsarbeit, zivilgesellschaftliche Bündnisse gegen Rechtsextremismus sowie
Gedenkinitiativen Berührungspunkte mit dem Thema Antisemitismus. Ihr meist
regionaler oder lokaler Wirkungskreis und ihre oftmals weniger ausgeprägte Arbeit
mit Betroffenen ist jedoch im Vergleich mit Träger_innen von Opferberatungsstellen
oder Mobilen Beratungsstellen ein Nachteil.
6.9.3
Sonstige Anforderungen an
die Mitarbeiter_innen
Mitarbeiter_innen einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle müssen neben Expertise
zum Thema Antisemitismus ein hohes Maß an Sensibilität im Umgang mit Betrof-
fenen aufweisen oder zumindest dazu bereit sein, sich diese anzueignen. In sprachli-
106
cher Hinsicht sollten Mitarbeiter_innen im Team sein, die mit Meldenden nicht nur
auf Deutsch, sondern auch auf Russisch und Englisch kommunizieren können.
Des Weiteren sollten Mitarbeiter_innen das klassische Anforderungsprofil der
Öffentlichkeitsarbeit bedienen können. Dazu gehört das Geben von Interviews, das
Erstellen von Veröffentlichungen sowie die Vermittlung von O-Tönen von
Expert_innen oder Betroffenen. Idealerweise sollten Mitarbeiter_innen dazu in der
Lage sein, in kurzer Zeit Einschätzungen zu unterschiedlichen Aspekten des Themas
Antisemitismus in Sachsen abzugeben. Als Expert_innen für landesweite Entwick-
lungen im Bereich Antisemitismus sollten sie schließlich auf entsprechende Anfrage
Vorträge über die erfassten Daten sowie die Arbeit der Meldestelle konzipieren und
halten können.
107
7.
Zusammenfassung und Fazit
Die vorliegende Problembeschreibung nähert sich dem Thema Antisemitismus in
Sachsen aus drei Perspektiven an: Erstens wird Antisemitismus aus Sicht der Betrof-
fenen beschrieben, zweitens aus der Sicht zivilgesellschaftlicher Akteur_innen und
drittens wird der Umgang staatlicher Stellen mit Antisemitismus beleuchtet – insbe-
sondere in den Jahren 2014 bis 2019. Der Bundesverband RIAS führte 2019 Inter-
views mit jüdischen Akteur_innen und vereinzelten Vertreter_innen der nicht-
jüdischen Zivilgesellschaft in Sachsen durch, um deren Wahrnehmungen von Anti-
semitismus in Sachsen, ihre Umgangsweisen mit dem Thema sowie ihre Bedarfe für
eine zukünftige Auseinandersetzung zu erfassen. Zudem wertete RIAS die PMK-Sta-
tistik antisemitischer Straftaten in Sachsen zwischen 2014 und 2019 aus. Schließlich
hat RIAS diese Zahlen mit den Daten zivilgesellschaftlicher Akteur_innen aus
Sachsen über antisemitische Vorfälle in Sachsen verglichen.
Die Befragung hat gezeigt, dass Antisemitismus den Alltag von Jüdinnen_Juden in
Sachsen prägt. Zwei Drittel der Befragten berichten von antisemitischen Vorfällen,
die sie selbst erleben mussten. Auch den anderen Interviewten waren derartige Vor-
fälle im Freistaat bekannt. Die geschilderten Vorfälle sind durchaus unterschiedlich:
In den Interviews wird von extremer Gewalt, antisemitischen Angriffen, Bedro-
hungen, gezielten Sachbeschädigungen, aber auch von verletzendem Verhalten und
antisemitischen Massenzuschriften berichtet. Die bei diesen Vorfällen zutage tre-
tenden antisemitischen Stereotype lassen sich sämtlichen der vom Bundesverband
RIAS erfassten Erscheinungsformen zuordnen: Dem modernen Antisemitismus, dem
antisemitischen Othering, dem israelbezogenen Antisemitismus, dem Antijudaismus
und nicht zuletzt dem Post-Schoa-Antisemitismus. Dabei ereignen sich diese Vorfälle
an sehr unterschiedlichen Orten: an Schulen, im ÖPNV, im Wohnumfeld oder am
Arbeitsplatz. Diese Auflistung zeigt, dass es kaum Orte gibt, an denen
108
Jüdinnen_Juden in Sachsen sich vor Antisemitismus in Sicherheit wähnen können.
Die antisemitischen Vorfälle ereignen sich zudem an Orten, an denen die Befragten
tagtäglich verkehren und die sie gar nicht vermeiden können.
Eingeordnet werden diese geschilderten Vorfälle in eine wahrgenommene
gesamtgesellschaftliche Atmosphäre, die die Befragten nicht zuletzt aufgrund der
deutschen Vergangenheit als besonders beschreiben: Der Umgang mit Antisemi-
tismus in Deutschland, so einige Interviewte, sei von der Verharmlosung – expliziter
wie latenter – antisemitischer Äußerungen geprägt. Dabei sind die weltanschauli-
chen und sozialen Milieus, von denen Antisemitismus in Sachsen ausgeht, durchaus
vielfältig. Die Befragten identifizieren beispielsweise rechtspopulistische und rechts-
extreme Akteur_innen (wie die AfD) als Träger_innen von Antisemitismus.
Bezüglich der individuellen und institutionellen Umgangsweisen mit Antisemitismus
sowie der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten zeigen die Interviews
große Unterschiede: Häufig erwähnen Interviewte, dass Jüdinnen_Juden ver-
suchten, in der Öffentlichkeit möglichst nicht als jüdisch erkennbar zu sein. Sie
berichten sogar von Menschen aus ihrem Umfeld, die wegen antisemitischer Erfah-
rungen ihren Wohnort wechseln. Einige Befragte nehmen jedoch eine eher konfron-
tative Haltung ein, etwa indem sie Verfasser_innen antisemitischer Zuschriften
demonstrativ zu einem Gespräch mit der jüdischen Gemeinde einladen. Viele
Befragte geben an, antisemitische Vorfälle in der Vergangenheit angezeigt zu haben
oder davon aus ihrem Umfeld zu wissen, doch werden auch deutliche Vorbehalte
gegenüber polizeilichen Anzeigen laut. Diese werden mit schlechten Erfahrungen
und einer geringen Erwartungshaltung begründet. Gerichtsverfahren wegen anti-
semitischer Vorfälle in Sachsen sind der Hälfte der Befragten unbekannt.
Die institutionellen Umgangsweisen mit antisemitischen Vorfällen, von denen die
Befragten aus ihren jeweiligen Institutionen oder Gemeinden berichten, sind selten
klar festgelegt. Geschildert werden in diesem Zusammenhang vor allem die Netz-
werkarbeit mit anderen jüdischen Akteur_innen, Sicherheitsmaßnahmen baulicher
Art sowie der direkte Austausch mit Sicherheitsbehörden. Einige Befragte betonen,
dass der Umgang mit Antisemitismus oder die (juristische) Unterstützung von
Betroffenen vielfach nicht der Kern der Tätigkeit jüdischer Institutionen sei. Beson-
ders eindrücklich ist vor diesem Hintergrund, dass die meisten Befragten diesbezüg-
liche Unterstützungsangebote nichtstaatlicher Träger_innen nicht kennen. Selbst die
Befragten, die diese Angebote kennen, geben an, sie nicht zu nutzen. Vorausset-
109
zung dafür wäre nach Aussage der Interviewten ein bestehendes Vertrauensver-
hältnis.
Zur Analyse der polizeilichen Statistiken bekam der Bundesverband RIAS vom Säch-
sischen Staatsministerium des Inneren Datensätze für die Jahre 2014 bis 2019 über-
mittelt. Die Datensätze umfassten u. a. Informationen zu Delikten,
Phänomenbereichen, Tatverdächtigen sowie eine Kurzbeschreibung. RIAS konnte
die Daten für 692 antisemitische Straftaten in diesem Zeitraum auswerten. In gut
der Hälfte der Fälle lautete der Straftatbestand Volksverhetzung. Neun der Fälle
waren Gewaltdelikte. 94
der Straftaten wurden in der polizeilichen Statistik dem
Phänomenbereich „Rechts“ zugeordnet. 24 der 692 ausgewerteten antisemitischen
Straftaten wurden dem Themenfeld „Israel“ zugeordnet.
Eine vergleichende Analyse der polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Statistiken
von antisemitischen Vorfällen in Sachsen umfasst insgesamt 712 Fälle. Davon
stammen 484 Fälle (68 %) aus der PMK-Statistik, 228 Fälle (32
) wurde ausschließ-
lich zivilgesellschaftlichen Stellen bekannt. Die meisten Fälle ereigneten sich in
Leipzig und Dresden. Gerade im ländlichen Raum muss allerdings von einer erhebli-
chen Dunkelziffer ausgegangen werden. Bei den Erscheinungsformen von Antisemi-
tismus waren Post-Schoa-Antisemitismus und antisemitisches Othering mit Abstand
am häufigsten.
Der Vergleich der beiden Datenquellen zeigt: Insbesondere bei Versammlungen und
Demonstrationen kommt es in Sachsen immer wieder zu antisemitischen Äuße-
rungen, die von polizeilichen Stellen nicht berücksichtigt werden. Ohne Pressebeob-
achtung und zivilgesellschaftliche Akteur_innen wären viele dieser Äußerungen
niemals bekannt geworden. Für eine umfangreiche Erfassung antisemitischer Vor-
fälle ist eine ergänzende zivilgesellschaftliche Dokumentation daher unerlässlich.
Aus den dargestellten Ergebnissen leitet der Bundesverband RIAS in der vorlie-
genden Problembeschreibung Anforderungen an eine zukünftige zivilgesellschaft-
liche Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Sachsen ab. Das skizzierte
idealtypische Modell greift auf Erfahrungen in anderen Bundesländern, insbeson-
dere in Flächenländern zurück. Zentral für eine solche Meldestelle ist die Einrichtung
eines internetbasierten Meldeverfahrens, neben weitere Meldemöglichkeiten per E-
Mail, Brief oder Telefon. Die Bearbeitung der Meldungen, zu der zwingend eine
betroffenenzentrierte Verifizierung der Vorfälle zählt, muss zeitnah erfolgen und ist
bei Bedarf der Betroffenen mit einer Verweisberatung verbunden. Die gemeldeten
110
Vorfälle müssen akkurat und nach einheitlichen sozialwissenschaftlichen Standards
erfasst werden. Ein wichtiges Kriterium für den Erfolg einer solchen Meldestelle ist
der parallele Aufbau und die Pflege eines Meldenetzwerks, das nicht zuletzt Ver-
trauen in jüdischen Communities schaffen soll. Zudem ist ein Monitoring antisemiti-
scher Vorfälle bei Versammlungen und im Internet sowie eine gezielte
Öffentlichkeitsarbeit notwendig.
Ein solches Melde- und Unterstützungsangebot kann nur in zivilgesellschaftlicher
Träger_innenschaft parteilich im Sinne der Betroffenen sein und zugleich unab-
hängig von den Strafverfolgungsbehörden agieren. Eine Meldestelle sollte sowohl
als Scharnier zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Zivilgesellschaft, als auch zwi-
schen Betroffenen und staatlichen Stellen fungieren. Zudem kann nur eine zivilge-
sellschaftliche Träger_innenschaft die parteipolitische Unabhängigkeit der
Meldestelle gewährleisten. Diese ist zwingend erforderlich, um zu verhindern, dass
die Thematisierung von Antisemitismus politisch instrumentalisiert wird. Die Melde-
stelle sollte auch bei Konflikten zwischen oder innerhalb jüdischer Communities
neutral sein, um für alle Betroffenen von Antisemitismus in Sachsen ansprechbar zu
bleiben.
111
8.
Abkürzungsverzeichnis
AAS
Amadeu Antonio Stiftung
BKA
Bundeskriminalamt
BMI
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
BMFSFJ
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
CST
Community Security Trust
FRA
European Union Agency for Fundamental Rights
IHRA
International Holocaust Remembrance Alliance
IIBSA
Internationales Institut für Bildung, Sozial- und
Antisemitismusforschung
IPK
Israel-Palästina-Konflikt (wird in der PMK-Statistik verwendet)
K. d. ö. R.
Körperschaft des öffentlichen Rechts
KOMPAS
Kompetenznetzwerk Antisemitismus
KPMD
Kriminalpolizeilicher Meldedienst
LKA
Landeskriminalamt
MAXQDA
Software zur computergestützten qualitativen
Daten- und Textanalyse
MdB
Mitglied des Bundestags
MMZ
Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien
an der Universität Potsdam
MiStra
Anordnung über die Mitteilung von Strafsachen
ODIHR
Office for Democratic Institutions and Human Rights
ÖPNV
Öffentlicher Personennahverkehr
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
PMK-Statistik
Polizeiliche Statistik für politisch motivierte Kriminalität
RIAS Berlin
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin
RIAS – BK
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus –
bundesweite Koordination
RiStBV
Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
StGB
Strafgesetzbuch
UEA
Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus
des Deutschen Bundestages
VDK e.V.
Verein für Demokratische Kultur in Berlin – Initiative für
urbane Demokratieentwicklung e. V.
ZWST
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V.
112
Anhang 1:
Arbeitsdefinition Antisemitismus
Die Arbeitsdefinition Antisemitismus in der Fassung, die von der Bundesregierung
verabschiedet wurde, lautet:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass
gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat
gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie
gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus
kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel sol-
cher Angriffe sein.“
86
Die Arbeitsdefinition in ihrer ausführlichen Form
87
benennt darüber hinaus eine
Reihe unterschiedlicher Ausprägungen von Antisemitismus, die den Stand der For-
schung berücksichtigen:
„Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel,
der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an
Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch
betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden
betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür ver-
antwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert
sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheil-
volle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“
Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien,
86 Vgl.: Bundesregierung (Hrsg.): Regierungspressekonferenz vom 20. September 2017.
abgerufen am 28. 8. 2018.
87 Vgl.:
abgerufen am 16. 2. 2020.
113
Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichti-
gung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf
beschränkt zu sein:
–
den Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen
Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu
solchen Taten oder ihre Rechtfertigung
–
falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen
gegen Juden oder die Behauptung einer Macht der Juden als Kollektiv – insbeson-
dere, aber nicht ausschließlich Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder
über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftli-
cher Institutionen durch die Juden
–
das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes
Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-
Juden
–
das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskam-
mern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das
nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer sowie Komplizen wäh-
rend des Zweiten Weltkrieges (Holocaust)
–
der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust
zu erfinden oder übertrieben darzustellen
–
der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich
bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Inter-
essen ihrer jeweiligen Heimatländer
–
das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B.
durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unter-
fangen
–
die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert,
das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird
–
das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus
in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordle-
gende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben
114
–
Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten
–
das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.
Antisemitische Taten sind Straftaten
, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt
sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung
antisemitischer Materialien).
Straftaten
sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder
Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt
werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Juden in Verbin-
dung gebracht werden.
Antisemitische Diskriminierung
besteht darin, Jüdinnen_Juden Möglichkeiten
oder Leistungen vorzuenthalten, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine
solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.
115
Anhang 2:
Anforderungen für die Arbeit als Mitglied
in der Bundesarbeitsgemeinschaft
des
Bundesverbands der Recherche- und
Informationsstellen Antisemitismus e.V.
Im Rahmen der 2. Bundesarbeitsarbeitsgemeinschaft (BAG) des Bundesverbands
RIAS e.V. vom 28.–30. August 2019 wurde sich auf folgende verpflichtende und
anzustrebende Anforderungen für die Arbeit als zivilgesellschaftliche Anlaufstelle für
antisemitische Vorfälle und die Mitarbeit in der BAG geeinigt. Die Anforderungen
dienen als Orientierung für alte, neue und zukünftige Projekte dieser Art und
werden bei Treffen der BAG stets überprüft und weiterentwickelt.
1.
Die Definition eines antisemitischen Vorfalls als solchen erfolgt auf Grundlage
der vom Verein für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. und von der
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) ange-
passten Version der Arbeitsdefinition Antisemitismus bzw. der Arbeitsdefinition
der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Leugnung und
Verharmlosung der Schoa, sowie der Trias aus Dämonisierung, Delegitimierung
und Doppelten Standards bei israelbezogenem Antisemitismus.
2.
Die Kategorisierung der Vorfälle erfolgt auf Grundlage der im Rahmen des Pro-
jekts Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – Bundesweite Koor-
dination (RIAS – BK) entwickelten und durch die Emil-Julius-Gumbel
Forschungsstelle des Moses-Mendelssohn-Zentrums für Europäisch-Jüdische
Studien sowie das Internationale Institut für Bildung-, Sozial- und Antisemitis-
musforschung wissenschaftlich überprüften Kategorien.
116
3.
Im Zuge der Arbeit werden sämtliche Formen des Antisemitismus (Post Schoa-,
israelbezogener, moderner, antijudaistischer Antisemitismus, antisemitisches
Othering) dokumentiert, unabhängig vom politischen Hintergrund der
Täter_innen.
4.
Eine enge Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinschaften wird gesucht.
5.
Eine niedrigschwellige Ansprechbarkeit für alle jüdischen und nicht-jüdische
Betroffenen von Antisemitismus in Deutschland soll durch die Nutzung des zen-
tralen Meldeportals
erreicht werden.
6.
Die Dokumentation verifizierter Vorfälle erfolgt mithilfe einer durch den Bundes-
verband RIAS e.V. zur Verfügung gestellten Vorfalldatenbank im Rahmen eines
durch das Projekt RIAS – BK entwickelten Kategoriensystems. Dieses Kategori-
ensystem wird bei Bedarf im Austausch mit den BAG-Mitgliedern und der wis-
senschaftlichen Beratung weiterentwickelt.
7.
Bei Nutzung der Vorfalldatenbank des Bundesverbands RIAS e.V. gilt die Ver-
pflichtung, Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung und die vom Projekt
RIAS – BK entwickelten Leitlinien für Datensicherheit zu berücksichtigen.
8.
Eine Kontaktaufnahme nach Meldungen im geografischen Zuständigkeitsbe-
reich soll nach maximal 72 Stunden und bei Angriffen oder Androhungen von
Gewalt am darauffolgenden Arbeitstag gewährleistet werden.
9.
Eine Verweisberatung und ein Abgleich mit anderen zivilgesellschaftlichen
Dokumentations-Projekten sollen gewährleistet werden – hierfür werden
Absprachen mit den jeweils geeigneten Strukturen vor Ort getroffen.
10. Neutralität und Zurückhaltung bei gemeindeinternen Konflikten und solchen
zwischen Gemeinden sollen aufrechterhalten werden.
11. Die Projekte verpflichten sich, an qualifizierenden Fortbildungen der RIAS – BK
im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft teilzunehmen.
12. Eine Öffentlichkeitsarbeit zu den Ergebnissen der zivilgesellschaftlichen Erfas-
sung auf Grundlage des Pressekodex muss gewährleistet sein.